Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IV 280



119 IV 280

53. Urteil des Kassationshofes vom 30. August 1993 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Aargau gegen A. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 66, 66bis Abs. 1 StGB; Strafmilderung.

    Ist die Täterin durch die unmittelbaren Folgen ihrer Tat schwer
betroffen und erscheint ein Verzicht auf Strafe nicht als angemessen,
so ist die Strafe zu mildern (E. 1a).

    Schwere Betroffenheit einer Mutter von vier minderjährigen Kindern, die
durch ein fehlerhaftes Überholmanöver den Tod ihres Ehemannes verschuldet
hat (E. 2b).

    Art. 66bis, 68 Ziff. 1 und Art. 117 StGB; Art. 90 Ziff. 2 SVG.

    Art. 66bis StGB ist auch bei Idealkonkurrenz von fahrlässiger Tötung
und einem SVG-Vergehen anwendbar (E. 2c).

Sachverhalt

    A.- Frau A. wollte am 21. April 1991 ausserorts auf der Kantonsstrasse
von Muri Richtung Sins den vor ihr fahrenden Personenwagen überholen, als
aus der Gegenrichtung ein Fahrzeug nahte, so dass die drei Personenwagen
auf gleicher Höhe kreuzten. Dabei gelang es dem entgegenkommenden
Fahrzeugführer, seinen Wagen vorbeizulenken und anschliessend auf
seiner Fahrbahn anzuhalten. A. prallte seitlich auf jenes Fahrzeug, das
sie überholen wollte. Dieses wurde deshalb nach rechts in eine Wiese
abgedrängt, wo es zum Stillstand kam, ohne dass sich dessen Insassen
verletzt hätten. Der von A. gelenkte Wagen geriet nach links, fuhr über
die Fahrbahn hinaus und überschlug sich. Dabei wurde ihr Ehemann aus dem
Fahrzeug geschleudert und derart schwer verletzt, dass er kurz darauf im
Spital verstarb. Auch ihre drei Kinder zogen sich Verletzungen zu.

    A. wollte mit 85-90 km/h den vor ihr mit 70-80 km/h fahrenden Wagen
überholen. Dafür benötigte sie einen Überholweg von mindestens 445,5
m. Die Sichtweite betrug rund 325 m. Der Überholweg war somit über 100
m länger als die Sichtweite.

    B.- Am 9. November 1992 bestrafte das Bezirksgericht Muri A. wegen
fahrlässiger Tötung und Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 34 Abs. 3
und 4, 35 Abs. 2 und 3 i.V.m. 90 Ziff. 2 SVG) mit einem Monat Gefängnis
bedingt und Fr. 300.-- Busse. Ohne Berücksichtigung des Art. 66bis StGB
hätte das Gericht eine Gefängnisstrafe von etwa einem Jahr ausgesprochen.

    Eine Berufung der Staatsanwaltschaft wies das Obergericht des Kantons
Aargau am 6. Mai 1993 ab. Es hiess die Anschlussberufung der Verurteilten
teilweise gut und ergänzte das Dispositiv durch Art. 66bis StGB, beliess
es aber bei der bezirksgerichtlichen Strafe.

    C.- Die Staatsanwaltschaft erhebt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt,
das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Denn Art. 66bis StGB erlaube lediglich den Verzicht auf
Strafverfolgung oder Bestrafung, nicht aber eine Strafmilderung nach
freiem Ermessen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 66bis Abs. 1 StGB sieht die zuständige Behörde von
der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung
ab, wenn der Täter durch die unmittelbaren Folgen seiner Tat so schwer
betroffen worden ist, dass eine Strafe unangemessen wäre.

    a) Art. 66bis StGB ist jedenfalls dann verletzt, wenn die Bestimmung
in einem Falle nicht Anwendung findet, wo ein leichtes Verschulden sehr
schwere direkte Folgen für den Täter nach sich zieht, beziehungsweise dort
angewendet wird, wo ein schweres Verschulden lediglich zu einer leichten
Betroffenheit des Täters geführt hat. Zwischen diesen beiden Extremen
hat der Richter nach Prüfung der konkreten Umstände des Einzelfalles zu
entscheiden, wobei er über ein weites Ermessen verfügt (BGE 117 IV 245
E. 2a S. 248). Ist daher aufgrund der Tatfolgen die Anwendung des Art.
66bis StGB nicht zum vornherein auszuschliessen, hat der Richter zunächst
die Strafe ohne Berücksichtigung der Auswirkungen der Tat für den Täter
zuzumessen, um diese Einsatzstrafe sodann gegen die eine unmittelbare
Folge seiner Tat darstellende Betroffenheit des Täters abzuwägen (BGE
117 IV 245 E. 2b S. 250).

    Bei dieser Abwägung kann sich ergeben, dass der Täter bereits genug
bestraft ist, weshalb von einer Bestrafung abzusehen ist. Schwere Tatfolgen
können den Täter derart hart treffen, dass er dadurch schon genügend
bestraft erscheint und somit auf die Verhängung einer weiteren Sanktion
verzichtet werden kann. Ein Strafbedürfnis entfällt; das Verschulden des
Täters erscheint als durch die ihn treffenden gravierenden Folgen seiner
Tat ausgeglichen. Das ist der Sinn des Art. 66bis StGB.

    Es kann sich indessen auch zeigen, dass eine gänzliche Strafbefreiung
nicht in Frage kommt, aber angesichts der grossen Betroffenheit des Täters
als unmittelbare Folge seiner Tat nur eine niedrigere Strafe als die
Einsatzstrafe und gegebenenfalls auch als die innerhalb des ordentlichen
Strafrahmens zulässige niedrigste Strafe angemessen erscheint. Der
Sinn der Bestimmung in Art. 66bis StGB gebietet, in solchen Fällen die
schweren Tatfolgen auch über eine Strafmilderung nach freiem Ermessen
im Sinne von Art. 66 StGB angemessen zu berücksichtigen, entsprechend
deren doppelter Bedeutung mit der Wirkung, dass der Richter nicht mehr an
den für das betreffende Delikt geltenden Strafrahmen gebunden ist, die
Strafe aber mindestens zu mindern hat (vgl. zu letzterem BGE 116 IV 300
E. 2a mit Hinweisen). Dies steht im Einklang mit der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung, wonach die Befugnis, von einer Bestrafung Umgang zu nehmen,
die weniger weit gehende Strafmilderung nach freiem Ermessen einschliesst
(BGE 106 IV 189 E. 3a; TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Art. 66
N. 1, insbesondere Art. 66bis N. 3; a.A. STRATENWERTH, Schweizerisches
Strafrecht, Teilrevisionen 1987 bis 1990, S. 16 f. N. 11, und ARZT,
Verfolgungsverzicht und Unterlassung der Nothilfe, ZBJV 127/1991
S. 451). Für diese Lösung spricht auch die systematische Stellung
des Art. 66bis StGB im zweiten Abschnitt des Dritten Titels bei den
Strafzumessungsnormen. Zudem wurde bei der parlamentarischen Beratung
ausgeführt, in Art. 66bis StGB sei nur von Strafbefreiung die Rede, aber
nach dem Prinzip "a maiore minus" werde damit auch die Strafmilderung
ermöglicht (Bonny, Berichterstatter des Nationalrates, Amtl.Bull. 1989
N. 678).

    b) Erlaubt Art. 66bis StGB somit neben einem Absehen von der
Strafverfolgung, von der Überweisung an das Gericht oder von der Bestrafung
auch eine Strafmilderung nach freiem Ermessen, ist jedoch gleichwohl zu
beachten, dass diese Gesetzesbestimmung zwar nicht einzig bei Extremfällen
zum Zuge kommt, aber auch nicht Teil der alltäglichen Strafrechtspraxis
sein kann (BGE 117 IV 245 E. 2b). Auch bei der Beratung im Parlament
wurde festgehalten, die Regel solle nicht extensiv interpretiert
werden (vgl. die Berichterstatter des Nationalrates, Cotti und Bonny,
Amtl.Bull. 1989 N. 678). Die Bestimmung verlangt auch ausdrücklich eine
schwere Betroffenheit des Täters.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin bestreitet danach zu Unrecht, dass
Art. 66bis StGB eine Strafmilderung nach freiem Ermessen ermögliche. Auch
mit ihren übrigen Einwänden vermag sie nicht durchzudringen.

    a) Bereits in BGE 117 IV 245 wurde gezeigt, dass die Norm des
Art. 66bis StGB keine reine Ausnahmebestimmung ist.

    b) Auch der Einwand, die Vorinstanz sei von einem falschen
Rechtsbegriff der schweren Betroffenheit ausgegangen, denn sie begründe
diese in erster Linie materiell, geht fehl. Die Vorinstanz stellt
nicht hauptsächlich finanzielle Überlegungen an, sondern begründet die
schwere Betroffenheit der Täterin mit dem Verlust ihres Ehepartners und
Vaters ihrer sechs- bis zehnjährigen Kinder. Diese schweren psychischen
Folgen hat die Vorinstanz zusätzlich durch die Hinweise konkretisiert,
die Beschwerdegegnerin stehe nun da als zweiunddreissigjährige Mutter,
mit vier Kindern, kaum assimiliert, in einem fremden Land, ohne
Versorger und Verwandtenunterstützung. Während die Ehegatten gemeinsam
ein Familieneinkommen von Fr. 8'500.-- erwirtschaftet hätten, müsse sie
jetzt mit einer Rente in der halben Höhe auskommen. Das Mindereinkommen
bildet in der Beurteilung nicht das entscheidende Kriterium.

    c) Die Beschwerdeführerin rügt ferner, die Vorinstanz habe das
Verschulden für das SVG-Vergehen und die fahrlässige Tötung nicht getrennt
gewürdigt; und selbst wenn das strafbare Verhalten als einheitlicher
Tatkomplex aufzufassen wäre, könne Art. 66bis StGB nicht Anwendung finden.

    Die Vorinstanz nimmt zu Recht Idealkonkurrenz an und misst
eine Gesamtstrafe zu (Art. 68 Ziff. 1 Abs. 1 StGB; vgl. BGE 116 IV
300 E. 2). Die schwere Betroffenheit der Beschwerdegegnerin ist die
unmittelbare Folge einer Handlung, die allerdings mehrere Tatbestände
erfüllt (Art. 117 StGB, Art. 90 Ziff. 2 SVG). Die Vorinstanz hat daher
das Überholmanöver mit tödlichem Ausgang unter dem Gesichtspunkt des
Verschuldens zu Recht als einheitliches Tatgeschehen aufgefasst. Das
Verschulden ist erheblich, mag auch die Beurteilung, die Beschwerdegegnerin
treffe ein schweres Verschulden, angesichts der übrigen Feststellungen
(kurze Fahrpraxis, Sichtweite, Geschwindigkeit, Gatte war nicht
angegurtet) eher streng anmuten. Die Ansicht der Beschwerdeführerin, die
Beschwerdegegnerin habe ein unmögliches, aggressives und rücksichtsloses
Überholmanöver durchgeführt, findet dagegen in dieser Form in den
vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen keine Grundlage.

Erwägung 3

    3.- Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der angefochtene Entscheid
im Ergebnis nicht zu beanstanden ist. Die Vorinstanz ist bei der Anwendung
von Art. 66bis StGB von den massgeblichen Gesichtspunkten ausgegangen und
hat diese ohne Überschreitung oder Missbrauch ihres Ermessens gewichtet.

    Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen.