Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 II 319



119 II 319

62. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 18. Oktober 1993
i.S. Z. gegen Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen
(Berufung) Regeste

    Fürsorgerische Freiheitsentziehung; Begriff des Sachverständigen.

    Der Sachverständige im Sinne von Art. 397e Ziff. 5 ZGB ist ein Arzt,
welcher sich unter den konkreten Umständen als geeignet erweist, ein
objektives Gutachten zu erstellen, weil er über die dafür erforderlichen
psychiatrischen Sachkenntnisse verfügt (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Z. hielt sich zwischen August 1989 und 13. Mai 1993 mehrmals
in der Kantonalen Psychiatrischen Klinik (nachfolgend KPK) auf. Seit
14. Mai 1993 befindet sie sich erneut in der KPK, diesmal in Form der
fürsorgerischen Freiheitsentziehung.

    Am 21. Juni 1993 ersuchte Z. die Leitung der KPK um Entlassung. Dieses
Gesuch wurde mit Verfügung vom 23. Juni 1993 abgewiesen. Desgleichen wies
die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom
15. Juli 1993 die Klage von Z. ab.

    Mit Berufung vom 10. August 1993 verlangt Z., das Urteil der
Verwaltungsrekurskommission sei aufzuheben und sie sei unverzüglich auf
freien Fuss zu setzen. Eventuell sei in Aufhebung des angefochtenen
Urteils die Sache zur Aktenergänzung und neuen Entscheidung an die
Verwaltungsrekurskommission zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Art. 397e ZGB überlässt grundsätzlich das Verfahren dem kantonalen
Recht; jedoch hat der Gesetzgeber in den Ziffern 1 bis 5 dieser Bestimmung
festgelegt, inwiefern bestimmte Verfahrensvorschriften des Bundesrechts
allgemein gelten sollen. In Ziffer 5 dieser Bestimmung wird vorgeschrieben,
dass bei psychisch Kranken nur unter Beizug von Sachverständigen über die
Anordnung oder Weiterführung einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung
entschieden werden darf. Streitig ist vorliegend, was unter dem Begriff
des Sachverständigen zu verstehen ist.

    a) Eine Antwort darauf erteilt weder das Gesetz noch die Botschaft
des Bundesrates über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches
(fürsorgerische Freiheitsentziehung) vom 17. August 1977. Diese
letztere sagt nur, aber immerhin, dass als Sachverständige "wohl
nur Ärzte bzw. Psychiater" in Frage kommen (BBl 1977 III 35). In
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wird festgehalten, dass als
Sachverständiger eine Person mit psychiatrischen Sachkenntnissen zu
verstehen sei (nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts i.S. D. vom
27. September 1983, E. 2) bzw. dass einzig ein objektives Gutachten eines
fachkundigen neutralen Arztes zu verlangen sei (BGE 118 II 249 E. 2a),
der ein ausgewiesener Fachmann zu sein hat (E. 2c). In der nicht sehr
zahlreichen Literatur zur fürsorgerischen Freiheitsentziehung findet
sich ebenfalls kaum etwas, das weiterführen würde (vgl. GOTTLIEB JBERG,
Aus der Praxis zur fürsorgerischen Freiheitsentziehung, in SJZ 79/1983,
S. 293 ff., insbesondere 294 Anm. 7; EDWIN BIGGER, Fürsorgerische
Freiheitsentziehung und strafrechtliche Massnahme bei Suchtkranken
aus rechtlicher Sicht, in ZVW 47/1992, S. 48 f.; BEATRICE MAZENAUER,
Psychischkrank und ausgeliefert?, Bern 1985, S. 92). Konkreter äussern sich
einzig SCHNYDER/MURER (3. A., N. 101 zu Art. 374 ZGB), die dafürhalten,
dass infolge der Dringlichkeit der fürsorgerischen Freiheitsentziehung
der Ausschluss nichtpsychiatrisch geschulter Ärzte zum vornherein
unzweckmässig wäre.

    b) Im vorliegenden Fall steht fest, dass der begutachtende
Sachverständige Arzt für allgemeine Medizin ist. Die Berufungsklägerin
vertritt den Standpunkt, dass das nicht genüge; es könne von Art. 397e
Ziff. 5 ZGB nur ein Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
gemeint sein. Denn der Gutachter sollte mindestens über den gleichen
Wissensstand verfügen wie die Klinikärzte.

    Der Auffassung der Berufungsklägerin kann in dieser Absolutheit
nicht gefolgt werden. Gerade einem Allgemeinpraktiker kann nicht zum
vornherein jedes psychiatrische Spezialwissen und vor allem auch die hier
besonders geforderte kritische Objektivität gegenüber den Klinikärzten
und den Psychiatern abgesprochen werden. Das gilt insbesondere für
einen allgemeinpraktizierenden Arzt, der - wie vorliegend - wegen seiner
Tätigkeit als Fachrichter der Verwaltungsrekurskommission, die sich mit
fürsorgerischer Freiheitsentziehung zu befassen hat, über eine gewisse
auch fachliche Erfahrung bezüglich des Umgangs mit psychisch Kranken
und deren Beurteilung verfügen muss. Gründe, die Zweifel daran zu wecken
vermöchten, bringt die Berufungsklägerin keine vor. Demgegenüber lassen
das Befragungsprotokoll und das Gutachten darauf schliessen, dass der
Gutachter durchaus als sachkundiger Arzt betrachtet werden darf, der in
der Lage ist, objektiv beurteilen zu können, ob eine Person psychisch
krank ist und wie sich die Krankheit bei ihr bemerkbar macht. Die
Verwaltungsrekurskommission hält dazu fest, der begutachtende Fachrichter,
ein allgemeinpraktizierender Arzt, sei ein von der Klinik unabhängiger
Sachverständiger, der sich für spezifisch psychiatrische Fragen auch auf
die Angaben der in der Klinik arbeitenden Fachpsychiater stützen könne.

    Dem muss aus sachlichen Gründen wie auch aus solchen
der Praktikabilität zwar nicht unbedingt generell, aber unter
den hier gegebenen Umständen gefolgt werden. Die Auffassung der
Verwaltungsrekurskommission widerspricht jedenfalls nicht der - vorne
zitierten - Rechtsprechung zu Art. 397e Ziff. 5 ZGB. Damit werden aber
die Anforderungen, welche die über die fürsorgerische Freiheitsentziehung
und deren Weiterführung entscheidenden Gerichte an die Fachkunde der
Gutachter zu stellen haben, keineswegs gering eingestuft; es bedeutet
vielmehr, dass ernsthaft geprüft werden muss, wer je nach den konkreten
Umständen als geeigneter Fachmann oder als Fachfrau mit den erforderlichen
Fachkenntnissen als Sachverständiger im Sinne des Art. 397e Ziff. 5 ZGB
bestimmt werden kann. Dabei kann sich insbesondere ergeben, dass der
Fachrichter, der üblicherweise die Begutachtung vornimmt, nicht über das
nötige Spezialwissen verfügt und mithin ein gerichtsexterner Facharzt
oder eine Fachärztin beigezogen werden muss (vgl. SCHNYDER/MURER,
die unter N. 101 f. zu Art. 374 ZGB in Fällen von Entmündigung wegen
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche die Begutachtung durch einen
"psychiatrisch geschulten Arzt" vorschlagen, bei offensichtlicher
Geisteskrankheit und -schwäche jedoch die Begutachtung durch einen
"gewöhnlichen Arzt" genügen lassen wollen). Dass dies vorliegend zutrifft,
wird indessen nicht konkret behauptet.