Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IV 120



119 IV 120

20. Urteil des Kassationshofes vom 19. August 1993 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich gegen R. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 13 StGB; psychiatrische Begutachtung eines angetrunkenen
Fahrzeuglenkers; Ausnahmen.

    Bestehen ernsthafte Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit eines
angetrunkenen Fahrzeuglenkers, so hat der Richter grundsätzlich
eine psychiatrische Begutachtung anzuordnen (E. 2a; Bestätigung der
Rechtsprechung). Eine solche kann jedoch unterbleiben, wenn nebst der
Blutalkoholkonzentration keine weiteren Indizien für die Beurteilung der
Zurechnungsfähigkeit vorhanden sind (E. 2b und c).

Sachverhalt

    A.- R. fuhr in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1989, nachdem
er mit einem Kollegen mehrere Gaststätten besucht hatte, mit einer
Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,39 Promille am Steuer seines
Autos nach Hause. Unterwegs unterbrach er seine Fahrt und schlief im
Fahrzeug ein, nachdem er den Zündungsschlüssel ins Handschuhfach gelegt
hatte.

    R., geboren am 30. August 1962, war in den Jahren 1981 und 1983
bereits wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand verurteilt worden.

    B.- Das Bezirksgericht Horgen verurteilte R. wegen Fahrens in
angetrunkenem Zustand zu zwei Monaten Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug
(Probezeit fünf Jahre).

    Auf Berufung der Staatsanwaltschaft verweigerte das Obergericht des
Kantons Zürich am 22. November 1990 den bedingten Strafvollzug.

    C.- Am 1. Juni 1992 hiess das Bundesgericht eine Nichtigkeitsbeschwerde
von R. gut und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurück. Die Vorinstanz äussere sich zur Frage der Zurechnungsfähigkeit von
R. nicht; bei einem Blutalkoholgehalt von mindestens 2,39 Promille stelle
sich die Frage der Verminderung der Zurechnungsfähigkeit, insbesondere
wenn in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen werden müsste, dass
der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Alkoholgenusses nicht damit habe
rechnen müssen, später Auto zu fahren. Allenfalls sei das Mass der
Zurechnungsfähigkeit auch für die Frage des bedingten Strafvollzugs
von Bedeutung.

    D.- Das Obergericht verurteilte R. am 3. Dezember 1992 erneut zu
zwei Monaten Gefängnis, gewährte ihm aber den bedingten Strafvollzug
bei einer Probezeit von vier Jahren. Die beiden früheren Vortaten habe
er im Alter von ungefähr 20 Jahren begangen, als er Schwierigkeiten
persönlicher Natur und mit den Eltern gehabt habe; inzwischen habe er sich
aufgefangen, weshalb die damaligen Tatumstände einem heute abgeschlossenen
Lebensabschnitt entsprächen. Der Führerausweisentzug von sechs Monaten
habe den Angeklagten hart getroffen. Zudem habe er sich erst im Zustand
erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit entschlossen, mit seinem
Auto nach Hause zu fahren, nachdem er vorher zureichende Vorkehren zur
Verhinderung einer Fahrt in alkoholisiertem Zustand getroffen gehabt habe.

    E.- Die Staatsanwaltschaft erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts wegen Verletzung von Art. 13
StGB aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin hatte im Rückweisungsverfahren
die Einholung eines Gutachtens zur Frage der Zurechnungsfähigkeit
beantragt. Die Vorinstanz bemerkte dazu, der Beschwerdegegner habe sich
mit mindestens 2,39 Gewichtspromille in einem ausgeprägten bis schweren
Rauschzustand befunden. Es könne ohne weiteres eine erheblich verminderte
Zurechnungsfähigkeit angenommen werden. Die Einholung eines Gutachtens sei
müssig, könnte doch die Frage der Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
und insbesondere der Grad einer allfälligen Verminderung heute im konkreten
Fall auch in einem solchen Gutachten nicht geklärt werden, weshalb ohnehin
auf gewisse Erfahrungswerte abgestellt werden müsste.

    Dagegen wendet die Beschwerdeführerin ein, es gehe nicht an, dass zum
vornherein für bestimmte Alkoholwerte jeweils eine bestimmte Verminderung
der Zurechnungsfähigkeit angenommen werde. Auch bei einem Blutalkoholgehalt
von über zwei Gewichtspromille sei volle Zurechnungsfähigkeit nicht
auszuschliessen. Die Frage der Zurechnungsfähigkeit könne nur durch
spezialärztliche Expertise individuell bestimmt werden. Die Einholung eines
Gutachtens sei vorliegend auch deshalb angezeigt, weil der Beschwerdegegner
nach den Aussagen des Zeugen M., der den ganzen Abend mit ihm verbracht
und ihn unmittelbar vor der fraglichen Fahrt gesprochen habe, nur
"angeheitert" gewesen sei. Die Angaben dieses Zeugen seien jedenfalls
vom Experten zu berücksichtigen. Die Vorinstanz habe auf den geistigen
Zustand des Beschwerdegegners keinen näheren Bezug genommen.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 13 Abs. 1 StGB ist eine Untersuchung des Beschuldigten
anzuordnen, wenn Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit bestehen.
Der Richter soll also seine Zweifel nicht selber beseitigen, etwa durch
Zuhilfenahme psychiatrischer Fachliteratur, sondern, wie sich aus Abs. 2
von Art. 13 StGB ergibt, durch Beizug von Sachverständigen. Art. 13
StGB gilt nicht nur, wenn der Richter tatsächlich Zweifel an der
Zurechnungsfähigkeit hegt, sondern auch, wenn er nach den Umständen des
Falles Zweifel haben sollte. Es fragt sich, welche Umstände gegeben
sein müssen, um anzunehmen, der Richter müsse derartige ernsthafte
Zweifel haben. Das Bundesgericht hat dies beispielsweise angenommen bei
Drogenabhängigkeit, bei einer Frau, die mit ihrer schizophrenen Tochter
zusammenlebte oder bei einem Sexualdelinquenten mit möglicherweise abnorm
starkem Geschlechtstrieb (BGE 116 IV 273 f. mit Hinweisen). Art. 13 StGB
verlangt auch eine Begutachtung des Grades der Herabsetzung (BGE 106 IV
242 E. b).

    b) Es trifft zwar zu, dass dem Blutalkoholgehalt auch beim Fahren
in angetrunkenem Zustand nicht alleinige Bedeutung zukommt. So wird im
medizinischen Schrifttum die Auffassung vertreten, dass dieser Wert bei
der Schuldfähigkeitsbeurteilung lediglich eine grobe Orientierungshilfe
sei. Doch häufig seien neben der Blutalkoholkonzentration weitere für
die subjektive Befindlichkeit des Täters zur Zeit der Tat indizielle
Umstände nicht mehr feststellbar und, soweit solche vorhanden sind,
sei fraglich, wieweit sie mangels allgemein anerkannter Erfahrungssätze
berücksichtigt werden könnten. Deshalb werde letztlich doch, auch wenn
keine gesetzmässige lineare Beziehung zwischen der Blutalkoholkonzentration
und der Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit bestehe, diesem Wert
massgebliche Bedeutung zugemessen (vgl. SCHÖNKE/SCHRÖDER/LENCKNER,
Kommentar 24.A., § 20 N. 16a mit Hinweisen).

    Die deutsche Rechtsprechung und Lehre nimmt an, bei einer
Blutalkoholkonzentration ab drei Promille sei Schuldunfähigkeit selbst
bei einem trinkgewohnten Menschen nicht auszuschliessen. Für den
Bereich zwischen zwei und drei Promille geht sie im Regelfall von einer
Verminderung der Zurechnungsfähigkeit aus (SCHÖNKE/SCHRÖDER/LENCKNER, aaO,;
HENTSCHEL/BORN, Trunkenheit im Strassenverkehr, 6. Auflage, N. 257 ff.
und 264). Wenn für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit nicht weitere
Indizien zur Verfügung stehen, wird also der Gutachter nicht anders als
der Richter beweismässig ausschliesslich oder doch hauptsächlich auf die
Blutalkoholkonzentration abstellen müssen. In solchen Fällen erübrigt
sich die Einholung eines Gutachtens. Dies ändert jedoch nichts an der
grundsätzlichen Pflicht, dass in Zweifelsfällen ein psychiatrisches
Gutachten einzuholen ist (E. a).

    c) Der Beschwerdegegner wies im Zeitpunkt der Tat eine
Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,39 und maximal 3,0 Promille auf;
actio libera in causa wurde von der Vorinstanz verneint. Da im Fall des
Beschwerdegegners keine Auffälligkeiten ersichtlich sind und ein Gutachter
somit nicht mehr Klarheit schaffen könnte, bestehen unter den gegebenen
Umständen keine Zweifel an der von der Vorinstanz angenommenen erheblichen
Verminderung der Zurechnungsfähigkeit. Daran ändert auch das Vorbringen der
Beschwerdeführerin nichts, ein Zeuge habe den Täter bloss für "angeheitert"
gehalten. Eine Verletzung von Art. 13 StGB ist somit zu verneinen.

    d) In BGE 106 IV 242 E. b wurde angenommen, auf eine
Nichtigkeitsbeschwerde des Beschuldigten sei nicht einzutreten, wenn ihm
auch ohne Begutachtung mindestens die von ihm behauptete Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit zugebilligt wurde und nicht ernsthaft mit einer noch
höheren Herabsetzung zu rechnen sei. Denn in einer solchen Situation sei
der Beschuldigte nicht beschwert, wenn kein Gutachten eingeholt worden
sei. Da zudem seitens der Anklage keine Beschwerde erhoben worden sei,
stehe einer allfälligen Schlechterstellung das Verbot der reformatio in
peius entgegen.

    Angesichts der besonderen prozessualen Situation darf aus diesem
Entscheid nicht geschlossen werden, der Richter könne generell
ohne psychiatrisches Gutachten verminderte Zurechnungsfähigkeit
annehmen. Entsprechend sind auch die Ausführungen in BGE 117 IV 297 oben,
auf welche sich die Vorinstanz bezieht, klarzustellen.