Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IV 260



119 IV 260

49. Urteil des Kassationshofes vom 27. Mai 1993 i.S. B. gegen
Polizeirichteramt des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 57 Abs. 5 lit. b SVG, Art. 3b Abs. 3 VRV; Art. 49 BV und
Art. 9 EMRK; Helmtragpflicht eines Motorfahrradfahrers; Glaubens- und
Gewissensfreiheit.

    Verordnungen des Bundesrates sind vorfrageweise auf ihre Gesetzes-
und Verfassungsmässigkeit zu überprüfen (E. 2).

    Die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Angehörigen der
Religionsgemeinschaft der Sikhs wird durch die Pflicht, einen Schutzhelm
zu tragen, nicht beeinträchtigt (E. 3).

Sachverhalt

    A.- B. ist Angehöriger der Religion der Sikhs. Er missachtete am
1. November 1990 in Zürich als Lenker eines Motorfahrrades ein Rotlicht. Er
trug ausserdem bei seiner Fahrt keinen Schutzhelm. Auf Einsprache gegen
eine aufgrund dieses Sachverhalts erlassene Strafverfügung sprach der
Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Zürich B. der Verletzung einer
Verkehrsvorschrift im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG i.V.m. Art. 68 Abs. 1
SSV (Missachten eines Rotlichtes) sowie der Übertretung von Art. 96 VRV
i.V.m. Art. 3b Abs. 3 VRV (Nichttragen des Schutzhelmes) schuldig und
verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 30.--.

    Eine allein gegen die Bestrafung wegen Nichttragens des Schutzhelms
eingereichte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde von B. wies das Obergericht
des Kantons Zürich mit Urteil vom 21. Oktober 1992 ab, soweit es darauf
eintrat.

    Gegen diesen Entscheid führt B. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
an das Bundesgericht, mit der er die Aufhebung des angefochtenen Entscheids
beantragt. Gleichzeitig ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

    Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtete auf
Gegenbemerkungen. Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich trägt auf
Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde an und verweist zur Begründung auf
die Urteile des Einzelrichters und des Obergerichts.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Der erstinstanzliche Richter war aufgrund der Ausführungen
des Beschwerdeführers davon ausgegangen, die Religion der Sikhs verbiete
ihren Angehörigen zwar, das Haupt in der Öffentlichkeit entblösst zu
zeigen, nicht hingegen das Tragen eines Helms. Er hatte daher angenommen,
dass die Helmtragpflicht die Religionsfreiheit des Beschwerdeführers
nicht tangiere. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit wäre nach dessen
Auffassung durch die Helmtragpflicht selbst dann nicht beeinträchtigt,
wenn die Religion des Beschwerdeführers das Tragen eines Turbans strikte
vorschreiben würde. Denn die Pflicht, einen Helm zu tragen, untersage
nicht das Tragen eines Turbans, sondern das Führen eines Motorfahrrades
ohne Helm. Der erstinstanzliche Richter war daher zum Schluss gelangt, der
Beschwerdeführer habe das Tragen des Schutzhelms lediglich aus Gründen der
Bequemlichkeit und aus Furcht vor Spott unterlassen, was keine Ausnahme
von der Helmtragpflicht rechtfertige. Die Vorinstanz erachtete diese
Feststellung nicht als aktenwidrig oder willkürlich.

    b) Die Rüge, Art. 3b Abs. 3 VRV sei nicht verfassungs- und EMRK-konform
ausgelegt worden, betrachtete die Vorinstanz als unbegründet. Sie führte
aus, zu einer verfassungskonformen Auslegung von Art. 3b Abs. 3 VRV bestehe
schon deshalb kein Anlass, weil die Vorschrift völlig klar sei. Sie habe
eine klare gesetzliche Grundlage in Art. 57 Abs. 5 lit. b SVG, welche
Bestimmung gemäss Art. 113 Abs. 3 BV nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit
überprüft werden könne. Im übrigen entbänden die Glaubensansichten
gemäss Art. 49 Abs. 5 BV nicht von der Erfüllung der bürgerlichen
Pflichten. Art. 3b Abs. 3 VRV halte sich sodann klar an die delegierte
Kompetenz. Die Bestimmung verstosse auch nicht gegen Art. 9 EMRK. Die
Europäische Menschenrechtskommission habe im Fall eines in England lebenden
Sikh's festgestellt, das Helmtragobligatorium sei für Motorradfahrer eine
notwendige Sicherheitsmassnahme und durch Art. 9 Abs. 2 EMRK gedeckt;
daran ändere nichts, dass in England das Helmtragobligatorium gegenüber
den Sikh's inzwischen aufgehoben worden sei.

    c) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe Art. 3b
Abs. 3 VRV nicht verfassungs- und EMRK-konform ausgelegt. Seine Religion
verbiete ihm, das Haupt in der Öffentlichkeit entblösst zu zeigen. Aus
diesem Grund bedeute für Sihks jede Handlung, die sie zum Entblössen
des Hauptes zwinge, eine klare Diskriminierung. Es sei nicht möglich,
über dem Turban einen Helm zu tragen. Das Helmtragobligatorium diene
in erster Linie dem Selbstschutz. Ein öffentliches Interesse für einen
Vorrang der Helmtragpflicht vor der Ausübung der Religionsfreiheit sei
nicht ersichtlich. Im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes in das
verfassungsmässige Recht sei der Entscheid der Vorinstanz aber auch nicht
mehr verhältnismässig.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 113 Abs. 3 BV sind die von der Bundesversammlung
erlassenen Gesetze und allgemeinverbindlichen Beschlüsse sowie die
von ihr genehmigten Staatsverträge für das Bundesgericht massgebend.
Es kann jedoch im Verfahren der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde
vorfrageweise Verordnungen des Bundesrats auf ihre Gesetzes- und
Verfassungsmässigkeit prüfen, wenn die strafrechtliche Verurteilung
gestützt auf eine solche Verordnung erfolgt (BGE 118 IV 192 E. 1). Bei
unselbständigen Verordnungen, die sich auf eine gesetzliche Delegation
stützen, prüft es, ob sich der Bundesrat in den Grenzen der ihm im Gesetz
eingeräumten Befugnisse gehalten hat. Ergibt sich bei dieser Prüfung,
dass die in Frage stehende Verordnungsbestimmung gesetzmässig ist,
ist weiter deren Verfassungsmässigkeit zu überprüfen, es sei denn ein
Abweichen von der Verfassung sei in der massgeblichen Gesetzesvorschrift
begründet (BGE 118 Ib 81 E. 3b mit Hinweisen; 118 IV 192 E. 2b; 105 IV
251 E. 2a; 100 IV 98 E. 2; 92 I 433; ANDREAS AUER, Die Schweizerische
Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 116 ff.; WALTER KÄLIN, Das Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde, S. 55 ff.).

    Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche Delegation ein sehr weiter
Spielraum des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsebene eingeräumt,
so ist dieser Spielraum nach Art. 113 Abs. 3 BV für das Bundesgericht
verbindlich; es darf in diesem Falle bei der Überprüfung der Verordnung
nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Bundesrates
setzen, sondern beschränkt sich auf die Prüfung, ob die Verordnung den
Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen offensichtlich
sprengt oder aus anderen Gründen gesetz- oder verfassungswidrig sei
(BGE 118 Ib 81 E. 3b, 118 IV 192 E. 2b mit weiteren Hinweisen).

    In diesem Rahmen ist die Gesetzes- und Verfassungsmässigkeit bzw.
EMRK-Konformität von Art. 3b Abs. 3 VRV zu überprüfen. Entgegen ihrer
geäusserten Auffassung wäre auch die Vorinstanz dazu berechtigt und
verpflichtet gewesen (vgl. AUER, aaO, S. 19/20 und 111/112).

Erwägung 3

    3.- a) Die Bestimmung von Art. 3b Abs. 3 VRV beruht auf Art.
57 Abs. 5 lit. b SVG, wonach der Bundesrat vorschreiben kann, dass
Führer und Mitfahrer von Zweirädern mit motorischem Antrieb Schutzhelme
tragen. Damit beruht die Verordnungsbestimmung auf einer genügenden
gesetzlichen Grundlage und hält sich auch im Rahmen der Delegationsnorm
(BGE 118 IV 192 E. 2c).

    b) aa) Gemäss Art. 49 Abs. 1 BV ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit
unverletzlich. Die Religionsfreiheit gewährleistet das Recht, eine
religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu haben, sowie diese,
innerhalb gewisser Schranken, zu äussern, zu verbreiten und zu praktizieren
(BGE 118 Ia 46 E. 4c). Unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehen
Weltanschauungen, soweit sie Ausdruck des Religiösen oder Transzendenten
sind und eine Gesamtschau der Welt und des Lebens zum Gegenstand haben
(ULRICH HAEFELIN, BV-Kommentar, N 46 zu Art. 49). Als Formen religiöser
Betätigung sind Verhaltensweisen geschützt, die als unmittelbarer Ausdruck
religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen erscheinen (PETER KARLEN,
Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, Diss. Zürich 1988,
S. 214). Dazu gehört auch das Tragen besonderer religiöser Kleidung
(KARLEN, aaO, S. 233).

    Art. 9 Ziff. 1 EMRK verleiht jedermann Anspruch auf Gedanken-,
Gewissens- und Religionsfreiheit, insbesondere die Freiheit, seine
Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit andern,
öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten
und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben. Nach Ziff. 2 derselben
Bestimmung darf die Religions- und Bekenntnisfreiheit nicht Gegenstand
anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer
demokratischen Gesellschaft notwendige Massnahmen im Interesse der
öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral
oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind (Ziff. 2).

    Auch Art. 49 BV gewährleistet die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht
vorbehaltlos. Die Bundesverfassung regelt ihre Schranken allerdings nur
lückenhaft. Ausdrücklich erwähnt wird in Art. 49 Abs. 5 BV der Vorrang
der bürgerlichen Pflichten vor den Glaubensansichten (vgl. dazu BGE
117 Ia 311 E. 1 mit Hinweisen). Auch wenn das Verfassungsrecht diesen
Vorrang der Bürgerpflichten vorsieht, dispensiert es damit nicht von
der verfassungsmässigen Ausgestaltung dieser Bürgerpflichten. Die
Beschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit setzt wie diejenige
anderer Freiheitsrechte eine gesetzliche Grundlage sowie die Wahrung
des öffentlichen Interesses sowie des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes
voraus. Die religiösen Freiheiten dürfen durch die Festlegung von
Bürgerpflichten somit nicht weiter eingeschränkt werden, als dies
vom öffentlichen Interesse geboten und verhältnismässig ist bzw. eine
notwendige Massnahme im Sinne von Art. 9 Ziff. 2 EMRK darstellt (BGE 117
Ia 311 E. 2b mit weiteren Hinweisen).

    bb) Die kantonalen Instanzen haben in tatsächlicher Hinsicht für
das Bundesgericht verbindlich festgestellt (Art. 277bis BStP), dass
die Religion der Sikhs, zu deren Glaubensbrüdern der Beschwerdeführer
gehört, ihren Angehörigen verbiete, ihr Haupt in der Öffentlichkeit
entblösst zu zeigen. Dieses Verbot, dessen Wichtigkeit für die
Sikhs der erstinstanzliche Richter zu Recht nicht angezweifelt
hat, geniesst als Ausdruck religiöser Wertvorstellungen ebenso wie
religiöse Kleidervorschriften grundsätzlich den Schutz der Glaubens-
und Gewissensfreiheit (siehe oben E. 3b/aa).

    Die Vorinstanzen stellten dazu für das Bundesgericht weiter verbindlich
fest, die Religion der Sihks schreibe diesen nicht ausdrücklich vor,
dass sie einen Turban tragen müssten. Daraus ergibt sich, dass das Tragen
eines Helms den religiösen Vorschriften der Sihks nicht zuwiderläuft. Dies
wird auch vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt. Es lässt sich
daher entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht sagen, er werde
durch die in Art. 3b Abs. 3 VRV festgelegte Pflicht, einen Schutzhelm zu
tragen, zum Entblössen seines Hauptes in der Öffentlichkeit gezwungen. Es
ist ihm möglich, beim Benützen eines Motorfahrrades den Turban jeweils in
privaten Räumlichkeiten gegen den Schutzhelm zu vertauschen, oder auch an
anderen Orten, wo er nicht sein entblösstes Haupt der Öffentlichkeit zeigen
muss. Dass er in einer Weise auf ein Motorfahrrad als Fortbewegungsmittel
angewiesen sei, dass ihm dies unzumutbare Umtriebe verursache, macht
er nicht geltend und ist auch nicht ersichtlich. Es mag zutreffen,
dass es im innerstädtischen Verkehr möglicherweise als unzumutbar
erscheinen kann, wenn sich der Beschwerdeführer als Fussgänger mit dem
aufgesetzten Schutzhelm auf die Suche nach einem Ort machen muss, an dem
er sein Haupt vor den Blicken der Öffentlichkeit geschützt entblössen
kann. Wenn der Beschwerdeführer insoweit einwendet, er müsse sich dadurch
lächerlich machen, ist er indessen darauf hinzuweisen, dass er, um dem zu
entgehen, ohne weiteres von den in städtischen Verhältnissen regelmässig
bestehenden öffentlichen Verkehrsmitteln Gebrauch machen kann. Bei
Fahrten in ländlichen Verhältnissen ist ein diskretes Vertauschen des
Turbans gegen den Schutzhelm und umgekehrt leichter möglich und die ihm
durch die Helmtragpflicht infolge des Gebots seiner Religionsgemeinschaft
verursachten Umtriebe daher zumutbar. Eine Beeinträchtigung der Glaubens-
und Gewissensfreiheit durch die Anwendung von Art. 3b Abs. 3 VRV gegenüber
dem Beschwerdeführer als Angehörigen der Sihks ist daher zu verneinen.

    Ob ein Eingriff in das Grundrecht der Glaubens- und
Gewissensfreiheit infolge eines überwiegenden öffentlichen Interesses
am Helmtragobligatorium, das der Verhütung schwerer Unfälle und der
daraus resultierenden hohen, auch die Allgemeinheit belastenden Kosten
dient, nicht jedenfalls auch verhältnismässig wäre, braucht unter diesen
Umständen nicht geprüft zu werden. Immerhin kann darauf verwiesen werden,
dass die Europäische Kommission für Menschenrechte in einem Entscheid vom
12. Juli 1978 erkannte, die Helmtragpflicht für Motorradfahrer sei eine
im Interesse der öffentlichen Sicherheit notwendige Massnahme, die gemäss
Art. 9 Abs. 2 EMRK einen Eingriff in die Religionsfreiheit rechtfertige;
daran ändere nichts, dass der betroffene Staat inzwischen eine Ausnahme
von dieser Verkehrsvorschrift zulasse (X. c/ROYAUME-UNI, DR 14, 234 f.).