Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 V 189



119 V 189

27. Urteil vom 22. Februar 1993 i.S. R. gegen Ausgleichskasse des Kantons
Solothurn und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Regeste

    Art. 2 Abs. 1quater und Abs. 3 ELG. Die um die Grenzbeträge für
Waisen erweiterten Einkommensgrenzen sind für Bezüger von Taggeldern der
Invalidenversicherung nicht anwendbar (E. 1).

    Art. 24 ELV, Art. 25 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a ELV. Die
Ergänzungsleistung ist auch bei unterlassener oder verspäteter Meldung
der im Sinne von Art. 25 Abs. 1 lit. a ELV für den Anspruch erheblichen
Veränderung der Personengemeinschaft rückwirkend ab dem in Art. 25 Abs. 2
lit. a ELV umschriebenen Zeitpunkt nachzuzahlen (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Die 1959 geborene Marie R. ist sehbehindert. Sie absolviert
ein Studium, für dessen behinderungsbedingte Mehrkosten die
Invalidenversicherung aufgrund von Art. 16 IVG (erstmalige berufliche
Ausbildung) aufkommt. Die Versicherte ist Mutter zweier 1985 und 1991
geborener Kinder. Seit 20. April 1990 ist sie mit Markus S. verheiratet.

    Nachdem sie sich am 21. Dezember 1987 zum Ergänzungsleistungsbezug
angemeldet hatte, sprach ihr die Ausgleichskasse des Kantons
Solothurn mit Verfügung vom 5. Mai 1988 rückwirkend ab Dezember
1987 eine Ergänzungsleistung zu dem von ihr bezogenen Taggeld der
Invalidenversicherung zu, welche mehrmals den geänderten Verhältnissen
angepasst wurde. Gemäss unangefochten gebliebener Verfügung vom 16. Januar
1991 belief sich die Ergänzungsleistung ab Januar 1991 auf Fr. 1'323.--
im Monat.

    Im Rahmen einer periodischen Überprüfung des Anspruchs teilte die
Zweigstelle R. der Ausgleichskasse im September 1991 mit, Marie R. habe
sich am 20. April 1990 verheiratet. Die Meldung sei irrtümlich nicht
erfolgt. Mit Verfügung vom 22. November 1991 sprach die Ausgleichskasse
der Versicherten mit Wirkung ab September 1991 eine Ergänzungsleistung
in der Höhe von monatlich Fr. 1'631.-- zu.

    B.- Marie R. führte beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
Beschwerde mit dem Begehren um Aufhebung der Verfügung vom 22. November
1991 und neue Berechnung der Ergänzungsleistung rückwirkend ab 1. April
1990. Sie machte einerseits geltend, bereits ab April 1990 Anspruch auf
eine höhere Ergänzungsleistung zu haben, da sie die AHV-Zweigstelle
R. rechtzeitig über ihre Heirat orientiert habe. Anderseits habe
die Ausgleichskasse ihre familiäre Situation nicht zutreffend
berücksichtigt. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes (am 17. Juni 1991)
sei ab Juni 1991 die höhere Einkommensgrenze für ein Ehepaar mit zwei
Kindern massgebend. Das kantonale Versicherungsgericht wies die Beschwerde
mit Entscheid vom 24. Februar 1992 ab, wobei es davon ausging, dass die
Eheschliessung erst im September 1991 gemeldet worden sei.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert Marie R. den
vorinstanzlich gestellten Antrag.

    Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV)
schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig und zu prüfen ist zunächst, welche Einkommensgrenze für
die Berechnung der Ergänzungsleistung massgebend ist. Der Festsetzung
der Ergänzungsleistung in der angefochtenen Kassenverfügung vom 22.
November 1991 liegt die für Ehepaare massgebende Einkommensgrenze von Fr.
20'550.-- zugrunde. Demgegenüber beantragt die Beschwerdeführerin, die
Ergänzungsleistung sei unter Berücksichtigung der Einkommensgrenze für
ein Ehepaar mit zwei Kindern zu ermitteln.

    a) Gemäss Art. 2 Abs. 1 Satz 1 ELG haben in der Schweiz wohnhafte
Schweizer Bürger, denen eine Rente der AHV oder der Invalidenversicherung
zusteht, Anspruch auf Ergänzungsleistungen, soweit das anrechenbare
Jahreseinkommen einen bestimmten Grenzbetrag nicht erreicht. Nach Art. 2
Abs. 1quater ELG haben Versicherte, die ununterbrochen während mindestens
sechs Monaten ein Taggeld der Invalidenversicherung beziehen, ebenfalls
Anspruch auf Ergänzungsleistungen nach den Absätzen 1 bis 1ter. Zu den
Einkommensgrenzen für Alleinstehende und Ehepaare sind für Kinder, die
einen Anspruch auf Zusatzrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung
oder der Invalidenversicherung begründen, die für Waisen massgebenden
Einkommensgrenzen hinzuzuzählen (Art. 2 Abs. 3 Satz 1 ELG).

    b) Nach dem klaren Wortlaut der gesetzlichen Regelung, von welchem
bei der Auslegung praxisgemäss in erster Linie auszugehen ist (BGE
115 V 348 E. 1c mit Hinweisen), finden die um den Betrag für Waisen
erweiterten Einkommensgrenzen nur Anwendung, wenn die Kinder des
Ergänzungsleistungsbezügers einen Anspruch auf eine Zusatzrente der
AHV oder der Invalidenversicherung begründen. Dies trifft auf Kinder
von Rentenbezügern, nicht aber auf Kinder von Taggeldbezügern der
Invalidenversicherung zu (Art. 22ter AHVG; Art. 35 IVG).

    Aus den Materialien ergeben sich keine Anhaltspunkte für die
gegenteilige Lösung: Mit der zweiten Revision des IVG wurde Versicherten
in erstmaliger beruflicher Ausbildung in Art. 22 (in Kraft seit
1. Juli 1987) neu ein Anspruch auf Taggelder (anstelle einer Rente)
eingeräumt. Mit dem Dahinfallen des Rentenanspruchs hätte jedoch auch
kein Anspruch auf Ergänzungsleistungen mehr entstehen können. Das
BSV sah sich deshalb veranlasst, der mit der IVG-Revision befassten
ständerätlichen Kommission eine Revision des ELG zu beantragen, mit der
Versicherten, die ununterbrochen während mindestens sechs Monaten ein
Taggeld der Invalidenversicherung beziehen, ebenfalls ein Anspruch auf
Ergänzungsleistungen eingeräumt werden sollte. Dieser Vorschlag, welchen
das Bundesamt der vorberatenden Kommission des Ständerates am 8. November
1985 unterbreitete, gab, soweit vorliegend von Interesse, zu keinen
Diskussionen Anlass, wurde in der Folge von Ständerat und Nationalrat
unverändert in die Revisionsvorlage aufgenommen und wurde im Art. 2
Abs. 1quater ELG (in Kraft seit 1. Juli 1987) Gesetz (Amtl.Bull. 1985 S
758 f.; 1986 N 767).

    Die Tatsache, dass diese Bestimmung ausdrücklich nur auf die
Absätze 1 bis 1ter des Art. 2 ELG, nicht aber auf Abs. 3, verweist,
ist als qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers (vgl. BGE 114 V 302)
zu interpretieren. Denn wenn es seinem Willen entsprochen hätte, die
erweiterten Einkommensgrenzen gemäss Art. 2 Abs. 3 ELG auch für Bezüger
von Taggeldern der Invalidenversicherung als anwendbar zu erklären,
hätte er dies in Art. 2 Abs. 1quater erwähnt.

    c) Da die Beschwerdeführerin keine Invalidenrente, sondern ein Taggeld
der Invalidenversicherung bezieht, können die für Waisen massgebenden
Grenzbeträge nicht zu den für Ehepaare geltenden Einkommensgrenzen
hinzugezählt werden. Verwaltung und Vorinstanz haben daher bei der
Berechnung der Ergänzungsleistung zu Recht nur die für Ehepaare geltende
Einkommensgrenze als anwendbar erachtet. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
erweist sich in diesem Punkt als unbegründet.

Erwägung 2

    2.- Im weiteren ist streitig, ab welchem Zeitpunkt die Tatsache,
dass sich die Beschwerdeführerin am 20. April 1990 verheiratet hat,
bei der Berechnung der Ergänzungsleistung zu berücksichtigen ist und
demzufolge die für Verheiratete geltende Einkommensgrenze massgebend ist.

    a) Von jeder Änderung der persönlichen und von jeder ins
Gewicht fallenden Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse des
Anspruchsberechtigten hat dieser, sein gesetzlicher Vertreter
oder gegebenenfalls die Drittperson oder die Behörde, welcher eine
Ergänzungsleistung ausbezahlt wird, der kantonalen Durchführungsstelle
unverzüglich Mitteilung zu machen (Art. 24 Satz 1 ELV).

    Gemäss Art. 25 Abs. 1 lit. a ELV ist die Ergänzungsleistung
u.a. bei jeder Veränderung der der Berechnung der Ergänzungsleistung
zugrunde liegenden Personengemeinschaft zu erhöhen, herabzusetzen oder
aufzuheben. In diesem Fall ist die Ergänzungsleistung nach Art. 25
Abs. 2 lit. a ELV auf den Beginn des der Veränderung folgenden Monats
neu zu verfügen.

    b) Aus dieser Regelung folgt für den vorliegenden Fall,
dass die Ergänzungsleistung der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer
Heirat (am 20. April 1990) auf den 1. Mai 1990 hätte erhöht werden
müssen. Die Ausgleichskasse hat jedoch am 16. Januar 1991 über den
Ergänzungsleistungsanspruch ab 1. Januar 1991 neu verfügt, ohne dieser
Zivilstandsänderung, von der sie offensichtlich keine Kenntnis hatte,
Rechnung zu tragen. Diese Verfügung ist unangefochten in Rechtskraft
erwachsen. Daher kann im vorliegenden Verfahren die Berechnung der
Ergänzungsleistung, soweit sie die Periode Mai 1990 bis Januar 1991
betrifft, nicht mehr überprüft werden. Die Ausgleichskasse könnte darauf
lediglich im Rahmen einer Wiedererwägung, zu der sie praxisgemäss weder
vom Betroffenen noch vom Richter verhalten werden kann (BGE 117 V 12 E. 2a,
116 V 63), zurückkommen.

    Nachdem die Ausgleichskasse in der angefochtenen Verfügung vom
22. November 1991 die Ergänzungsleistung rückwirkend ab September 1991
neu berechnet hat, fragt es sich, ob die Beschwerdeführerin für den
Zeitraum von Februar bis August 1991 eine höhere Ergänzungsleistung unter
Berücksichtigung der für Ehepaare geltenden Einkommensgrenzen beanspruchen
kann. Ob die EL-Durchführungsstelle rechtzeitig über die Verheiratung
in Kenntnis gesetzt wurde, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
vorgebracht wird, oder ob die entsprechende Meldung erst im September
1991 erfolgte, wie die Vorinstanz angenommen hat, kann im Hinblick auf
die nachstehenden Erwägungen offengelassen werden.

    c) Die Nachzahlung von Leistungen ist nur für den Fall der erstmaligen
Geltendmachung des Ergänzungsleistungsanspruchs ausdrücklich geregelt:
Gemäss Art. 22 Abs. 1 ELV beginnt der Anspruch mit dem Monat der Anmeldung
für die Rente, frühestens jedoch mit der Rentenberechtigung, wenn die
Anmeldung für eine Ergänzungsleistung innert sechs Monaten seit der
Zustellung der Rentenverfügung eingereicht wird. Diese Bestimmung findet
auch Anwendung, wenn eine laufende Rente der AHV oder Invalidenversicherung
verfügungsweise herabgesetzt oder heraufgesetzt wird (Art. 22 Abs. 2 ELV;
BGE 118 V 223).

    Art. 25 ELV, der die Revision (Erhöhung, Herabsetzung oder Aufhebung)
der Ergänzungsleistung im Falle von Veränderungen in den persönlichen
oder wirtschaftlichen Verhältnissen der Ergänzungsleistungsbezüger
regelt, enthält keine Vorschrift über die Nachzahlung von Leistungen
bei unterlassener bzw. verspäteter Meldung der im Sinne von Art. 25
Abs. 1 lit. a ELV für den Anspruch erheblichen Veränderungen der
Personengemeinschaft. Für andere Revisionstatbestände wird die Nachzahlung
hingegen - zumindest indirekt - normiert. So ist bei der Verminderung
des anrechenbaren Einkommens (Art. 25 Abs. 2 lit. b in Verbindung mit
Abs. 1 lit. c ELV) und bei einer Änderung des anrechenbaren Einkommens,
die im Rahmen einer periodischen Überprüfung des Anspruchs festgestellt
wird (Art. 25 Abs. 2 lit. d in Verbindung mit Abs. 1 lit. d ELV),
auf den Zeitpunkt der Meldung abzustellen, wodurch weiter zurückgehende
Nachzahlungen ausgeschlossen werden.

    Aus dieser Ordnung ist zu schliessen, dass der Bundesrat die
Nachzahlung von Ergänzungsleistungen im Falle einer erst bei der
periodischen Überprüfung festgestellten oder verspätet gemeldeten
Veränderung der der Berechnung zugrunde liegenden Personengemeinschaft
als zulässig erachtete. Andernfalls hätte er in Art. 25 Abs. 2 lit. a ELV
nicht den Beginn des der Veränderung der Personengemeinschaft folgenden
Monats, sondern ebenfalls den Monat der Meldung dieses Tatbestandes als
massgebend erklärt.

    d) Im vorliegenden Fall steht deshalb einer Neuberechnung der
Ergänzungsleistung mit Wirkung ab 1. Februar 1991, dem Beginn des
Monats, der dem Erlass der in Rechtskraft erwachsenen Verfügung vom
16. Januar 1991 folgt, nichts entgegen. Aus Art. 24 ELV, der eine
unverzügliche Mitteilung von Änderungen der wirtschaftlichen und
persönlichen Verhältnisse vorschreibt, kann nicht abgeleitet werden,
dass bei verspäteter Meldung einer Veränderung der Personengemeinschaft
auf den Zeitpunkt der Meldung abgestellt werden muss, wie die Vorinstanz
offenbar annimmt. Eine Verletzung der Meldepflicht mit Bezug auf Umstände,
die sich zugunsten der Ergänzungsleistungsbezüger auswirken, wird in
dieser Bestimmung nicht sanktioniert.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 24. Februar
1992 und die angefochtene Kassenverfügung vom 22. November 1991, soweit den
Beginn des höheren Ergänzungsleistungsanspruchs betreffend, aufgehoben, und
die Sache wird an die Ausgleichskasse des Kantons Solothurn zurückgewiesen,
damit sie über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Ergänzungsleistung
ab 1. Februar 1991 bis 31. August 1991 neu verfüge.