Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 II 478



119 II 478

96. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. Dezember 1993
i.S. X. gegen Y. (Berufung) Regeste

    Art. 51 Abs. 1 lit. c OG; Anforderungen an den Entscheid der kantonalen
Behörde.

    Der Verweis eines kantonalen Appellationsgerichts auf den Entscheid der
ersten Instanz ohne eigene Motive verstösst gegen Art. 51 Abs. 1 lit. c OG,
wenn sich die Sachverhaltsfeststellung als falsch oder ungenügend erwiesen
und das Berufungsgericht deshalb neue Beweismittel zugelassen hat. Dieses
muss sich in einem solchen Fall mit dem Beweisergebnis auseinandersetzen
und seine tatsächlichen Annahmen begründen.

Sachverhalt

    A.- Am 16. März 1993 kündigte Y. das im Juli 1982 mit X. zu Wohnzwecken
auf zehn Jahre fest abgeschlossene Mietverhältnis über ein Einfamilienhaus
in Z. auf den 30. Juni 1993. Der Mieter ersuchte daraufhin die zuständige
Schlichtungsstelle für Mietangelegenheiten um Bewilligung eines Aufschubes
bis 31. März 1994. Er machte geltend, das Einfamilienhaus diene ihm
nicht nur als Wohnung, sondern auch als Maleratelier sowie als Werkstatt
und Lager für sein Montageunternehmen. Demgegenüber berief sich die
Vermieterin auf Eigenbedarf für ihre schwangere Tochter und kritisierte
die weitergehende Nutzung des Mietobjekts durch X.

    B.- Die Schlichtungsbehörde gewährte dem Mieter am 29. April 1993 eine
einmalige Fristerstreckung bis 31. Dezember 1993. Mit Urteil vom 24. Juni
1993 hob der Bezirksgerichtspräsident diesen Entscheid auf und wies das
Begehren um Mieterstreckung ab. Auf Appellation von X. hin bestätigte
das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft am 14. September 1993 das
erstinstanzliche Urteil.

    C.- X. führt Berufung an das Bundesgericht mit dem Rechtsbegehren,
der Entscheid des Obergerichts aufzuheben und das zwischen den Parteien
bestehende Mietverhältnis bis 31. März 1994 zu erstrecken; eventuell sei
die Sache an das Obergericht zurückzuweisen.

    Y. schliesst auf Abweisung der Berufung, soweit darauf einzutreten
sei; eventuell sei festzustellen, dass das Mietverhältnis per 31. Dezember
1993 endgültig ende.

    Das Bundesgericht weist die Streitsache gemäss Art. 52 OG zu neuer
Beurteilung an das Obergericht zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Bezirksgerichtspräsident erwog, die vom Mieter geltend
gemachten Interessen vermöchten schwerlich einen Härtefall zu
begründen. Deshalb müsse das Erstreckungsgesuch abgewiesen werden. Würde
auch eine gewisse Härte angenommen, könnte die Mieterstreckung trotzdem
nicht gewährt werden, weil der Eigenbedarf der Vermieterin bzw. ihrer
schwangeren Tochter vorgehe.

    a) In Anwendung von Art. 274d Abs. 3 OR nahm das Obergericht mehrere
vom Beklagten erst im Appellationsverfahren angerufene Beweismittel
entgegen und befragte den Mieter nochmals eingehend. Anschliessend
bestätigte es das Urteil seiner Vorinstanz mit der Begründung, auch bei
Berücksichtigung der vorgelegten Beweise falle die Interessenabwägung
zugunsten der Vermieterin aus. Auf eine schriftliche Motivierung
könne verzichtet werden, da das Obergericht gemäss neuerer Praxis bei
vollumfänglicher Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils ohne neue
Motive generell auf die schriftliche Begründung des bezirksgerichtlichen
Entscheids sowie auf die mündliche Begründung des Obergerichts verweise.

    b) Der Beklagte rügt vorab eine Verletzung von Art. 51 Abs. 1
lit. c OG. Er habe in seiner Eingabe an das Obergericht dargetan,
dass die Sachverhaltsdarstellung des Bezirksgerichtspräsidenten unter
Verletzung von wesentlichen Verfahrensvorschriften zustande gekommen
sei. Das Obergericht habe seine Rüge anerkannt und befunden, der Mangel
werde durch das obergerichtliche Verfahren geheilt, weil die Beweise des
Mieters nachträglich entgegengenommen würden. Das Obergericht habe es
jedoch unterlassen, sich zum Ergebnis des Beweisverfahrens zu äussern. Es
lasse sich nicht nachvollziehen, wie das Obergericht zum Schluss gelangt
sei, die Interessenabwägung falle zugunsten der Klägerin aus, und welche
Umstände es dabei als massgeblich angesehen habe.

    c) Gemäss Art. 51 Abs. 1 lit. c OG hat die kantonale Behörde
das Ergebnis der Beweisführung im Entscheid festzustellen. Ob diese
Voraussetzung erfüllt ist, prüft das Bundesgericht von Amtes wegen,
und zwar vor der Eintretensfrage (POUDRET, COJ II, N. 1 zu Art. 51 OG,
S. 361). Wird in der Berufung selbst ein Vorgehen nach Art. 51 f. OG
beantragt, so muss dargetan werden, dass der Mangel den Sachentscheid
beeinflusst hat (MESSMER/IMBODEN, Ziff. 125 Fn. 29 in Verbindung mit
Ziff. 114 Fn. 25). Diese Bedingung erfüllt der Beklagte, indem er
gleichzeitig eine Verletzung von Art. 274d Abs. 3 OR geltend macht und
im übrigen ausführlich dartut, inwiefern die Interessenabwägung gemäss
Art. 272 OR bei Berücksichtigung sämtlicher Tatsachen zu seinen Gunsten
auszufallen habe.

    Die Bestimmung von Art. 51 Abs. 1 lit. c OG rechtfertigt sich in
zweifacher Hinsicht. Einerseits haben die Parteien im Hinblick auf
den Entscheid über die Einlegung einer Berufung Anspruch darauf, alle
tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen des kantonalen Richters zur
Kenntnis nehmen zu können. Anderseits ergibt sich die Notwendigkeit einer
vollständigen Sachverhaltsfeststellung aus der Vorschrift von Art. 63
Abs. 2 OG, welche das Bundesgericht an die tatsächlichen Feststellungen
bindet. Letztere müssen ausreichend vollständig und detailliert sein,
damit die Überprüfung der Rechtsanwendung möglich ist (POUDRET, COJ II,
N. 4 zu Art. 51 OG, S. 365).

    d) Das Obergericht verweist ohne neue Motive auf die schriftliche
Begründung des vorinstanzlichen Präsidialentscheides. Dieses Vorgehen ist
grundsätzlich zulässig. Es bedingt lediglich, dass das erstinstanzliche
Urteil den Anforderungen von Art. 51 OG genügt (POUDRET, COJ II, N. 1
zu Art. 51, S. 361). Der Beklagte wirft dem Bezirksgerichtspräsidenten
zu Recht keine Verletzung von bundesrechtlichen Verfahrensvorschriften
vor. Hingegen macht er geltend, das Obergericht habe seinen Einwand,
die erstinstanzliche Sachverhaltsfeststellung sei unrichtig und
unvollständig, geschützt. Es habe die im Appellationsverfahren ins Recht
gelegten Beweismittel entgegengenommen. Es habe sich dazu aber nicht
geäussert. Die unvollständigen Erwägungen des angefochtenen Urteils
liessen keinen Schluss darüber zu, ob das Obergericht den vom Beklagten
behaupteten Sachverhalt als erstellt erachtete, der Mieter habe sich
bisher um Ersatzobjekte bemüht, er habe auf Frühjahr 1994 zwei Objekte
angeboten erhalten, und das Objekt der Tochter der Vermieterin sei eine
Dreizimmerwohnung mit mehr als 80 m2 Grundfläche an ruhiger Wohnlage.

    Der Einwand des Beklagten trifft zu. Der Bezirksgerichtspräsident hatte
mehrere Einwände des Mieters mangels Beweisen abgewiesen und festgehalten,
für gewichtige persönliche oder familiäre Interessen des Beklagten an
einer Mieterstreckung seien keine Anhaltspunkte gegeben. Das Obergericht
hatte aufgrund der von ihm abgenommenen Beweise von einem erheblich
geänderten Sachverhalt auszugehen. Seinem Entscheid kann aber nicht
entnommen werden, inwieweit es diesen Neuerungen Rechnung getragen hat. Es
führt zwar aus, auch bei Berücksichtigung der vorgelegten Beweismittel
falle die Interessenabwägung zugunsten der Vermieterin aus. Aus dem
angefochtenen Urteil geht aber nicht hervor, inwieweit die rechtliche
Interessenabwägung den ergänzten Sachverhalt berücksichtigt. Wenn
ein kantonales Berufungsgericht schon Beweise abnimmt, dann muss es
sich zu diesen auch äussern. Der kantonale Richter hat sich mit dem
Beweisergebnis auseinanderzusetzen und seine tatsächlichen Annahmen zu
begründen (vgl. dazu MESSMER/IMBODEN, Ziff. 125 Fn. 37).

    e) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der blosse Verweis eines
kantonalen Appellationsgerichts auf den erstinstanzlichen Entscheid,
und damit der Verzicht auf eigene Motive, gegen Art. 51 Abs. 1 lit. c OG
verstösst, wenn sich die erstinstanzliche Sachverhaltsdarstellung als
falsch oder ungenügend erweist und das Berufungsgericht deshalb neue
Beweismittel zulässt.