Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 II 314



119 II 314

61. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. August 1993
i.S. F. gegen. F. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 145 ZGB; Festsetzung der Unterhaltsbeiträge während des
Scheidungsprozesses.

    1. Hat eine Partei ihr Einkommen freiwillig vermindert, könnte sie aber
wieder ein höheres Einkommen erzielen und ist ihr dies auch zumutbar, so
kann für die Festsetzung der Unterhaltsbeiträge auf dieses hypothetische,
höhere Einkommen abgestellt werden (E. 4a).

    2. Soll von der hälftigen Teilung des Überschusses abgewichen werden,
weil die Unterhaltsfestsetzung keine Vermögensumverteilung bewirken darf,
so muss dargetan sein, dass die Ehegatten auch während der Dauer des
gemeinsamen Haushaltes nicht das ganze Einkommen dem Unterhalt der Familie
zugeführt haben. Eine besonders kurze Ehedauer stellt keinen Grund dar,
um von den allgemeinen Grundsätzen über die Festsetzung des Unterhalts
im Massnahmeverfahren abzuweichen (E. 4b).

Sachverhalt

    A.- Dina F. und Adrian F. heirateten am 21. Juni 1989. Die Ehe ist
kinderlos geblieben. Seit dem 15. September 1990 leben die Parteien
getrennt.

    Mit Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 23. Januar 1991
wurde Adrian F. verpflichtet, Dina F. vom 1. September 1990 bis zum
31. August 1991 an ihren persönlichen Unterhalt monatlich vorschüssig
Fr. 3'000.-- zu bezahlen. Mit Entscheid vom 10. Juni 1991 beurteilte
das Gerichtspräsidium Rheinfelden ein zweites Begehren um vorsorgliche
Massnahmen, welches die Kostenvorschusspflicht betraf. Mit Entscheid
vom 31. Oktober 1991 entschied das Gerichtspräsidium Rheinfelden
schliesslich über ein drittes Begehren von Dina F., das unter anderem
die Unterhaltspflicht betraf.

    B.- Auf eine weitere Klage von Dina F. hin verurteilte das
Gerichtspräsidium Brugg Adrian F. mit Entscheid vom 30. November 1992,
seiner Frau ab April 1992 monatlich vorschüssig einen Unterhaltsbeitrag
von Fr. 910.-- zu bezahlen.

    Eine gegen dieses Urteil von Dina F. eingereichte Beschwerde und eine
Anschlussbeschwerde von Adrian F. wies das Obergericht des Kantons Aargau
am 15. März 1993 ab.

    C.- Dina F. gelangt mit staatsrechtlicher Beschwerde an das
Bundesgericht.

    Adrian F. beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht
hat unter Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil auf eine
Vernehmlassung verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Zur Berechnung des Unterhaltsbeitrages sind die kantonalen
Gerichte von den Einkommen der Parteien ausgegangen. Sie haben von
diesen Einkommen den um die Steuern erweiterten Notbedarf abgezogen und
anschliessend den Überschuss aufgeteilt. Die Beschwerdeführerin ist mit
dieser Berechnungsweise grundsätzlich einverstanden, erachtet es aber
als willkürlich, dass ihr ein hypothetisches Einkommen zugerechnet und
der Überschuss nicht hälftig geteilt worden ist.

    a) Nach Art. 163 ZGB hat jeder Ehegatte nach seinen Kräften an
den gebührenden Unterhalt der Familie beizutragen. Daraus ergibt sich,
dass nicht in jedem Fall auf den tatsächlich erzielten Erwerb abgestellt
werden kann, sondern gegebenenfalls ein hypothetisches, höheres Einkommen
zu berücksichtigen ist (SPÜHLER/FREI-MAURER, N. 141 zu Art. 145 ZGB;
HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 22 zu Art. 163 ZGB). Voraussetzung ist
allerdings, dass eine entsprechende Einkommenssteigerung möglich
und zumutbar ist (BGE 117 II 17, der allerdings den Eheschutz betraf;
Entscheide der II. ZA vom 18.8.1988 i.S. Eheleute U., mit Bezug auf die
Möglichkeit einer Einkommenssteigerung, und vom 8.12.1988 i.S. Eheleute
C., mit Bezug auf die Zumutbarkeit; GEISER, Erste Erfahrungen mit dem neuen
Eherecht, Recht 1990, S. 41). Im Gegensatz zum alten Recht werden im neuen
beide Ehegatten gleich behandelt. Die Beschwerdeführerin irrt, wenn sie
meint, die Mittel der Ehefrau seien auch im neuen Eherecht nur subsidiär
zu berücksichtigen. BGE 111 II 105 f. hat sich auf das alte Recht bezogen.

    Auf ein entsprechendes hypothetisches Einkommen abzustellen,
rechtfertigt sich insbesondere, wenn eine Partei ihr Einkommen
freiwillig vermindert hat. Nach Art. 163 Abs. 2 ZGB verständigen sich
die Ehegatten über ihre Beiträge an den Unterhalt. Eine Änderung der
eigenen Lebensführung ohne das Einverständnis des Partners ist deshalb
grundsätzlich unzulässig, wenn dadurch dem anderen Ehegatten ein höherer
Beitrag an die Familie zugemutet wird. Indessen können die Interessen
eines Ehegatten auch diesfalls eine Änderung rechtfertigen (BGE 114 II
16 f.; HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 43 ff. zu Art. 163). Es ist somit eine
Interessenabwägung vorzunehmen. Die Sanktion einer unzulässigen einseitigen
Abänderung der eigenen Lebensführung besteht insbesondere darin, dass bei
der Unterhaltsregelung der Änderung nicht Rechnung getragen wird und von
der bisherigen höheren Leistungskraft ausgegangen wird, sofern diese auch
wieder erreicht werden kann.

    Es erweist sich somit in keiner Weise als willkürlich, wenn
das Obergericht berücksichtigt hat, dass die Ehefrau ihre bisherige
Erwerbstätigkeit ohne Zustimmung des Ehemannes aufgegeben hat.

    Soweit die Beschwerdeführerin rügt, das Obergericht habe zu Unrecht
angenommen, sie habe ihre bisherigen Stellen freiwillig aufgegeben, übt
sie rein appellatorische Kritik. Es ist nicht in genügender Weise dargetan,
inwiefern die Feststellungen des Obergerichts willkürlich sein sollen.

    Bei einer auf Willkür beschränkten Kognition lässt sich auch
nichts dagegen einwenden, dass die kantonalen Gerichte den Wunsch der
Beschwerdeführerin, ihre juristische Ausbildung mit dem Anwaltsexamen zu
vervollständigen, den Interessen des Ehemannes untergeordnet hat, nicht
vermehrt an den Unterhalt beitragen zu müssen. Es erweist sich somit nicht
als geradezu willkürlich, wenn das Obergericht der Beschwerdeführerin
ein hypothetisches Einkommen von Fr. 4'000.-- pro Monat angerechnet hat.

    b) Das Bezirkspräsidium Brugg, auf dessen Entscheid das Obergericht
diesbezüglich verweist, hat ein gesamtes Einkommen von Fr. 14'000.--, einen
Totalbetrag der Existenzminima von Fr. 4'435.-- und eine Steuerbelastung
von Fr. 1'000.-- berechnet. Daraus ergibt sich ein Überschuss von
Fr. 8'565.--. Diesen Überschuss haben die kantonalen Gerichte indessen
nicht hälftig zwischen den Parteien aufgeteilt, sondern zwei Drittel
dem Ehemann belassen und nur ein Drittel der Ehefrau zugesprochen. Das
Obergericht ist wohl davon ausgegangen, dass nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung die hälftige Aufteilung die Regel bilde (BGE 114 II 27
ff.). Es erachtete aber ein Abweichen davon vorliegend als gerechtfertigt,
weil die effektiven Wohnkosten des Ehemannes nicht voll berücksichtigt
worden seien, dieser ein überdurchschnittliches Einkommen erziele und
die Ehe der Parteien nur kurz gedauert habe.

    aa) Mit Recht weist die Beschwerdeführerin darauf hin, dass
die Unterhaltspflicht und der Anspruch auf grundsätzlich gleiche
Teilhabe an der vereinbarten Lebenshaltung während der ganzen Dauer
der Ehe besteht. Während mit Bezug auf den nachehelichen Unterhalt die
Ehedauer von Bedeutung ist (BGE 109 II 186; 115 II 9; GEISER, Worin
unterscheiden sich heute die Renten nach Art. 151 und 152 ZGB? ZBJV
1993, S. 345 f.), ist dieses Kriterium für den Unterhalt während der
Ehe unbeachtlich. Sowohl beim Eheschutz wie auch bei den vorsorglichen
Massnahmen im Ehescheidungsverfahren besteht die Ehe noch. Der weiteren
Entwicklung darf ohne Not nicht vorgegriffen werden. Es geht nicht nur
um eine nacheheliche Solidarität bzw. familienrechtlich überlagerte
Schadenersatzpflicht, sondern um den während der Ehe von Gesetzes wegen
bestehenden Unterhaltsanspruch. Dieser beginnt aber in vollem Umfang
mit der Heirat und entsteht nicht erst allmählich im Laufe der Ehe. Die
Berücksichtigung eines zweifelsfrei unsachlichen Kriteriums stellt
eine willkürliche Rechtsanwendung dar. Damit sich eine Aufhebung des
angefochtenen Entscheides rechtfertigt, genügt es indessen nicht, dass
eine von mehreren Begründungen willkürlich ist. Es ist deshalb zu prüfen,
ob die andern beiden vom Obergericht angeführten Begründungen allein ein
Abweichen von der hälftigen Teilung zu rechtfertigen vermögen.

    bb) Der Grundsatz der gleichmässigen Aufteilung des
Einkommensüberschusses darf nicht zu einer Vermögensverschiebung
führen. Stand aufgrund der von den Ehegatten vereinbarten bzw. tatsächlich
gelebten Lebenshaltung während des Zusammenlebens nur ein Teil des
Einkommens für den ehelichen Unterhalt zur Verfügung, so besteht kein
Grund, beim Getrenntleben auch den bis anhin der Vermögensbildung dienenden
Teil des Einkommens unter den Ehegatten aufzuteilen (BGE 114 II 31 f.;
115 II 426 f.). Dies muss jedenfalls gelten, solange und soweit der bisher
für den Unterhalt verwendete Einkommensteil auch zur Deckung der durch
das Getrenntleben verursachten Mehrkosten ausreicht.

    Das Obergericht hat sich in keiner Weise mit der Frage befasst, ob
während des Zusammenlebens das hohe Einkommen vollständig für den ehelichen
Unterhalt verwendet oder ob ein Teil davon der Vermögensbildung zugeführt
worden ist. Indem es nicht darauf, sondern nur auf die Höhe des Einkommens
abstellt, verkennt das Obergericht das entsprechende Beurteilungskriterium
und weicht damit willkürlich vom Gleichbehandlungsgrundsatz ab.

    cc) Dem angefochtenen Entscheid ist in keiner Weise zu entnehmen,
welcher Betrag bei den Wohnkosten des Ehemannes nicht berücksichtigt worden
ist. Von daher ist auch nicht ersichtlich, welche Bedeutung das Obergericht
diesem Argument für die Abweichung von der hälftigen Aufteilung beigemessen
hat. Es handelte sich jedenfalls nur um eines von drei Argumenten,
die nicht alternativ, sondern kumulativ zur Drittelsteilung geführt
haben. Es ist nicht anzunehmen, dass dieses Argument dem Obergericht
allein ausgereicht hätte. Dem angefochtenen Entscheid sind jedenfalls
keine genügenden tatsächlichen Feststellungen zu entnehmen, die es dem
Bundesgericht erlauben würden, in Substituierung der Begründung eine
Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz ausschliesslich mit diesem
Argument anzunehmen.

    dd) Die Abweichung von der hälftigen Überschussteilung erweist sich
somit als willkürlich. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben, und die
kantonalen Instanzen werden zu entscheiden haben, ob das ganze Einkommen
der bisherigen Lebenshaltung der Parteien gedient hat oder nur ein Teil;
gegebenenfalls ist auch der Umfang der nicht berücksichtigten Wohnkosten
zu klären.