Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 II 86



119 II 86

19. Urteil der I. Zivilabteilung vom 5. Januar 1993 i.S. B. Corp. gegen
N. AG (Berufung) Regeste

    Art. 35 OG. Wiederherstellung einer Frist.

    Ende der unverschuldeten Verhinderung und Beginn der zehntägigen
Wiederherstellungsfrist, sobald der Anwalt in die Lage kommt, entweder die
versäumte Prozesshandlung selbst nachzuholen oder damit einen geeigneten
Substituten zu beauftragen oder aber den Klienten auf die Notwendigkeit
der Fristeinhaltung aufmerksam zu machen.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Mit Beschluss vom 5. August 1992 wies das Obergericht des
Kantons Zürich (II. Zivilkammer) einen Rekurs ab, den die B. Corp. als
Mieterin gegen eine auf Begehren der Vermieterin, der N. AG, ergangene
Ausweisungsverfügung erhoben hatte. Der Rekursentscheid wurde dem Anwalt
der B. Corp. am 7. August 1992 eröffnet.

    Am 14. September 1992 teilte der Anwalt dem Bundesgericht mit,
er sei infolge einer notfallmässigen Hospitalisierung an der Wahrung
der an diesem Tage (gemäss BGE 79 I 245 Nr. 44 am 15. September)
ablaufenden Berufungsfrist verhindert und behalte sich deshalb ein
Wiederherstellungsgesuch nach Art. 35 OG vor. Dieses reichte er namens
der B. Corp. am 15. Oktober 1992 zusammen mit einer Berufung auch ein und
führte unter Verweis auf zwei ärztliche Zeugnisse aus, er sei wegen einer
schweren Blutvergiftung in der Zeit vom 12. bis zum 17. September 1992
hospitalisiert und anschliessend bis zum 5. Oktober 1992 vollumfänglich
arbeitsunfähig gewesen. Die N. AG beantragt, die Wiederherstellung
zu verweigern und auf die Berufung zufolge Fristversäumnisses nicht
einzutreten, eventuell sie abzuweisen.

Erwägung 2

    2.- Auf die anerkanntermassen erst nach Ablauf der peremptorischen
Frist von Art. 54 Abs. 1 OG eingereichte Berufung kann das Bundesgericht
nur eintreten, wenn die Voraussetzungen der Wiederherstellung gegeben
sind und das Gesuch ausserdem rechtzeitig ist.

    a) Die Wiederherstellung gegen die Folgen der Fristversäumung
setzt voraus, dass der Gesuchsteller oder sein Vertreter durch ein
unverschuldetes Hindernis abgehalten worden ist, innert der Frist zu
handeln, und binnen zehn Tagen nach Wegfall des Hindernisses unter Angabe
desselben die Wiederherstellung verlangt und die versäumte Rechtshandlung
nachholt (Art. 35 Abs. 1 OG).

    Krankheit kann nach der Rechtsprechung ein unverschuldetes Hindernis
sein, sofern sie derart ist, dass sie den Rechtsuchenden oder seinen
Vertreter davon abhält, innert der Frist zu handeln oder dafür einen
Vertreter beizuziehen. Demzufolge dauert das Hindernis nur solange an, als
der Betroffene wegen seiner körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung
weder selbst die Rechtshandlung vornehmen noch einen Dritten beauftragen
kann, wobei im zweiten Fall erforderlich ist, dass der Betroffene trotz
seiner Beeinträchtigung die Notwendigkeit einer Vertretung überhaupt
wahrnehmen kann. Sobald es für den Betroffenen objektiv und subjektiv
zumutbar wird, entweder selbst tätig zu werden oder die Interessenwahrung
an einen Dritten zu übertragen, hört das Hindernis auf, im Sinne von
Art. 35 Abs. 1 OG unverschuldet zu sein (zum gesamten BGE 112 V 255 f.).

    Für die Frage des unverschuldeten Hindernisses macht es grundsätzlich
keinen Unterschied, ob die Verhinderung den Anwalt oder seinen Klienten
trifft, hat sich doch der Anwalt so zu organisieren, dass die Fristen
im Falle seiner Verhinderung trotzdem gewahrt bleiben (BGE 99 II 352
E. 4). Das geschieht durch umgehende Bestellung eines Substituten
oder bei fehlender Substitutionsvollmacht dadurch, dass der Klient
sogleich veranlasst wird, selbst zu handeln oder einen anderen Anwalt
aufzusuchen (LEUCH, N. 5 zu Art. 288 ZPO/BE; vgl. auch die in JdT
1988 IV 153 ff. publizierte E. 2 von BGE 114 Ib 56). Daher endet die
unverschuldete Verhinderung des Anwalts und beginnt die zehntägige
Wiederherstellungsfrist zu laufen, sobald der Anwalt in die Lage kommt,
entweder die versäumte Prozesshandlung selbst nachzuholen oder damit
einen geeigneten Substituten zu beauftragen oder aber den Klienten auf
die Notwendigkeit der Fristeinhaltung aufmerksam zu machen. In diesem
einschränkenden Sinne ist auch BGE 51 II 450 zu verstehen, wo einem infolge
schwerer Lungenentzündung gänzlich arbeitsunfähigen Anwalt die binnen zehn
Tagen nach erfolgter Genesung verlangte Wiedereinsetzung gewährt wurde.

    b) Die Wiederherstellung beurteilt sich nach Massgabe der
Gesuchsbegründung (BGE 92 I 216 E. 2b; POUDRET, COJ, N. 3.2 zu Art. 35
OG). Aus ihr geht in Verbindung mit dem Zeugnis des Regionalspitals
Horgen hervor, dass der Anwalt der Gesuchstellerin wegen einer schweren
Blutvergiftung vom 12. bis zum 17. September 1992 hospitalisiert werden
musste. Damit ist zwar belegt, dass eine unverschuldete Verhinderung
bestanden hat (POUDRET, COJ, N. 3.4 zu Art. 35 OG). Für die Frage
der Rechtzeitigkeit des Gesuchs ist indessen entscheidend, dass der
Anwalt bereits am 14. September 1992 und damit noch während seines
Spitalaufenthalts in der Lage war, das Bundesgericht von seiner
Erkrankung schriftlich zu benachrichtigen. Dass er während seiner
an den Spitalaufenthalt anschliessenden und bis zum 5. Oktober 1992
dauernden gänzlichen Arbeitsunfähigkeit ausserstande gewesen wäre, sei
es die Berufung selbst zu verfassen, sei es in Übereinstimmung mit der
Vollmacht einen Substituten beizuziehen oder wenigstens seine - nicht
verhinderte - Klientin auf die ihr obliegende Pflicht zur Wahrung der
Berufungsfrist (BIRCHMEIER, N. 2 zu Art. 35 OG) aufmerksam zu machen,
wird im Gesuch nicht einmal behauptet und ist auch nicht durch das
Arztzeugnis belegt, das bloss Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Fehlt es
aber am Nachweis, dass der Zustand des Anwalts bis zum 5. Oktober 1992
sogar die wenig arbeitsintensive Bestellung eines Vertreters oder die
blosse Benachrichtigung der Klientschaft ausgeschlossen hätte, kann
bis zu diesem Datum kein unverschuldetes Hindernis im Sinne von Art. 35
Abs. 1 OG fortbestanden haben. Das erst am 15. Oktober 1992 gestellte
Wiederherstellungsgesuch ist daher verspätet. Das hat zur Folge, dass
auf die gleichzeitig eingereichte Berufung nicht einzutreten ist.