Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IA 374



119 Ia 374

44. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 19.
Oktober 1993 i.S. X. gegen Obergericht des Kantons Bern (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 4, 31, 33 BV; Art. 5 ÜbBest. BV; Bewilligung zur Ausübung des
Anwaltsberufes.

    Die Kantone können die Berufsausübungsbewilligung von der Erfüllung
persönlicher Voraussetzungen und namentlich von der Vertrauenswürdigkeit
des Bewerbers abhängig machen. Das Verhalten in anderen Kantonen, wo der
Bewerber bereits eine Zulassungsbewilligung besitzt, kann berücksichtigt
werden.

Sachverhalt

    A.- Dr. X. ist seit dem 18. August 1975 im Besitz der
Anwaltsbewilligung des Kantons St. Gallen. Er wurde am 12. Oktober 1990
wegen Verstosses gegen die Art. 11 und 6 der sanktgallischen Anwaltsordnung
von der Aufsichtskommission für Anwälte und Rechtsagenten des Kantons
St. Gallen mit Fr. 200.-- gebüsst. Mit Schreiben vom 2. Juni 1992 ersuchte
er um die Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufes im Kanton Bern. Das
Obergericht des Kantons Bern wies das Gesuch am 27. Juli 1992 ab.

    Hiegegen führt X. staatsrechtliche Beschwerde mit den Anträgen,
der Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern vom 27. Juli 1992 sei
aufzuheben und das Obergericht sei anzuweisen, die Bewilligung zur Ausübung
des Anwaltsberufes im Kanton Bern zu erteilen. Er rügt eine Verletzung
der Art. 4, 31, 33 BV und Art. 5 ÜbBest. BV.

    Das Obergericht des Kantons Bern hat auf Ausführungen zur
staatsrechtlichen Beschwerde verzichtet.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt den angefochtenen
Entscheid auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer macht vorab eine Verletzung von
Art. 5 ÜbBest. BV geltend. Diese Bestimmung steht im Zusammenhang
mit Art. 33 BV. Nach dessen Abs. 1 ist den Kantonen anheimgestellt,
die Ausübung der wissenschaftlichen Berufsarten von einem Ausweis
der Befähigung abhängig zu machen; gemäss Abs. 2 ist auf dem Weg der
Bundesgesetzgebung dafür zu sorgen, dass derartige Ausweise für die
ganze Eidgenossenschaft gültig erworben werden können. Solange eine
solche bundesrechtliche Regelung fehlt, und so verhält es sich für den
Anwaltsberuf bis heute, soll gemäss Art. 5 ÜbBest. BV der in einem
Kanton erlangte Befähigungsausweis zur Berufsausübung in der ganzen
Schweiz berechtigen. Diese Freizügigkeitsgarantie erstreckt sich nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf die beruflichen Fachkenntnisse,
belässt den Kantonen aber die Kompetenz zu prüfen, ob die nach ihren
Vorschriften erforderlichen weiteren Voraussetzungen für die Zulassung
zum Anwaltsberuf erfüllt sind (BGE 119 Ia 36 f. mit Zitaten).

    Dabei sind die Grundsätze der Handels- und Gewerbefreiheit
zu wahren. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts
steht der Anwalt unter dem Schutze von Art. 31 BV, ebenso wie die
Angehörigen anderer liberaler Berufe und alle übrigen Personen, die einer
privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit nachgehen. Einschränkungen der
Handels- und Gewerbefreiheit müssen auf einer gesetzlichen Grundlage
beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und die Grundsätze der
Verhältnismässigkeit sowie der Rechtsgleichheit beachten. Ob das
kantonale Recht hinsichtlich der angefochtenen Beschränkung eine
genügende gesetzliche Grundlage enthält, prüft das Bundesgericht nur
unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür, wenn es um einen
leichten Eingriff in die Handels- und Gewerbefreiheit geht. Hingegen
prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei, ob die Massnahme auf einem
überwiegenden öffentlichen Interesse beruht und verhältnismässig ist
(BGE 118 Ia 177 E. 2a, 181 E. 3a, mit Hinweisen).

    b) Im Interesse des Schutzes des rechtsuchenden Publikums dürfen die
Kantone die Bewilligung zur Ausübung des Anwaltsberufes von der Erfüllung
persönlicher Voraussetzungen des Bewerbers abhängig machen. Namentlich
dürfen sie die Vertrauenswürdigkeit des Bewerbers berücksichtigen (BGE
111 Ia 105 f.; 98 Ia 598; 71 I 377 f.). Die Zulassungsbehörde hat nach
pflichtgemässem Ermessen zu prüfen, ob die Voraussetzungen zur Erteilung
der Berufsausübungsbewilligung erfüllt sind. Dabei kann sie allerdings die
persönlichen Voraussetzungen wie die Vertrauenswürdigkeit im allgemeinen
nicht aus eigener Anschauung beurteilen. Sie ist daher darauf angewiesen,
die notwendigen Schlüsse aus dem persönlichen und beruflichen Verhalten
des Bewerbers im Kanton, wo er seinen Beruf in erster Linie ausübt,
sowie in den übrigen Kantonen, wo er eine Zulassungsbewilligung besitzt,
zu ziehen (BGE 111 Ia 106 f.). Wurde der Bewerber in einem anderen
Kanton rechtskräftig diszipliniert, so ist zu prüfen, ob Art und Schwere
des Disziplinarfalles die Verweigerung der Zulassung zum Anwaltsberuf
rechtfertigen. Tatbestände, welche zu Disziplinarbussen führen, sind im
allgemeinen leichte Fälle, welche die Vertrauenswürdigkeit des Anwaltes
nicht dauernd und nachhaltig beeinträchtigen. Die Vertrauenswürdigkeit des
Anwaltes kann jedoch auch bei Vorliegen einer Disziplinarbusse erschüttert
sein; namentlich dann, wenn der Bewerber bereits mehrmals disziplinarisch
bestraft werden musste und diese Vorfälle nicht weit zurückliegen.

Erwägung 3

    3.- Vorliegend ist nicht streitig, dass der Beschwerdeführer aufgrund
der abgelegten Anwaltsprüfung die wissenschaftlichen Voraussetzungen für
die Ausübung des Anwaltsberufes im Kanton Bern erfüllt. In Frage steht
einzig, ob diese dem Beschwerdeführer im Kanton Bern deshalb verweigert
werden kann, weil seine berufliche Vertrauenswürdigkeit (Art. 8 Abs. 1 des
bernischen Gesetzes vom 6. Februar 1984 über die Fürsprecher) erschüttert
ist. Gemäss Art. 7 Abs. 1 des genannten Gesetzes ist die Bewilligung
zur Berufsausübung im Kanton Bern zu erteilen, wenn der Gesuchsteller in
seiner bisherigen Tätigkeit als Anwalt weder erheblich noch wiederholt
diszipliniert worden ist, wobei Disziplinarmassnahmen, die mehr als zehn
Jahre zurückliegen, ausser Betracht fallen.

    a) Das Obergericht verweigerte dem Beschwerdeführer die Bewilligung
zur Berufsausübung im Kanton Bern mit der Begründung, der Beschwerdeführer
sei von der Aufsichtskommission des Kantons St. Gallen mit Fr. 200.--
gebüsst worden, weil er in schwerwiegender Weise gegen Art. 11 und
6 der Anwaltsordnung dieses Kantones verstossen habe und eine grobe
Pflichtverletzung offenkundig sei. Im angefochtenen Entscheid wies
es zudem auf möglicherweise angespannte finanzielle Verhältnisse des
Beschwerdeführers hin, die es im Entscheid über das Wiedererwägungsgesuch
jedoch wiederum relativierte: Massgebend sei der Umstand, dass der
Beschwerdeführer wegen pflichtwidrigen Verhaltens habe gebüsst werden
müssen.

    b) Aus den Akten ergibt sich einzig die erwähnte Disziplinarbusse
von Fr. 200.--. Nach Art. 62 Abs. 5 des damals geltenden sanktgallischen
Gesetzes vom 20. März 1939 über die Zivilrechtspflege konnte die
Aufsichtskommission bei grober Pflichtverletzung Rügen aussprechen
oder Ordnungsstrafen bis zu Fr. 500.-- verhängen oder den Antrag auf
Entziehung des Patentes oder Einstellung im Berufe beim Kantonsgericht
einbringen. Obwohl die Aufsichtskommission die Pflichtverletzung des
Beschwerdeführers als grob qualifizierte, hat sie mit der Ausfällung einer
Busse von Fr. 200.-- eine verhältnismässig milde Sanktion getroffen und
den Bussenrahmen nicht einmal zur Hälfte ausgeschöpft.

    Freilich sind auch die konkreten Umstände, welche zu dieser Busse
führten, zu prüfen. Der Beschwerdeführer leitete gemäss dem Entscheid
der Aufsichtskommission zweimal einkassierte Gelder verspätet weiter,
so dass er gemahnt werden musste. Auch ermangelte den Abrechnungen des
Beschwerdeführers die Übersichtlichkeit, indem er in einem Fall Fr. 524.--
grundlos zurückbehielt. Schliesslich machte er in einem Fall falsche
Angaben über seine Mandatsführung und verstiess in grober Weise gegen
Regeln des Anstandes gegenüber einem ausländischen Kollegen.

    c) Diese Vorwürfe vermögen wohl Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit des
Beschwerdeführers zu erwecken. Doch fragt sich, ob die Verhältnismässigkeit
gewahrt ist, wenn allein deswegen die Berufsausübungsbewilligung verweigert
wird. Nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip darf der Eingriff in die
Handels- und Gewerbefreiheit keine Wirkungen hervorrufen, die weitergehen,
als der Zweck der Massnahme es erfordert. Behördliche Einschränkungen
sind nur zulässig, soweit sie nicht über das von der Sache her Notwendige
hinausgehen sowie in räumlicher, zeitlicher und persönlicher Sicht nicht
übermässig sind (BGE 117 Ia 446 E. 4a mit Hinweis). In dieser Hinsicht
ist zu beachten, dass seit den Verstössen des Beschwerdeführers und
dem Entscheid der Aufsichtskommission bereits längere Zeit verstrichen
ist, ohne dass weitere Pflichtwidrigkeiten des Beschwerdeführers
aktenkundig geworden wären. Auch liess die Aufsichtskommission des
Kantons St. Gallen trotz der von ihr als "grobe Pflichtverletzungen"
qualifizierten Vorfälle es bei einer Busse von Fr. 200.-- bewenden. Wohl
ist der Nichtdomizilkanton beim Entscheid über die Erteilung der
Berufsausübungsbewilligung nicht an den Entscheid des Domizilkantons
gebunden. (Der Meinung des Beschwerdeführers, dass ein Drittkanton die
Art. 31 und 33 BV verletze, wenn er schärfere Sanktionen ausfälle als
der Domizilkanton, kann so nicht gefolgt werden.) Aufgrund der Würdigung
der gesamten Sachlage lässt es sich indessen nicht rechtfertigen, dem
Beschwerdeführer die Berufsausübungsbewilligung gestützt auf die erwähnten
Vorfälle zu verweigern. Der angefochtene Entscheid des Obergerichts des
Kantons Bern, mit welchem das Gesuch des Beschwerdeführers um Erteilung
der allgemeinen Berufsausübungsbewilligung abgewiesen wurde, widerspricht
deshalb dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit und damit der Handels-
und Gewerbefreiheit.