Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IV 49



119 IV 49

9. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 29. Januar 1993 i.S. B.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 187 Abs. 2 aStGB und Art. 190 Abs. 3 StGB; qualifizierte
Vergewaltigung, Grausamkeit.

    Der qualifizierte Tatbestand ist nur bei einer erheblichen Erhöhung
des Unrechtsgehalts erfüllt (Bestätigung der Rechtsprechung). Der Täter
handelt grausam, wenn er dem Opfer besondere Leiden zufügt, die erheblich
über das Mass dessen hinausgehen, was zur Erfüllung des Grundtatbestandes
notwendig ist.

    Massives, minutenlanges und intermittierendes Würgen ist grausam.

Sachverhalt

    A.- Das Kantonsgericht St. Gallen verurteilte B. am 4. Mai 1992 wegen
wiederholter, teilweise qualifizierter Vergewaltigung, wiederholten,
teilweise qualifizierten Vergewaltigungsversuchs, wegen Nötigung zu
einer unzüchtigen Handlung und wiederholten Versuchs dazu sowie wegen
wiederholten Diebstahls zu sechseinhalb Jahren Zuchthaus.

    B. führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt sinngemäss, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache sei zur neuen Entscheidung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen verzichtete in der
Vernehmlassung auf eine Stellungnahme.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz habe Bundesrecht
verletzt, als sie die qualifizierte Tatbestandsvariante der Notzucht
(Daniela) bzw. des Notzuchtversuchs (Alice und Claudia) annahm. Er
begründet im wesentlichen, die Gewaltanwendung sei jeweils einzig auf die
Erzwingung der Duldung des Beischlafs gerichtet gewesen, auf die Aufgabe
des Widerstands durch das Opfer, nicht auf eine Unfähigkeit des Opfers
zum Widerstand.

    Sinngemäss rügt er damit, die Vorinstanz habe die Tatbestandsmerkmale
des Art. 187 Abs. 2 StGB verkannt. Soweit er die vorinstanzlichen
Feststellungen hinsichtlich seines Denkens, Tuns und Wollens beanstandet,
sind seine Rügen unzulässig (vgl. BGE 118 IV 124, mit Hinweisen).

    b) Gemäss den Feststellungen der Vorinstanz ging der Beschwerdeführer
in allen drei Fällen nach dem gleichen Handlungsmuster vor. Er packte
sein Opfer jeweils an der Brust und zwischen den Beinen, trug es
auf die angrenzende Wiese, griff es an Brüsten und Geschlecht aus,
entblösste es und suchte den Geschlechtsakt zu vollziehen, was ihm in
einem Fall gelang, während er in den beiden andern Fällen infolge des
vorzeitigen Samenergusses davon abliess. Während der Tat hinderte er die
sich wehrenden Frauen am Schreien und machte sie sich durch Würgen oder
im Würgegriff gefügig. Es ist zu prüfen, ob aufgrund dieses Tatelements
eine qualifizierte Tatbestandsverwirklichung anzunehmen ist.

    Im einzelnen führt die Vorinstanz aus, Alice habe ausgesagt, der
Beschwerdeführer habe sie schon fest gewürgt, sie hätte aber Luft zum Atmen
gehabt. Er habe übereinstimmend erklärt, als die Frau geschrieen und sich
gewehrt habe, habe er sie massiv ca. zwei bis drei Minuten am Hals bzw.
Kehlkopf gewürgt, solange bis sie wehrlos und ruhig geworden sei.

    Claudia erklärte gemäss Vorinstanz, der Beschwerdeführer habe sie
so stark fixiert und gewürgt, dass sie nicht schreien konnte; sie sei
in Todesangst gewesen. Der Beschwerdeführer sagte, er habe sie solange
gewürgt, bis sie sich nicht mehr gewehrt bzw. nicht mehr geschrieen
habe. Er habe erkannt, dass sie grosse Angst hatte.

    Zur Vergewaltigung von Daniela erklärte der Beschwerdeführer: "Auch
sie schrie, wehrte sich und versuchte, sich loszureissen. Ich würgte sie
wiederum mit dem Arm von hinten, bis sie jeglichen Widerstand aufgab. Ich
merkte dabei, dass sie nach Luft rang. Ich erklärte ihr auch, ich würde
sie umbringen, wenn sie mich nicht gewähren lasse. Ich glaube, sie war
völlig unfähig, nachdem ich sie so gewürgt hatte, weiteren Widerstand zu
leisten." Daniela sagte aus: "Ich wehrte mich und wollte mich losreissen,
doch hatte ich keine Chance. Er würgte mich so stark, dass ich keine Luft
mehr bekam." Sie habe ihm gesagt, hör' auf zu würgen, ich bekomme keine
Luft mehr. Er habe erwidert, bleib' ruhig, sonst bringe ich dich um.

    Die Vorinstanz kommt in allen drei Fällen zum Schluss, es liege jeweils
der qualifizierte Tatbestand vor, weil der Beschwerdeführer seine Opfer
gänzlich habe widerstandsunfähig machen wollen bzw. gemacht habe.

    c) Gemäss Art. 187 Abs. 2 StGB wird mit Zuchthaus nicht unter
drei Jahren bestraft, wer mit einer Frau den ausserehelichen Beischlaf
vollzieht, nachdem er sie zu diesem Zwecke bewusstlos oder zum Widerstand
unfähig gemacht hat.

    In BGE 118 IV 52 hat das Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung
zu Art. 187 Abs. 2 StGB überprüft. Es schloss, schon wegen der
Schwierigkeiten einer sachgerechten Unterscheidung zwischen Art. 187 Abs. 1
und 2 StGB sowie der vorgesehenen und in diesem Punkt unbestrittenen
Änderung des Strafgesetzbuches sei Art. 187 Abs. 2 StGB restriktiv
auszulegen und insbesondere bei grausamer Begehung in körperlicher oder
psychischer Hinsicht anzunehmen. Die restriktive Auslegung ergäbe sich auch
aus der Interpretation gemäss der angedrohten Strafe. Die Voraussetzungen
der Qualifikation seien deshalb nur dann zu bejahen, wenn gegenüber dem
Grundtatbestand gemäss Art. 187 Abs. 1 StGB eine erhebliche Erhöhung
des Unrechtgehalts vorliege; dabei sei zu beachten, dass bereits der
Grundtatbestand einen schwerwiegenden Angriff auf die Persönlichkeit der
Frau darstelle und ihre Integrität aufs schwerste verletze.

    Das neue Gesetz fasst die Tatbestände der bisherigen einfachen
und qualifizierten Notzucht in Art. 190 Abs. 1 StGB zusammen; die
Strafdrohung lautet auf Zuchthaus bis zu zehn Jahren. Handelt der
Täter grausam, ist die Strafdrohung Zuchthaus nicht unter drei Jahren
(Abs. 3). Der Bundesrat schrieb in der Botschaft zum Qualifikationsgrund,
das Merkmal der Gewalt erfahre in der Grausamkeit (definiert als Rohheit,
Gefühllosigkeit, Quälerei) eine Steigerung in körperlicher oder psychischer
Hinsicht. Grausamkeit sei gegeben, wenn der Täter dem Opfer wissentlich und
willentlich besondere Leiden zufüge, die über das Mass dessen hinausgingen,
was schon zur Erfüllung des Grundtatbestandes gehöre (BBl 1985 II 1074 f.,
mit Hinweis auf BGE 106 IV 367 f.).

    Der Begriff der grausamen Begehung im Sinne der geänderten
Rechtsprechung zu Art. 187 Abs. 2 aStGB (BGE 118 IV 56 E. 2d) deckt
sich inhaltlich mit jenem der grausamen Handlung gemäss Art. 190 Abs. 3
nStGB. Deshalb ist das neue Recht in die Auslegung miteinzubeziehen.

    d) Wie dargelegt, ist nicht mehr die Widerstandsunfähigkeit, sondern
die Grausamkeit objektives qualifizierendes Tatbestandsmerkmal. Eine
herabgesetzte Empfindungsfähigkeit des Opfers (z.B. Halbohnmacht) oder eine
grössere physische und psychische Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit
schliessen daher das Merkmal nicht aus. Die als grausam zu bewertenden
Elemente der Begehungsweise (eigentliche Ausführungshandlungen und
besondere Tatumstände) sind Bestandteile des Tatgeschehens. Unter
Tatumständen sind rechtserhebliche Tatsachen zu verstehen, die unmittelbar
(direttamente) mit der Begehung der Tat zusammenhängen; nur dies verträgt
sich mit dem Tatschuldprinzip (BGE 117 IV 390 f.).

    Die Vergewaltigung ist wesentlich ein Sexualdelikt; die Gewaltanwendung
ist Machtmittel des Vergewaltigers zur Erzwingung des Beischlafs. Gewalt
und Drohung sind bereits Tatbestandsmerkmale der einfachen Notzucht nach
Art. 187 Abs. 1 StGB (BGE 115 IV 217 E. 2a). Die Vergewaltigung erfüllt
erst bei grausamer Begehung (BGE 118 IV 56 E. 2d; Art. 190 Abs. 3 nStGB)
den qualifizierten Tatbestand, wenn also der Täter unverhältnismässige
oder gefährliche Tatmittel einsetzt und dadurch besondere Leiden zufügt,
d.h. andere Leiden, als diejenigen, die die Frau schon deswegen erleidet,
weil sie vergewaltigt wird. Dies sind Leiden, die mit der Begehung
nicht notwendigerweise verknüpft sind, sondern die durch Sadismus oder
zumindest durch die Absicht, Schmerzen zuzufügen (vgl. BGE 106 IV 364,
367 f., zu Art. 182 aStGB), oder durch Rücksichtslosigkeit (Rohheit) und
gegen fremde Leiden unbarmherzige Gesinnung (Gefühllosigkeit) bestimmt
sind. Der qualifizierte Tatbestand ist daher umfassender. Er setzt die
einfache Begehung, die Vergewaltigung, voraus und erfordert zusätzlich
die Tatmodalität der Grausamkeit.

    In BGE 107 IV 181 hat das Bundesgericht die Qualifikation deshalb
angenommen, weil der Täter Küchenmesser, Pistole und Würgen als Tatmittel
einsetzte, die beim Opfer Todesangst und absolute Wehrlosigkeit zur Folge
hatten. In diesem Entscheid wird nicht vorausgesetzt, es müssten diese
Tatmittel kumulativ eingesetzt werden. Gemäss dem neuen Art. 190 Abs. 3
StGB handelt grausam, wer "namentlich" eine gefährliche Waffe oder einen
andern gefährlichen Gegenstand verwendet. Auch massives, minutenlanges
und intermittierendes Würgen ist eine grausame (und gefährliche)
Begehungsweise. Damit fügt der Täter dem Opfer besondere physische und
psychische Leiden zu und versetzt es in der Regel in Todesangst. Wer das
tut, handelt grausam.

    e) Der grobschlächtige Zugriff des körperlich überlegenen
Beschwerdeführers war gewalttätig. Die Gewaltanwendung diente dem Zweck,
die sich wehrenden Frauen gefügig zu machen, und dauerte, bis diese keinen
Widerstand mehr leisteten und er sein Ziel, den Samenerguss auszulösen,
erreicht hatte. Er nötigte die Opfer zur Mitwirkung und bändigte sie mit
roher Gewalt. Zwar quälte er die Opfer nicht in sadistischer Weise und
ergötzte sich nicht an ihrer Angst und ihrem Schmerz. Er verwendete keine
gefährlichen Gegenstände. Die Gewaltanwendung war jedoch massiv, und mit
minutenlangem intermittierendem Würgen brach er ihren Widerstand. Der
Würgegriff verursachte bei den Frauen Todesangst (Claudia, Daniela), und
letzterer drohte er sogar, sie umzubringen. Dass Alice eine Todesangst
in ihren Aussagen nicht eigens erwähnt, ist nicht entscheidend, weil die
Grausamkeit, nicht die Todesangst objektives Tatbestandselement ist. Er
ging ihr gegenüber mit der gleichen Grausamkeit vor. Damit fügte er
den Opfern besondere Leiden zu, die über das Mass dessen hinausgingen,
was zur Erfüllung des Grundtatbestands notwendig ist, oder die mit dessen
Verwirklichung notwendig verbunden sind (vgl. BGE 118 IV 57).

    Handelte der Beschwerdeführer somit grausam im Sinne der neuen
Rechtsprechung, müssen alle drei Fälle unter den qualifizierten Tatbestand
subsumiert werden. Die Vorinstanz hat daher im Ergebnis kein Bundesrecht
verletzt, wenn sie jeweils Art. 187 Abs. 2 StGB anwandte.