Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 II 323



119 II 323

63. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. Juli 1993
i.S. B.-S. gegen. B.-F. und Geschwister (Berufung) Regeste

    Zuweisung der ehelichen Wohnung bzw. des Hauses an den überlebenden
Ehegatten (Art. 612a ZGB).

    Art. 612a ZGB, der dem überlebenden Ehegatten das Recht einräumt, das
Eigentum an der ehelichen Wohnung bzw. am ehelichen Haus auf Anrechnung
zu verlangen, ist dispositiver Natur. Ein Ehegatte kann daher dem andern
durch letztwillige Verfügung anstelle des Eigentums ein Wohnrecht bzw. die
Nutzniessung einräumen (E. 5).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- Die Beklagte hält dafür, Art. 612a ZGB stelle eine zwingende
Norm dar, die der Erblasser nicht ohne ihre Zustimmung habe umgehen
können. Von der Lehre wird mehrheitlich der dispositive Charakter der
vorgenannten Gesetzesbestimmung bejaht und angenommen, das Vorrecht des
überlebenden Ehegatten auf die Zuweisung des Eigentums an der ehelichen
Wohnung oder am Haus werde namentlich ausgeschlossen, wenn der Erblasser
durch letztwillige Verfügung ein Wohnrecht oder die Nutzniessung zuwende
(vgl. etwa KAUFMANN, Das Erbrecht sowie die ehe- und erbrechtliche
Übergangsordnung in: Berner Tage für juristische Praxis 1987, Bern
1988, S. 131; HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 16 zu Art. 219 ZGB mit
zahlreichen Hinweisen; GUINAND, Le droit successoral in: Le nouveau droit
du mariage, 2. Aufl. Lausanne 1987, S. 83; SCHWANDER, Die 1984 revidierten
erbrechtlichen Bestimmungen des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs in: Das
neue Eherecht, St. Gallen 1987, S. 303; DESCHENAUX/STEINAUER, Le nouveau
droit matrimonial, Bern 1987, S. 548; RICHARD SCHLEISS, Hausrat und Wohnung
in der Güterstandsauseinandersetzung und Erbteilung, Diss. BE 1989, S. 192;
anderer Meinung: DRUEY, Das neue Erbrecht und seine Übergangsordnung,
in: HAUSHEER, Vom alten zum neuen Eherecht, Bern 1986, S. 172; HAUSHEER,
Art. 612a ZGB - wirklich nur dispositiv?, AJP 2/93, S. 126 ff.).

    Der mehrheitlich vertretenen Auffassung ist zuzustimmen: Art. 612a ZGB
befindet sich im zweiten Abschnitt des siebzehnten Titels des ZGB, der von
der Teilungsart handelt und dem Erblasser in Art. 608 Abs. 1 ZGB das Recht
einräumt, seinen Erben durch Verfügung von Todes wegen Vorschriften über
die Teilung zu machen. Systematisch handelt es sich demnach bei Art. 612a
ZGB um eine Teilungsvorschrift (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, aaO, N. 16 zu
Art. 219 ZGB), aus deren Wortlaut sich nicht ergibt, dass die dem Erblasser
durch Art. 608 Abs. 1 ZGB zugestandene Freiheit eingeschränkt wird. Sodann
fällt auf, dass die im bäuerlichen Erbrecht eingeordnete Bestimmung des
Art. 621bis ZGB die Verfügungsfreiheit des Erblassers hinsichtlich der
Teilung im Gegensatz zu Art. 612a ZGB ausdrücklich einschränkt. Die
Botschaft des Bundesrates über die Änderung des Schweizerischen
Zivilgesetzbuches (Wirkungen der Ehe im allgemeinen, Ehegüterrecht und
Erbrecht) vom 11. Juli 1979 (BBl 1979 II S. 1354 zweitletzter Absatz), aber
auch die verschiedenen Voten der parlamentarischen Beratung (Amtl.Bull. SR
1981, S. 161: Voten von Ständerat Dillier und Bundespräsident Furgler;
Amtl.Bull. SR 1984, S. 140: Voten von Ständerat Hänsenberger und Bundesrat
Friedrich; Amtl.Bull. NR 1984, S. 1046: Votum von Nationalrat Weber-Arbon)
haben denn auch in unmissverständlicher Weise die dispositive Natur von
Art. 612a ZGB hervorgehoben; wird überdies beachtet, dass diese Auffassung
angesichts der im gleichen Zuge eingefügten güterrechtlichen Bestimmungen
des Art. 219 und 244 ZGB sowie in Kenntnis des zwingenden Art. 621bis
ZGB vertreten worden ist, so lässt sich darin ohne Zweifel der Wille des
Gesetzgebers erkennen (BGE 118 II 309 E. a; 117 II 447; 115 II 99 E. b mit
Hinweisen), Art. 612a ZGB als dispositive Norm auszugestalten. Dass diese
Regelung die Einheit mit den güterrechtlichen Bestimmungen der Art. 219
und 244 ZGB, welche nur durch die Ehegatten gemeinsam abänderbar sind,
vermissen lässt (DRUEY, Grundriss des Erbrechts, 3. Aufl. Bern 1992,
§ 16 N. 49), hat der Gesetzgeber demnach bewusst in Kauf genommen
(vgl. Amtl.Bull. NR 1984, S. 1046: Votum von Nationalrat Weber-Arbon).