Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IA 53



119 Ia 53

10. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 3.
Februar 1993 i.S. St. gegen Kantonsgerichtspräsidium Zug (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 57 BV, Petitionsrecht.

    1. Verhältnis zwischen kantonaler Petitionsgarantie und Petitionsrecht
nach Art. 57 BV (E. 2).

    2. Bedeutung und Tragweite des Petitionsrechts (E. 3).

    3. Unzulässigkeit von Petitionen gegenüber Gerichten, die ein konkretes
Gerichtsverfahren betreffen (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Frau St. reichte beim Kantonsgericht Zug unter dem Titel
Petition/Schutzschrift folgendes Begehren ein:

    "Einem allfälligen Begehren der möglichen Gesuchsteller auf Erlass
einer
   vorsorglichen Massnahme bzw. einstweiligen Verfügung wegen
   urheberrechtlicher, markenrechtlicher oder wettbewerbsrechtlicher

    Verletzung betreffend die Werke von L. Ron Hubbard und/oder Schriften
der

    Church of Scientology (Dianetik), des Religious Technology Centers, der

    New Era Publications ApS oder deren verbundenen juristischen
Personen sei
   nicht ohne Anhörung der möglichen Gesuchsgegnerin stattzugeben."

    Als Hintergrund dieses Ersuchens gab Frau St. die
folgenden Gegebenheiten an: Sie war früher in verschiedenen
Scientology-Organisationen tätig und wurde später entlassen. Mit andern
ehemaligen Mitgliedern beteiligte sie sich seither an Selbsthilfegruppen
und gab Hilfestellungen für Personen, welche die Church of Scientology
verlassen wollten. - Seit einigen Jahren erteilt sie persönliche
Betreuung, Seminare und Kurse und verwendet hierfür - neben buddhistischem
Gedankengut - die Methoden und Lehren von L. Ron Hubbard, welche unter
den Bezeichnungen Dianetik und Scientology bekannt sind.

    In der Petition/Schutzschrift legt Frau St. dar, dass der Scientology
Church nahestehende Organisationen oftmals ehemalige Mitglieder
belästigten und in gerichtliche Verfahren aller Art zögen. Sie
klagten Urheberrechtsverletzungen ein, wollten aber in erster Linie
abtrünnige Mitarbeiter mundtot machen oder mittels Hausdurchsuchungen und
Beschlagnahmungen zu Adress- und Kundenlisten sowie zu Dokumentationen
und Unterlagen gelangen. - In rechtlicher Hinsicht führt sie aus,
dass solchen Organisationen keine urheberrechtliche, markenrechtliche
oder wettbewerbsrechtliche Ansprüche zustünden und diesen daher
mangels Aktivlegitimation keine Ansprüche auf Einleitung straf- oder
zivilrechtlicher Massnahmen zukämen. - Frau St. befürchtet, in nächster
Zeit in der beschriebenen Art prozessual belangt zu werden.

    Der Einzelrichter im summarischen Verfahren des
Kantonsgerichtspräsidiums des Kantons Zug antwortete dem Rechtsvertreter
von Frau St. in Briefform und sandte die Schutzschrift mit Beilagen
ungelesen zurück. Der Brief hat folgenden Wortlaut:

    "Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt

    Ich retourniere Ihnen - ungelesen - die in Sachen ... eingereichte

    Schutzschrift ... samt Beilagen. Gemäss konstanter Praxis des

    Kantonsgerichtspräsidiums Zug werden keine derartige Eingaben
   entgegengenommen. Ich ersuche Sie um Kenntnisnahme und um Verständnis.

    Mit freundlichen Grüssen"

    Gegen diesen Bescheid des Kantonsgerichtspräsidiums reichte
Frau St. beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde ein mit den
Anträgen, der Bescheid sei aufzuheben und das Kantonsgerichtspräsidium
sei anzuweisen, ihre Petition entgegenzunehmen und sachlich zu
behandeln. Hierfür macht sie eine Verletzung des Petitionsrechts nach
Art. 57 BV und § 10 KV/ZG sowie von Art. 4 BV geltend.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin bezieht sich ausdrücklich auf § 10 der
zugerischen Kantonsverfassung, wonach das Petitionsrecht gewährleistet ist.
Einer derartigen kantonalrechtlichen Verfassungsgarantie kommt nur dann
eine eigene Tragweite zu, wenn sie einen ausgedehnteren Schutzbereich
aufweist als die entsprechende Norm in der Bundesverfassung (BGE 112
Ia 126 E. 3a, mit Hinweisen). Das trifft auf § 10 KV - mit dem gleich
kurzen Wortlaut wie Art. 57 BV - im Verhältnis zur Bundesgarantie nicht zu
(vgl. BGE 98 Ia 487 E. 5a, 104 Ia 435 E. 2); es ist auch keine kantonale
Verfassungsrechtsprechung bekannt, welche der kantonalen Garantie eine
weitere Tragweite zuordnen würde. Das Bundesgericht kann sich daher im
vorliegenden Fall auf die Prüfung beschränken, ob Art. 57 BV verletzt
worden ist.

Erwägung 3

    3.- Die Petitionsfreiheit nach Art. 57 BV gestattet es aufgrund der
Rechtsprechung jedermann, ungehindert Bitten, Vorschläge, Kritiken oder
Beschwerden an die Behörden zu richten, ohne deswegen Belästigungen oder
Rechtsnachteile irgendwelcher Art befürchten zu müssen. Die Behörde ist
verpflichtet, von der Petition Kenntnis zu nehmen und sie einzusehen. Denn
der Petitionär soll aufgrund seiner Petition die Möglichkeit haben,
von der Behörde gehört zu werden, andernfalls Petitionen kaum einen Sinn
hätten. Es wäre verfassungswidrig, wenn sich eine Behörde gegen Petitionen
verschliessen wollte oder eine solche nicht an die Behörde überwiese,
für die sie bestimmt ist (BGE 98 Ia 488 f., 104 Ia 437 E. 5, 100 Ia 80
E. 4, mit zahlreichen Hinweisen auf Praxis und Literatur).

    Nach der Rechtsprechung ist die Petitionsfreiheit ein blosses
Freiheitsrecht, das keinerlei positiven Anspruch verleiht. Es ist
daraus abgeleitet worden, der Petitionär könne weder verlangen, dass
seine Petition materiell behandelt, noch dass sie beantwortet und ihr
entsprochen wird. Es wird eingeräumt, dass die Praxis allerdings weitergehe
und dass Petitionen im allgemeinen geprüft und beantwortet würden. In der
Rechtsprechung wird die Frage aufgeworfen, ob diese traditionelle, stark
einschränkende Auffassung von Inhalt und Tragweite der Petitionsfreiheit
den gewandelten Verhältnissen und Anschauungen noch gerecht werde. Eine
Ausdehnung des Petitionsrechts müsse indessen dem Gesetzgeber vorbehalten
bleiben (BGE 98 Ia 488 f., mit Hinweisen).

    Im folgenden wird vorerst zu prüfen sein, ob Petitionen gegenüber
Gerichten überhaupt zulässig seien und ob demnach die streitige
Schutzschrift zugelassen werden könne. Soweit ersichtlich, hat sich das
Bundesgericht zu dieser Frage noch nie ausgesprochen.

Erwägung 4

    4.- In der Literatur wird die Frage, ob Petitionen zulässigerweise an
Gerichte gerichtet werden können, in differenzierter Weise beantwortet. Es
wird die Auffassung vertreten, Adressat einer Petition könne angesichts
der Offenheit der Verfassungsnorm jede staatliche Stelle sein,
gleich welcher Funktion. Demnach könnten Petitionen auch Gerichten
zugestellt werden. Immerhin stelle sich wegen der Möglichkeit von
förmlichen Klagen oder Rechtsmitteln die Frage nach dem praktischen
Nutzen (vgl. JÜRGEN E. RAISSIG, Das Petitionsrecht in der Schweiz -
Relikt oder Chance?, Diss. Zürich 1977, S. 42 f.; FRANZ-XAVER MUHEIM,
Das Petitionsrecht ist gewährleistet, Diss. Bern 1981, S. 43; WALTER
GISIGER, Das Petitionsrecht in der Schweiz, Diss. Zürich 1935, S. 98
ff.; WALTER BUSER, Betrachtungen zum schweizerischen Petitionsrecht,
in: Festschrift H.P. Tschudi, Bern 1973, S. 46; WALTHER BURCKHARDT,
Kommentar zur Bundesverfassung, 3. Auflage 1931, S. 529; HANS BRÜHWILER,
Die Petitionspraxis der Bundesversammlung, in: ZBl 63/1962 S. 201; JÖRG
PAUL MÜLLER, Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, Bern
1991, S. 184 und BV-Kommentar, Rz. 23 zu Art. 57).

    Petitionen sind gegenüber Gerichten an sich für all jene Bereiche
denkbar, die nicht direkt mit einem bestimmten Verfahren in Verbindung
stehen. Mit allgemeinen Petitionen könnte etwa auf Probleme genereller
Natur oder hinsichtlich der allgemeinen Rechtsprechung aufmerksam
gemacht werden, es könnten Fragen der Gerichtsverwaltung aufgeworfen oder
Anfragen aus Rechtsgebieten unterbreitet werden, in denen das Gericht
Aufsichtsbehörde ist (vgl. RAISSIG, aaO, S. 43; MUHEIM, aaO, S. 43). Wie
es sich damit verhält, braucht nicht im einzelnen abgeklärt zu werden.

    Anders verhält es sich indessen mit Petitionen, die ein konkretes
Gerichtsverfahren betreffen, sei es, dass ein solches hängig oder bereits
abgeschlossen ist oder aber in absehbarer Zeit anhängig gemacht wird. Für
die Verfahrensbeteiligten stehen die prozessualen Mittel zur Verfügung,
um entsprechend den anwendbaren Verfahrensbestimmungen Anträge und
Standpunkte betreffend Sachverhalt und rechtliche Beurteilung in den
Prozess einfliessen zu lassen; der einzelne hat die Möglichkeit, sich
mit den üblichen prozessualen Mitteln an die Gerichte zu wenden. Der
Richter ist ausserhalb der Verfahrensbestimmungen und der sich aus
Art. 4 BV bzw. der EMRK ergebenden Grundsätze nicht befugt, auf andere,
als Petitionen bezeichnete Eingaben von Verfahrensbeteiligten weiter
einzugehen. Er hat sich vielmehr an die Verfahrensordnung zu halten. Den
Verfahrensbeteiligten stehen im eigentlichen Hauptverfahren die diversen
prozessualen Mittel zur Antragsstellung und Äusserung zur Verfügung,
nach abgeschlossenem Verfahren die Rechtsbehelfe wie die Revision
und im Vorfeld eines Verfahrens die Möglichkeiten des vorsorglichen
Rechtsschutzes. Ginge der Richter auf Petitionen von Verfahrensbeteiligten
ein, so würde er sich dem Vorwurf der Voreingenommenheit und Parteilichkeit
aussetzen. Der Anspruch auf einen unabhängigen und unparteiischen Richter
ist aber durch Art. 58 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK garantiert. Es sollen
nach der Rechtsprechung keine Umstände, welche ausserhalb des Prozesses
liegen, in sachwidriger Weise zugunsten oder zulasten einer Partei auf
das Verfahren einwirken; es soll verhindert werden, dass jemand als
Richter tätig wird, der unter solchen Einflüssen steht und damit kein
"rechter Mittler" mehr sein kann. Voreingenommenheit in diesem Sinne ist
anzunehmen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in die
Unparteilichkeit eines Richters zu erwecken. Entscheidend hierfür ist bei
objektiver Betrachtungsweise bereits der Anschein oder die Gefahr der
Befangenheit (vgl. BGE 114 Ia 53 ff., 117 Ia 159 ff., 116 Ia 33 ff.,
mit Hinweisen). In Anwendung dieser Grundsätze hat das Bundesgericht
etwa einen Richter als befangen bezeichnet, weil er einen informellen
Augenschein durchgeführt und eine entsprechende Aktennotiz verfasst
hat, obwohl die Parteien dazu haben Stellung nehmen können (BGE 114 Ia
158 ff.). Desgleichen bestünde bei demjenigen Richter, der Petitionen
von Verfahrensbeteiligten ausserhalb der eigentlichen Prozessformen
entgegennimmt, die ernsthafte Gefahr der Voreingenommenheit im Sinne der
zitierten Rechtsprechung zu Art. 58 Abs. 1 und Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

    Daraus ergibt sich, dass aus Gründen der Beachtung der
Verfahrensordnung und der Fairness des Verfahrens sowie wegen der
Gefahr der unzulässigen Beeinflussung des Richters Petitionen von
Verfahrensbeteiligten hinsichtlich eines konkreten Gerichtsverfahrens
nicht als zulässig betrachtet werden können. Das trifft insbesondere für
die als Petition bezeichnete sog. Schutzschrift der Beschwerdeführerin
zu. Die Schutzschrift ist ein vorbeugendes Verteidigungsmittel gegen
einen erwarteten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung und
verfolgt das Ziel, den Erlass einer vorsorglichen Verfügung zu verhindern,
indem entweder mündliche Verhandlung verlangt oder der Sachstandpunkt
dem Gericht schon im voraus unterbreitet wird (vgl. VOLKER DEUTSCH,
Die Schutzschrift in Theorie und Praxis, in: GRUR 92/1990 S. 327 ff.; ZR
82/1983 Nr. 121). Die Eingabe der Beschwerdeführerin betrifft ein konkretes
Verfahren, in dem sie selber beklagte Partei wäre. Der Umstand, dass das
Verfahren noch nicht eingeleitet worden ist, ändert daran nichts, weil
die Schutzschrift im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Eröffnung
eines Prozesses eingereicht worden ist. In der Beschwerdeschrift wird
dargetan, dass es der Beschwerdeführerin darum ging, dem Gericht bestimmte
Tatsachen zur Kenntnis zu bringen und es damit überhaupt erst in die Lage
zu versetzen, sachgerecht über allfällige Begehren von der Gegenseite zu
befinden. Daraus geht hervor, dass die Petition unmittelbaren Einfluss auf
den Prozess nehmen wollte, ohne sich der gegebenen prozessualen Mittel zu
bedienen. Die förmliche Entgegennahme der Schutzschrift hätte das Gericht
der ernsthaften Gefahr der Voreingenommenheit ausgesetzt. Daraus ist zu
schliessen, dass die Schutzschrift als Petition unzulässig ist und die
Beschwerdeführerin sich demnach nicht auf Art. 57 BV berufen und die
ungelesene Rücksendung nicht beanstanden kann.

    Demnach erweist sich die vorliegende Beschwerde als unbegründet
und ist abzuweisen. Es braucht daher nicht untersucht zu werden, wie es
sich mit Petitionen verhält, die ebenfalls ein konkretes gerichtliches
Verfahren betreffen, indessen von dritter Seite eingereicht werden; je
nach den konkreten Umständen kann auch hier die Gefahr der unzulässigen
Beeinflussung entstehen (vgl. BGE 116 Ia 22 E. 7b; J.P. MÜLLER, aaO, S. 184
bzw. Rz. 23 zu Art. 57). Ferner kann auch offengelassen werden, ob die
Tragweite der Petitionsfreiheit im Sinne der Anträge der Beschwerdeführerin
über die Forderung der blossen Kenntnisnahme und Sanktionsfreiheit hinaus
auf die Pflicht zur Beantwortung auszudehnen ist (vgl. schon BGE 98 Ia 489;
J.P. MÜLLER, aaO, S. 181 bzw. Rz. 12 f. zu Art. 57).