Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IV 107



119 IV 107

18. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. März
1993 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 84 OG, Art. 269 BStP; Verletzung
des Beschleunigungsgebots im Strafverfahren; staatsrechtliche Beschwerde
oder Nichtigkeitsbeschwerde?

    Die Frage, ob das Beschleunigungsgebot verletzt wurde, betrifft eine
mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügende unmittelbare Verletzung
der Bundesverfassung bzw. der EMRK. Die Frage, welche Folgen eine
Verletzung des Beschleunigungsgebots für die Auslegung und Anwendung
eidgenössischen Strafrechts hat, betrifft demgegenüber die verfassungs-
bzw. konventionskonforme Auslegung und Anwendung von Bundesrecht und
ist mit Nichtigkeitsbeschwerde aufzuwerfen.

Sachverhalt

    A.- Das Bezirksgericht Zofingen sprach S. am 19. Januar 1989 des
Rechtsüberholens auf der Autobahn und der Behinderung des Verkehrs gemäss
Art. 35 Abs. 1 bis 3, Art. 44 Abs. 1 SVG und Art. 36 Abs. 5 VRV sowie
des Einhaltens eines ungenügenden Abstandes gemäss Art. 34 Abs. 3 und 4
SVG schuldig und verurteilte ihn in Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 SVG zu
einer Busse von Fr. 350.--. Das Obergericht des Kantons Aargau wies eine
gegen dieses Urteil eingereichte Berufung am 20. April 1989 ab.

    Eine dagegen geführte eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde hiess
das Bundesgericht mit Entscheid vom 15. November 1989 gut, hob das Urteil
des Obergerichts des Kantons Aargau vom 20. April 1989 auf und wies die
Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück.

    Das Obergericht des Kantons Aargau sprach S. am 11. Januar 1990
wiederum der groben Verletzung von Verkehrsregeln unter Anwendung
anderer Bestimmungen des SVG schuldig und bestätigte die in seinem
ersten Urteil ausgesprochene Busse. Gegen diesen und den nachfolgenden
gleichlautenden Entscheid des Obergerichts vom 6. Dezember 1990 erhob
S. zwei staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör, welche das Bundesgericht mit Urteilen vom 29. Juni
1990 und 22. Oktober 1991 guthiess.

    Mit Urteil vom 19. August 1992 erklärte das Obergericht des Kantons
Aargau S. der groben Widerhandlung gegen das SVG begangen durch
Rechtsüberholen auf der Autobahn und Behinderung des Verkehrs gemäss
Art. 35 Abs. 1 bis 3 SVG und des Fahrens mit ungenügendem Abstand gemäss
Art. 34 Abs. 4 SVG schuldig und bestätigte die Busse von Fr. 350.--. Von
der Verletzung von Art. 34 Abs. 3 und 44 Abs. 1 SVG sowie Art. 36 Abs. 5
VRV sprach es ihn frei.

    Gegen dieses Urteil führt S. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde,
mit der er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die
Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Obergericht des Kantons Aargau hat auf Gegenbemerkungen, die
Staatsanwaltschaft auf Vernehmlassung verzichtet. Eine in derselben Sache
eingereichte staatsrechtliche Beschwerde wies der Kassationshof ab.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots
gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Er macht geltend, eine blosse Reduktion der
Busse oder auch ein gänzlicher Verzicht auf Bestrafung würde in seinem
Fall der Verletzung des Beschleunigungsgebots ganz offensichtlich zu wenig
Rechnung tragen. Als angemessene Sanktion komme daher nur die Einstellung
des Verfahrens in Frage. Die Vorinstanz habe daher Bundesrecht (Art. 35
Abs. 1 - 3, Art. 34 Abs. 4 und Art. 90 Ziff. 2 SVG oder Art. 63 StGB)
verletzt, indem sie das Strafverfahren nicht eingestellt habe.

    a) Die Rüge der unmittelbaren Verletzung der EMRK oder der
Bundesverfassung ist mit staatsrechtlicher Beschwerde vorzubringen. Mit
der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde können lediglich Rügen einer
mittelbaren Verletzung der Bundesverfassung oder der EMRK, d.h. einer nicht
verfassungs- bzw. nicht konventionskonformen Auslegung und Anwendung von
Bundesrecht, erhoben werden (BGE 116 IV 388 E. 1, 114 Ia 377, 114 IV 26
E. 4, je mit Hinweisen).

    b) Die Frage, ob das Rechtsverzögerungsverbot oder Beschleunigungsgebot
gemäss Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt wurde, betrifft
die unmittelbare Verletzung der Bundesverfassung bzw. der EMRK.
Die entsprechenden Rügen sind daher mit der staatsrechtlichen Beschwerde
vorzubringen.

    Demgegenüber betrifft die Frage, welche Folgen eine Verletzung des
Beschleunigungsgebots für die Auslegung und Anwendung eidgenössischen
Strafrechts hat, die mittelbare Verletzung von Art. 4 BV und Art. 6
Ziff. 1 EMRK. Wird eine derartige Verletzung festgestellt und der
Verfahrensverzögerung im Rahmen der Strafzumessung Rechnung getragen oder
dadurch, dass der Täter zwar schuldig gesprochen, aber von Strafe Umgang
genommen oder das Verfahren gar eingestellt wird (vgl. BGE 117 IV 129
E. d), handelt es sich um eine verfassungs- und EMRK-konforme Auslegung
und Anwendung des in Frage stehenden Bundesstrafrechts. Die Frage, ob eine
kantonale Instanz eine bundesrechtliche Strafbestimmung zu Recht nicht
angewendet hat, weil die Verurteilung mit der EMRK nicht zu vereinbaren
wäre, kann daher mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde aufgeworfen
werden (BGE 117 IV 125, 114 IV 119 E. bb). Dasselbe gilt im umgekehrten
Fall, wenn der Beschwerdeführer geltend macht, das Bundesrecht sei nicht
verfassungs- bzw. konventionsgemäss ausgelegt und angewendet worden.

    c) Soweit der Beschwerdeführer einwendet, die Vorinstanz habe eine
Verletzung des Beschleunigungsgebots gemäss Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 1
EMRK zu Unrecht verneint, ist danach auf die Nichtigkeitsbeschwerde
nicht einzutreten.

    Zu prüfen ist indes, ob die Verfahrensdauer von viereinhalb
Jahren besondere Sanktionen nach sich ziehen muss (vgl. dazu BGE 117 IV
129). Dies ist für den zu beurteilenden Fall zu verneinen. Zwar erscheint
die Verfahrensdauer für eine grobe Verletzung von Verkehrsregeln,
die keine besonderen Beweiserhebungen wie Expertisen erforderte und
eine Busse von Fr. 350.-- zur Folge hatte, als überdurchschnittlich
lang. Es ist jedoch zu beachten, dass sie für den Beschwerdeführer zu
keiner besonderen Belastung geführt hat. Insbesondere ist er keinen
Beschränkungen infolge strafprozessualer Massnahmen zur Sicherung
des Verfahrens unterworfen worden und hat keine Beeinträchtigung des
sozialen Ansehens oder wirtschaftliche Nachteile erlitten. Im übrigen
stand auch kein gravierender Schuldvorwurf in Frage, der eine besondere
Belastung hätte herbeiführen können. Die Ungewissheit, ob er wegen einer
Verkehrsregelverletzung zu einer nicht hohen Busse verurteilt werden
würde, wog nicht schwer. In diesem Zusammenhang ist auch der Umstand zu
würdigen, dass der Beschwerdeführer sämtliche Beschwerdemöglichkeiten
ausgeschöpft hat. Zwar hat ihm die Vorinstanz daraus zu Recht keinen
Vorwurf gemacht, zumal er mit seinen Rechtsmitteln jeweils im wesentlichen
durchdrang. Dennoch kann nicht völlig ausser acht gelassen werden, dass
dieses Vorgehen geeignet war, das Verfahren zu verlängern (Entscheid
der EMRK vom 1. Juli 1992 i.S. Schertenleib, VPB 1992 Nr. 54; HAEFLIGER,
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, S. 163).

    Deshalb hat die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, wenn sie die
lange Verfahrensdauer nicht strafmildernd berücksichtigt oder ihr auf
andere Weise Rechnung getragen hat.