Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IV 216



119 IV 216

40. Urteil des Kassationshofes vom 3. September 1993 i.S. Generalprokurator
des Kantons Bern gegen M. H. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 183 Ziff. 2 und Art. 184 Abs. 4 StGB; qualifizierte Entführung.

    Eine Entführung, die mehr als zehn Tage gedauert hat, erfüllt den
qualifizierten Tatbestand (E. 2d und e).

    Eine Entführung ist beendet, wenn das Opfer seine Freiheit wieder
erlangt hat, d.h. frühestens wenn das Herrschaftsverhältnis Täter-Opfer
beendet ist (E. 2f).

Sachverhalt

    A.- a) Nach mehrjähriger Ehedauer reichte die Gattin S. H. am
20. September 1990 eine Ehescheidungsklage ein. Eine Vereinbarung im
Eheschutzverfahren regelte die finanziellen Folgen, nicht aber die Obhut
über den im Mai 1984 geborenen gemeinsamen Sohn. Die Eheleute hatten
sich lediglich einigen können, die Obhut gemeinsam und nach Absprache
auszuüben. In der Folge kam eine Regelung zustande, wonach ein Ehegatte
die Obhut für jeweils fünfzehn Tage ausüben sollte.

    So befand sich das Kind bis zum 5. Dezember 1990 bei seinem Vater
M. H., der es anschliessend der Mutter zurückbrachte. Kurz darauf soll
er sich aber bei einer Auseinandersetzung derart erregt haben, dass sich
S. H. entschloss, ihm das Kind schon am 10. Dezember zurückzugeben, vor
Ablauf der ihr zustehenden Frist. Es sollte bei seinem Vater bleiben,
bis sich dieser wieder beruhigt haben würde.

    Am 13. Dezember 1990 reiste M. H. jedoch mit dem Kinde nach Paris zu
einer Tante und am 9. Januar 1991 nach Algerien. Seit diesem 13. Dezember
1990 hat S. H. keinen Kontakt mehr mit ihrem Sohn.

    b) S. H. erhob am 8. Februar 1991 Strafanzeige, worauf M. H. am
13. Februar 1991 in Bern verhaftet wurde.

    Am 19. Februar 1991 verfügte der die Ehescheidung instruierende
Richter, das Kind werde während der Dauer des Scheidungsverfahrens
unter die Obhut der Mutter gestellt. Dem Vater werde unter Androhung der
Straffolgen gemäss kantonaler ZPO (Busse bis zu Fr. 5'000.--, womit Haft
oder in schweren Fällen Gefängnis bis zu einem Jahr verbunden werden könne)
eine Frist von zehn Tagen angesetzt, der Ehefrau das Kind zu übergeben
bzw. dessen Aufenthaltsort bekanntzugeben. Diese Verfügung erwuchs in
Rechtskraft.

    S. H. verlangte am 12. März 1991 die Verurteilung von M. H. wegen
böswilliger Nichtvornahme der ihm mit der Verfügung vom 19. Februar 1991
auferlegten Pflichten.

    Das Zivilamtsgericht Bern übertrug am 19. Dezember 1991 S. H. die
elterliche Gewalt. Gegen das Urteil wurde die Appellation erhoben.

    B.- Am 24. Dezember 1991 erklärte das Strafamtsgericht Bern
M. H. schuldig der qualifizierten Entführung und des Entziehens von
Unmündigen, jeweils im Zeitraum vom 13. Dezember 1990 bis zum 24. Dezember
1991 in Bern und anderswo, sowie der Widerhandlung gegen die Verfügung
vom 19. Februar 1991, begangen vom 1. März bis 24. Dezember 1991 in Bern
und anderswo. Es bestrafte ihn mit drei Jahren Zuchthaus.

    Auf Appellation des Verurteilten erkannte das Obergericht auf
einfache Entführung und bestätigte im übrigen den Schuldspruch des
Strafamtsgerichtes. Es sprach eine Strafe von sechsundzwanzig Monaten
Gefängnis aus.

    C.- Der Generalprokurator des Kantons Bern führt Nichtigkeitsbeschwerde
und beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur
Neubeurteilung (Schuldigerklärung wegen qualifizierter Entführung und
entsprechende Strafzumessung) an das Obergericht zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Die Vorinstanz führt aus, eine Entführung sei nur dann
nach Art. 184 Abs. 4 StGB qualifiziert, wenn sie gleichzeitig eine
Freiheitsberaubung darstelle. Bei der Entführung werde im Gegensatz zur
Freiheitsberaubung die körperliche Bewegungsfreiheit nur beschränkt, nicht
aufgehoben. Die Veränderung des Aufenthaltsortes einer Person zu erzwingen,
sei noch nicht Freiheitsberaubung. Zudem ergebe sich e contrario aus
Ziff. 2 von Art. 183 StGB, dass die Tat gemäss Ziff. 1 gegen den Willen
des Opfers gerichtet sein müsse. Diese Voraussetzungen seien vorliegend
nicht erfüllt. Der Beschwerdegegner habe nämlich zu seinem Sohn ein
gutes Verhältnis gehabt und ihn zu Bekannten gebracht. Daher sei nicht
anzunehmen, dass er dessen Freiheit umfassend aufgehoben habe. Obwohl
die Entführung mehr als ein Jahr gedauert habe, könne er deshalb nur
gemäss Art. 183 StGB bestraft werden. Ausserdem sei bei der Annahme von
Qualifikationsgründen Zurückhaltung zu üben und bei der Auslegung von
Straftatbeständen der angedrohten Strafe Rechnung zu tragen.

    b) Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz verkenne
den Zusammenhang der Art. 183 und 184 StGB. Die Verbindung von
Feiheitsberaubung und Entführung im Tatbestand des Art. 183
StGB lasse diese zu verschiedenen Begehungsweisen einer Straftat
werden. Freiheitsberaubung und Entführung erschienen prinzipiell
gleichwertig. Daher sei die Lehre einhellig der Meinung, die Entführung
falle unter den Strafrahmen des Art. 184 StGB, sofern sie mehr als zehn
Tage gedauert habe. Es finde sich kein Hinweis, dass die Entführung nur
dann wegen der Dauer qualifiziert sein könne, wenn sie gleichzeitig eine
Freiheitsberaubung darstelle. Eine Entführung wie die vorliegende könne
eine Beziehung zwischen Mutter und Sohn während Jahren verunmöglichen. Ob
der Sohn die abgebrochene Beziehung je wieder anknüpfen könne, sei
fraglich. Das sei eine massive Beeinträchtigung der Freiheitsrechte
anderer. Die Vorinstanz habe Art. 184 StGB zu Unrecht nicht angewandt
und sei bei der Strafzumessung von falschen Voraussetzungen ausgegangen.

    c) Der Beschwerdegegner wendet ein, Entführung sei kein
Dauerdelikt. Denn die Entführung selbst könne nicht andauern, sondern
bloss die damit verbundene Freiheitsberaubung. Daher wirke allenfalls
die Dauer der Freiheitsberaubung qualifizierend, nicht aber die Dauer
des Entführungsvorganges.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 183 Ziff. 1 StGB wird wegen Freiheitsberaubung und
Entführung mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft,
wer jemanden unrechtmässig festnimmt oder gefangenhält oder jemandem in
anderer Weise unrechtmässig die Freiheit entzieht (Abs. 1) und wer jemanden
durch Gewalt, List oder Drohung entführt (Abs. 2). Ebenso wird bestraft,
wer jemanden entführt, der urteilsunfähig, widerstandsunfähig oder noch
nicht 16 Jahre alt ist (Ziff. 2).

    Gemäss Art. 184 Abs. 4 StGB werden Freiheitsberaubung und Entführung
mit Zuchthaus von 1-20 Jahren bestraft, wenn der Entzug der Freiheit mehr
als zehn Tage gedauert hat.

    b) Das Bundesgericht liess in BGE 118 IV 61 E. 2c offen, ob Art. 184
Abs. 4 StGB auch für die Entführung gilt. Es bezeichnete dies aber als
fraglich. Denn bei einer Entführung brauche weder eine Nötigung noch
eine Freiheitsberaubung vorzuliegen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes
("Entzug der Freiheit") sei wohl nur die eigentliche Freiheitsberaubung
(Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) qualifiziert, wenn sie länger als zehn
Tage gedauert habe. Es könne offenbleiben, ob ein Dauerdelikt vorliege,
wenn eigentliche Tathandlung der Entführung das Verbringen an einen
anderen Ort sei (vgl. auch BGE 106 IV 363 E. 5).

    c) Die Lehre vertritt die Ansicht, für die Entführung gelte der
Strafrahmen von Art. 184 StGB, wenn sie mehr als zehn Tage gedauert habe
(HANS-PETER EGLI, Freiheitsberaubung, Entführung und Geiselnahme nach
der StGB-Revision vom 9. Oktober 1981, Diss. Zürich 1986, S. 143;
NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, S. 78, 80;
REHBERG, Strafrecht III, 5. Auflage, S. 233 f.; SCHUBARTH, Kommentar zum
schweizerischen Strafrecht, Art. 184 N 1, 12 ff.; SCHULTZ, Gewaltdelikte,
Geiselnahmen und Revision des Strafgesetzbuches, ZBJV 115/1979 S. 445;
JEAN-MARC SCHWENTER, De quelques problèmes, réels ou imaginaires, posés par
les nouvelles dispositions réprimant les actes de violence, ZStR 100/1983
S. 289; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I,
4. Auflage, S. 119 N 46; TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch,
Art. 184 N 3).

    d) Anlass zur Revision der Art. 182-185 StGB bildeten die schweren
Mängel dieser Bestimmungen (SCHULTZ, aaO, ZBJV 115/1979 S. 444 f.; SCHULTZ,
Zur Revision des Strafgesetzbuches vom 9. Oktober 1981: Gewaltverbrechen,
ZStR 101/1984 S. 122; EGLI, aaO, S. 5 f.). Die Expertenkommission
schlug vor, die Strafandrohung für Freiheitsberaubung und Entführung
zu erhöhen sowie für beide Delikte erschwerende Umstände vorzusehen
(Botschaft über die Änderung des schweizerischen Strafgesetzbuches und des
Militärstrafgesetzes [Gewaltverbrechen] vom 10. Dezember 1979, BBl 1980 I
1247). Der Bundesrat nahm diesen Vorschlag auf und sah in Art. 184 StGB
für Entführung und Freiheitsberaubung dieselben erschwerenden Umstände
bzw. vier bestimmte Qualifikationsgründe vor. Für beide Delikte dieselben
Qualifikationsgründe vorzusehen, sei auch angezeigt, weil diese Taten
oft so ausgeführt würden, dass beide Straftatbestände verwirklicht seien
(aaO, S. 1258, 1259). Zum Qualifikationsgrund des Art. 184 Abs. 4 StGB
(in der Formulierung des Entwurfs: "wenn die Beschränkung der Freiheit
mehr als 10 Tage dauert") führt die Botschaft aus, dieser gelte, wenn die
Freiheitsberaubung mehr als zehn Tage gedauert habe (aaO, S. 1260). Die
Entführung erwähnt sie an dieser Stelle nicht ausdrücklich.

    Der Nationalrat stimmte dem Entwurf des Bundesrates auf Antrag seiner
Kommission und ohne Diskussion zu (Amtl.Bull. 1980 N 1647). Im Ständerat
erhielt der Gesetzestext den heutigen Wortlaut; er fasste die Art. 182
und 183 StGB zusammen, um Abgrenzungsschwierigkeiten und Konkurrenzfragen
zu vermeiden. Der Berichterstatter fügte an, mit der Zusammenfassung der
beiden Tatbestände Freiheitsberaubung und Entführung in einen einzigen
Tatbestand werde materiell keine Änderung gegenüber den Vorschlägen des
Bundesrates und des Nationalrates vorgenommen (BINDER, Amtl.Bull. 1981
S 280; vgl. SCHUBARTH, aaO, Art. 183 N 3; EGLI, aaO, S. 13). Auf Antrag
seiner Kommission beschloss der Ständerat, Art. 184 StGB so zu formulieren,
wie er Gesetz geworden ist (statt: "wenn die Beschränkung der Freiheit
...", "wenn der Entzug der Freiheit ..."). Der Nationalrat stimmte dem
diskussionslos zu.

    e) Zusammenfassend stützen die Materialien die Ansicht,
die Qualifizierung gemäss Art. 184 Abs. 4 StGB gelte auch für
die Entführung. Diese Lösung überzeugt. Die Zusammenfassung von
Freiheitsberaubung und Entführung in einen Tatbestand soll die oft
schwierige Abgrenzung sowie Konkurrenzfragen vermeiden. Art. 183 StGB
bedroht das unrechtmässige Verbringen einer Person an einen anderen Ort
und das unrechtmässige Festhalten des Opfers an einem Ort mit derselben
Strafe. Die beiden Delikte erscheinen als verschiedene Begehungsweisen
einer Straftat (SCHULTZ, aaO, ZStR 101/1984 S. 123; REHBERG, aaO,
S. 232). Freiheitsberaubung und Entführung sind prinzipiell gleichwertige
Eingriffe in die Freiheit (STRATENWERTH, S. 119 N 43). Daher sind
Abgrenzungsfragen nach neuem Recht nicht mehr bedeutsam (SCHUBARTH, aaO,
Art. 183 N 48). Die Auffassung, Art. 184 Abs. 4 StGB gelte nur für die
Freiheitsberaubung, ist deshalb abzulehnen. Auch der Gesichtspunkt der
angedrohten Strafe (BGE 116 IV 319 E. 3b; vgl. SCHUBARTH, Qualifizierter
Tatbestand und Strafzumessung in der neueren Rechtsprechung des
Bundesgerichts, BJM 1992 S. 57 ff.) spricht für die Anwendung der
Qualifikation, wenn die Entführung über zehn Tage gedauert hat.

    f) Zu prüfen bleibt der Einwand, die Entführung sei kein
Dauerdelikt. Wie dargestellt, geht das Gesetz davon aus, dass die Dauer
des Freiheitsentzuges bei der Entführung wie bei der Freiheitsberaubung
wesentlich sein kann (Art. 183 i.V.m. Art. 184 Abs. 4 StGB). Dauerdelikte
sind dadurch gekennzeichnet, dass die zeitliche Fortdauer eines
rechtswidrigen Zustandes oder Verhaltens noch tatbeständliches Unrecht
bildet. Die Vollendung tritt mit der erstmaligen Verwirklichung aller
Tatbestandsmerkmale ein, die Beendigung aber erst mit der Beseitigung
des rechtswidrigen Zustandes oder dem Abbruch des verbotenen Verhaltens
(STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, S.
275 N 10; REHBERG, Strafrecht I, 5. Auflage, S. 61). Die Entführung ist
vollendet, wenn der bisherige Aufenthaltsort verlassen und das Opfer
in die Herrschaft des Täters gelangt ist. Dieser rechtswidrige Zustand
dauert in der Regel an. Beendet ist das Delikt dann, wenn das Opfer seine
Freiheit wieder erlangt hat, d.h. frühestens wenn das Herrschaftsverhältnis
Täter-Opfer beendet ist. Die Entführung ist demnach in solchen Fällen ein
Dauerdelikt (EGLI, aaO, S. 124 ff.; REHBERG, aaO, S. 232; SCHUBARTH, aaO,
Art. 183 N 50; vgl. LACKNER, StGB, 20. Auflage, N 11 vor § 52 und § 239 N
8; a.A. - allerdings zum alten Recht - HAFTER, Schweizerisches Strafrecht,
Besonderer Teil I, S. 104).

    g) Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ist
die Entführung des Kindes nicht beendet. Sie hat mehr als zehn Tage
gedauert. Damit ist sie im Sinne des Art. 184 Abs. 4 StGB qualifiziert.

Erwägung 3

    3.- Die Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach gutzuheissen und der
angefochtene Entscheid aufzuheben. Die Vorinstanz wird auf der Grundlage
von Art. 184 Abs. 4 StGB die Strafzumessung neu vorzunehmen haben.