Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IV 315



119 IV 315

59. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 20. Dezember 1993
i.S. H. gegen Bürgergemeinde X. und Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 217 Abs. 2 StGB, Vernachlässigung von Unterhaltspflichten,
Antragsrecht; Art. 2 Abs. 2 und Art. 339 Ziff. 2 StGB, intertemporales
Recht, lex mitior.

    Die von den Kantonen bezeichneten Behörden und Stellen sind von
Gesetzes wegen antragsberechtigt, unabhängig davon, ob sie selbst materiell
geschädigt sind (E. 1b).

    Die Pflicht, ihr Antragsrecht unter Wahrung der Familieninteressen
auszuüben, besteht auch in bezug auf Taten, die vor dem Inkrafttreten
des neuen Rechtes begangen wurden (E. 2a).

    Familieninteressen, die dem Antragsrecht der Behörde oder Stelle
entgegenstehen, liegen nicht schon dann vor, wenn das Verhältnis der
geschiedenen Ehegatten ungetrübt ist (E. 2c).

Sachverhalt

    A.- H. wurde mit Scheidungsurteil des Amtsgerichts Luzern-Land vom
28. Februar 1986 verpflichtet, seiner geschiedenen Ehefrau monatliche
und indexierte Unterhaltsbeiträge von je Fr. 500.-- für sie und für seine
beiden Kinder zu bezahlen. In der Zeit vom 1. Oktober 1988 bis 31. Januar
1990 kam er dieser Verpflichtung auf Unterhaltsleistungen nicht nach. Die
Bürgergemeinde X. stellte Strafantrag gegen H. wegen Vernachlässigung
von Unterhaltspflichten und machte Alimentenausstände von Fr. 19'300.--
für die Zeit vom 1. Oktober 1988 bis 31. Januar 1990 geltend.

    Das Obergericht des Kantons Luzern sprach H. mit Urteil vom 1. April
1993 in zweiter Instanz der Vernachlässigung von Unterhaltspflichten
in der Zeit vom 1. Oktober 1988 bis 31. Dezember 1989 gemäss Art. 217
Abs. 1 aStGB und im Januar 1990 gemäss Art. 217 Abs. 1 StGB schuldig und
verurteilte ihn zu zwei Monaten Gefängnis (unbedingt).

    Gegen diesen Entscheid führt H. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde,
mit der er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben.

    Mit Entscheid heutigen Datums hat der Kassationshof eine in derselben
Sache eingereichte staatsrechtliche Beschwerde abgewiesen, soweit er
darauf eintrat. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es
darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Der Beschwerdeführer bestreitet zunächst die Antragsberechtigung
der Bürgergemeinde X. (Beschwerdegegnerin 1). Er bringt vor, diese
habe in der eingeklagten Tatzeit von Oktober 1988 bis Januar 1990 keine
Unterhaltsbeiträge bevorschusst, so dass gemäss Art. 289 Abs. 2 ZGB keine
Rechte auf sie übergegangen seien. Da sie keine Vorschüsse geleistet habe,
habe sie auch keinen Schaden erlitten. Sie habe daher kein schützenswertes
Interesse an der Einleitung eines Strafverfahrens. Damit fehle es an der
Sachurteilsvoraussetzung der Antrags- und Privatklagelegitimation der
Beschwerdegegnerin 1. Die anderslautende Praxis gemäss BGE 78 IV 97 sei
überholt und weltfremd.

    b) Gemäss Art. 217 Abs. 2 StGB steht das Antragsrecht auch den von
den Kantonen bezeichneten Behörden und Stellen zu. Nach der Botschaft
vom 26. Juli 1985 (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen
Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes, Strafbare Handlungen gegen
Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie, BBl 1985
II S. 1055) sind damit Amtsstellen sowie private Organisationen gemeint,
die sich mit dem Eintreiben von solchen Forderungen befassen (vgl. auch
URS BRODER, Delikte gegen die Familie, insbesondere Vernachlässigung von
Unterhaltspflichten, ZStR 109/1992, S. 309 f.). Das alte Recht verlieh
die Antragsberechtigung in Ziff. 2 von Art. 217 aStGB lediglich den vom
Kanton bezeichneten Behörden. Beide gesetzlichen Bestimmungen begründen
von Gesetzes wegen eine unabhängige Antragsberechtigung, die neben
dem Antragsrecht des Verletzten besteht (Art. 28 Abs. 1 StGB). Es ist
somit nicht erforderlich, dass der Unterhaltsanspruch gemäss Art. 289
Abs. 2 ZGB, der sich ohnehin nur auf den Anspruch der Kinder bezieht,
auf das Gemeinwesen übergegangen ist. Ebensowenig ist für das Antragsrecht
Voraussetzung, dass die Behörde oder Stelle selbst einen Schaden erlitten
haben. Das Antragsrecht wurde den von den Kantonen bezeichneten Behörden
und Stellen zuerkannt, um der unbefriedigenden Situation entgegenzuwirken,
dass unterhalts- oder unterstützungsberechtigte Frauen unter dem Druck
des säumigen Schuldners sich nicht trauen, gegen diesen vorzugehen, oder
auch bloss aus Gleichgültigkeit oder irgendwelchen anderen Überlegungen
zum Nachteil der Kinder den Strafantrag unterlassen (so BGE 78 IV 95
E. 3). Ob die Beschwerdegegnerin 1 selbst materiell geschädigt ist,
ist für die Antragsberechtigung somit ohne Bedeutung.

    Gemäss § 35 Abs. 3 StPO/LU sind im Kanton Luzern Gemeinde- und
Bürgerräte sowie das Fürsorge- und Justizdepartement zum Strafantrag
berechtigt. Ob die Vorinstanz diese Bestimmung im zu beurteilenden Fall
zutreffend ausgelegt hat, ist der Überprüfung durch das Bundesgericht
entzogen, da gemäss Art. 269 Abs. 1 BStP mit der Nichtigkeitsbeschwerde
nur die Verletzung eidgenössischen Rechts geltend gemacht werden kann.

    Die Vorinstanz hat somit kein Bundesrecht verletzt, wenn sie die
Beschwerdegegnerin 1 als antragsberechtigt betrachtet hat.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht ferner geltend, die Beschwerdegegnerin
1 habe ihr Antragsrecht nicht im Interesse der Familie ausgeübt. Soweit
er dabei von den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz abweicht,
ist auf seine Beschwerde nicht einzutreten (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP).

    a) Art. 217 Abs. 2 StGB schränkt die Antragsberechtigung der Behörden
und Stellen gegenüber dem alten Recht ein und knüpft sie an die Wahrung
der Familieninteressen. Nach dem Grundsatz der lex mitior (Art. 2 Abs. 2
StGB) muss diese Einschränkung des Antragsrechtes im zu beurteilenden
Fall auch für die Zeitspanne vor Inkrafttreten des neuen Rechts gelten
(vgl. THORMANN/VON OVERBECK, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Band,
Art. 339 N. 1). Dafür spricht auch Art. 339 Ziff. 2 StGB, wonach bei
einem altrechtlichen Offizialdelikt, das nach neuem Recht allein auf
Antrag strafbar ist, die Strafverfolgung nur auf Antrag fortgeführt
werden kann. Diese Regelung hatte Bedeutung nicht nur beim Inkrafttreten
des Strafgesetzbuches, sondern gilt auch bei späteren Gesetzesänderungen
(BGE 78 IV 45 E. 1). Somit kommt hier hinsichtlich des Antragsrechts für
die gesamte Tatzeit das neue Recht als das mildere zur Anwendung.

    b) Die Vorinstanz ging davon aus, dass das Verhältnis des
Beschwerdeführers zu seiner geschiedenen Ehefrau ungetrübt sei. Daran habe
auch ein erstes von der Beschwerdegegnerin 1 eingeleitetes Strafverfahren
mit einer Verurteilung des Beschwerdeführers zu 6 Wochen Gefängnis bedingt
vom 14. Juni 1988 nichts geändert. Die Beschwerdegegnerin 1 unterstütze
die Familie des Beschwerdeführers nach wie vor bei der Eintreibung der
Unterhaltsbeiträge, so dass sich die geschiedene Ehefrau beim Vorgehen
gegen ihren geschiedenen Ehemann zurückhalten könne.

    c) Art. 217 Abs. 2 StGB sieht vor, dass die von den Kantonen
bezeichneten Behörden und Stellen von ihrem Antragsrecht nur unter
Wahrung der Interessen der Familie Gebrauch machen dürfen. Die
Behörde oder Stelle kann also nicht Strafantrag stellen, wenn dies den
Interessen der Familie zuwiderläuft. Sie muss etwa auf den Fortbestand
einer Ehe oder auf allfällige unterschiedliche Interessen der Mutter
und der anspruchsberechtigten Kinder Rücksicht nehmen (BRODER, aaO,
S. 310; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil I und II,
Teilrevisionen 1987 bis 1990, § 3 N. 18). Die Klausel entsprach einem
Minderheitsantrag der vorberatenden nationalrätlichen Kommission und
wurde in der parlamentarischen Beratung vom Nationalrat eingefügt. Der
Mehrheitsantrag der Kommission sah ebenfalls in Ergänzung des
bundesrätlichen Entwurfs vor, dass die Behörde ihr Antragsrecht nur nach
Anhörung der anspruchsberechtigten Person ausüben könne, ohne dass freilich
die Behörde an diese Äusserung gebunden gewesen wäre. Der Nationalrat
wollte verhindern, dass die Behörde sich vor allem an ihrer behördlichen
Pflicht orientiert und möglicherweise Strafantrag stellt, obwohl dies
für Familie, für Frau oder Kinder, nachträglich nachteilige Folgen nach
sich ziehen könnte (Sten.Bull. NR 6.6.1989, Voten Spoerry und Bonny;
der Ständerat hatte seinerseits ursprünglich die Antragsberechtigung
der Behörden daran geknüpft, das "diese dem Berechtigten beistehen"
[Sten.Bull. StR 1987, S. 371]).

    Auch wenn das Verhältnis des Beschwerdeführers zu seiner geschiedenen
Ehefrau ungetrübt ist, hat die Beschwerdegegnerin 1 mit der Stellung
des Strafantrags nicht gegen die Interessen der Familie gehandelt. Eine
besondere Interessenlage, wie das Fortbestehen der Ehe, liegt im zu
beurteilenden Fall nicht vor. Es ist auch nicht ersichtlich, welche
anderen familiären Interessen der Antragsstellung hätten entgegenstehen
können. Im übrigen handelte die Beschwerdegegnerin 1 nach den verbindlichen
Feststellungen der Vorinstanz (Art. 277bis Abs. 1 BStP) nicht bloss nach
ihrer behördlichen Pflicht, sondern, indem sie die geschiedene Frau und
die Kinder des Beschwerdeführers unterstützte, gerade mit Rücksicht auf
die Interessen der Familie. Die Beschwerde erweist sich auch in diesem
Punkt als unbegründet.