Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IA 316



119 Ia 316

37. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 17. März 1993 i.S. T. gegen Kreisgerichtsausschuss Disentis,
Staatsanwaltschaft und Kantonsgericht Graubünden (Ausschuss)
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK; öffentliche Verhandlung in strafrechtlichem
Berufungsverfahren.

    1. Grundsätze des Erfordernisses einer mündlichen Verhandlung im
Verfahren vor einer Rechtsmittelinstanz (E. 2b).

    2. Angesichts der gesamten Umstände stellt das Absehen von einer
mündlichen Verhandlung im vorliegenden Fall eine Verletzung von Art. 6
Ziff. 1 EMRK dar (E. 2d).

Sachverhalt

    A.- Aufgrund einer Anzeige der beiden Jäger C. und M. wurde
T. vorgeworfen, auf dem Gebiete der Gemeinde Trun in Verletzung
der Jagdbetriebsvorschriften, des kantonalen Jagdgesetzes und der
Ausführungsbestimmungen zum kantonalen Jagdgesetz einen 3 1/4jährigen
Gemsbock erlegt, das erlegte Wild beiseite geschafft und den Abschuss nicht
in die Abschussliste eingetragen zu haben. Mit Strafmandat auferlegte
der Kreispräsident Disentis T. eine Busse von Fr. 1'000.-- und einen
Jagdausschluss von sechs Jahren und verpflichtet ihn zum Wertersatz
des Wildes. Der Kreisgerichtsausschuss Disentis bestätigte in der Folge
Schuld und Strafe.

    T. gelangte an das Kantonsgericht des Kantons Graubünden und
beantragte Freispruch von Schuld und Strafe. Er ersuchte darum, es sei
ein Augenschein vorzunehmen, ein weiterer Zeuge sowie er selber seien
gerichtlich einzuvernehmen. Er machte im wesentlichen eine willkürliche
Beweiswürdigung geltend, insbesondere in bezug auf den Erlegungsort und
die Marschzeiten im Gelände, und beteuerte, nicht der fehlbare Jäger
gewesen zu sein.

    Der Ausschuss des Kantonsgerichts Graubünden wies die Berufung ab. Er
erachtete die Beweisanträge betreffend Zeugeneinvernahmen als unerheblich
und sah angesichts der bisherigen Beteiligung am ganzen Verfahren von einer
gerichtlichen Einvernahme des Angeschuldigten ab. In der Sache selbst
gelangte das Gericht unter eingehender Würdigung der Beweisergebnisse
zum Schluss, dass es sich beim fehlbaren Jäger klarerweise um den
angeschuldigten T. handle.

    Gegen dieses Urteil hat T. beim Bundesgericht staatsrechtliche
Beschwerde erhoben und u.a. dessen Aufhebung verlangt. Er
beruft sich u.a. auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK und beanstandet, dass der
Kantonsgerichtsausschuss entgegen seinem Antrag ohne mündliche Verhandlung
entschieden hat.

    Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gestützt
auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK gut, soweit auf sie eingetreten werden konnte.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht u.a. geltend, es verstosse gegen die
Garantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, dass der Kantonsgerichtsausschuss
entgegen seinem ausdrücklichen Antrag keine mündliche Verhandlung
durchgeführt hat. Diese formelle Rüge gilt es vorweg zu prüfen.

    a) Es steht ausser Zweifel, dass das Verfahren vor dem
Kantonsgerichtsausschuss eine Strafsache im Sinne von Art. 6 Ziff. 1
EMRK betrifft. Ein Ausschlussgrund gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK oder nach
einem Vorbehalt der Schweiz zu Art. 6 EMRK fällt ausser Betracht. Wie
sich aus dem Zusammenhang und insbesondere der Beschwerdeschrift ergibt,
rügt der Beschwerdeführer nicht so sehr das Fehlen der Öffentlichkeit,
sondern vielmehr den Umstand, dass das Kantonsgericht keine mündliche
Verhandlung durchgeführt und ihn nicht in billiger Weise angehört hat.

    Im vorliegenden Fall stellt sich daher die Frage, ob -
nach Abhaltung einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung
vor dem Kreisgerichtsausschuss Disentis als erster Instanz - der
Kantonsgerichtsausschuss als Berufungsinstanz gestützt auf Art. 6 Ziff. 1
EMRK eine mündliche Verhandlung hätte durchführen müssen.

    b) Im Strafverfahren hat der Angeschuldigte nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK
Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise und öffentlich gehört
werde. Dieser Anspruch ist Teilgehalt der umfassenden Garantie auf ein
faires Verfahren. Die Garantie auf einen "fair trial" bezieht sich nicht
bloss auf das erstinstanzliche Strafverfahren, sondern erstreckt sich
auf die Gesamtheit eines konkreten Verfahrens inklusive des gesamten
Rechtsmittelweges. Soweit im innerstaatlichen Recht Rechtsmittelinstanzen
vorgesehen sind (bzw. nach Art. 2 des Zusatzprotokolls Nr. 7 zur EMRK
vorgesehen werden müssen), ist die Einhaltung der Garantien auf einen "fair
trial" auch in oberen Instanzen sicherzustellen (Urteil des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte i.S. Ekbatani vom 26. Mai 1988, Ziff. 24,
Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Série A vol. 134;
Berichte der Europäischen Kommission für Menschenrechte i.S. Pardo vom
1. April 1992, Ziff. 49; i.S. Helmers vom 6. Februar 1990, Ziff. 44,
Série A vol. 212-A = EuGRZ 1991 S. 467).

    Die Art der Anwendung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auf Verfahren vor
Rechtsmittelinstanzen hängt von den Besonderheiten des konkreten Verfahrens
ab. Es ist insbesondere unter Beachtung des Verfahrens als Ganzem und der
Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, ob vor einer Berufungsinstanz
eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist (Urteil i. S. Helmers vom
29. Oktober 1991, Ziff. 31 f., Série A vol. 212-A = EuGRZ 1991 S. 415;
Urteil Ekbatani, aaO, Ziff. 24). Hierfür ist im einzelnen auf die Natur
des Rechtsmittelsystems, auf die Befugnisse der Berufungsinstanz sowie
die Eigenart der vorgetragenen Rügen und deren Behandlung abzustellen
(Urteil Helmers, aaO, Ziff. 32; Urteil Ekbatani, aaO, Ziff. 28). Der
Gerichtshof hat ausgeführt, dass selbst ein Berufungsgericht mit freier
Kognition hinsichtlich Tat- und Rechtsfragen nicht in allen Fällen
eine Verhandlung durchführen muss, da auch andere Gesichtspunkte wie
die Beurteilung der Sache innert angemessener Frist mitberücksichtigt
werden dürfen (Urteil Helmers, aaO, Ziff. 36). Von einer Verhandlung in
der Rechtsmittelinstanz könne etwa abgesehen werden, soweit die erste
Instanz tatsächlich öffentlich verhandelt hat, wenn allein die Zulassung
eines Rechtsmittels, nur Rechtsfragen oder aber Tatfragen zur Diskussion
stehen, die sich leicht nach den Akten beurteilen lassen, ferner wenn eine
reformatio in peius ausgeschlossen oder die Sache von geringer Tragweite
ist und sich etwa keine Fragen zur Person und deren Charakter stellen
(Urteil Helmers, aaO, Ziff. 36; Urteil Ekbatani, aaO, Ziff. 31; Urteil i.S.
Andersson vom 29. Oktober 1991, Ziff. 29, Série A vol. 212-B = EuGRZ
1991 S. 419; vgl. auch Urteil i.S. Fejde vom 29. Oktober 1991, Ziff. 33,
Série A vol. 212-C = EuGRZ 1991 S. 421; Urteil i.S. Axen vom 8. Dezember
1983, Ziff. 28, Série A vol. 72 = EuGRZ 1984 S. 225; Urteil i.S. Sutter vom
22. Februar 1984, Ziff. 29, Série A vol. 74 = EuGRZ 1984 S. 229; vgl. auch
Urteil i.S. Kamasinski vom 19. Dezember 1989, Ziff. 106 f., Série A
vol. 168). Für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung kann aber der
Umstand sprechen, dass die vorgetragenen Rügen die eigentliche Substanz des
streitigen Verfahrens betreffen (Urteil Helmers, aaO, Ziff. 38). Gesamthaft
kommt es entscheidend darauf an, ob die Angelegenheit unter Beachtung all
dieser Gesichtspunkte sachgerecht und angemessen beurteilt werden kann
(vgl. Urteil Helmers, aaO, Ziff. 37; vgl. zum Ganzen ARTHUR HAEFLIGER,
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, Bern 1993,
S. 154 f. J.A. FROWEIN/W. PEUKERT, EMRK-Kommentar, 1985, N. 79 zu
Art. 6; J. VELU/R. ERGEC, La Convention européenne des droits de l'homme,
Bruxelles 1990, Rz. 484; WOLFGANG PEUKERT, Die Garantie des "fair trial"
in der Strassburger Rechtsprechung, in: EuGRZ 1980 S. 268 f.).

    c) In Anbetracht dieser Kriterien gilt es für die Beurteilung der
vorliegenden Beschwerdesache die Natur des Berufungsverfahrens vor dem
Kantonsgerichtsausschuss sowie die im einzelnen unterbreiteten Rügen
darzustellen.

    Im Anschluss an das Urteil des Kreisgerichtsausschusses
Disentis hat der Beschwerdeführer gestützt auf Art. 141 StPO beim
Kantonsgerichtsausschuss Berufung eingelegt. Das Gericht kann nach
Art. 145 Abs. 3 StPO auf Antrag oder von Amtes wegen in allen Fällen das
Beweisverfahren ergänzen oder wiederholen oder die Untersuchung ergänzen
lassen. Wird im Berufungsverfahren eine Änderung des vorinstanzlichen
Urteils zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen beantragt,
so kann dieser nach Art. 144 Abs. 1 StPO die Durchführung einer
mündlichen Berufungsverhandlung verlangen; in den übrigen Fällen kann der
Gerichtspräsident eine solche von sich aus oder auf Antrag anordnen. Findet
keine mündliche Verhandlung statt, so trifft der Kantonsgerichtsausschuss
seinen Entscheid in Anwendung von Art. 144 Abs. 3 StPO ohne Parteivortritt
aufgrund der Akten. Nach Art. 146 Abs. 1 StPO überprüft das Gericht das
erstinstanzliche Urteil in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht frei,
darf die Strafe oder Massnahme aber nicht verschärfen, wenn nur zugunsten
des Verurteilten Berufung erhoben worden ist. Mit seinem Urteil bestätigt,
ändert oder hebt der Kantonsgerichtsausschuss gestützt auf Art. 146 Abs. 2
StPO das angefochtene Urteil auf; unter Umständen wird die Angelegenheit
zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

    Mit seiner Berufung hat der Beschwerdeführer dem
Kantonsgerichtsausschuss keine Rechtsfragen, sondern im wesentlichen
nur Sachverhaltsfragen unterbreitet. Er bestritt die Tat, der fehlbare
Jäger gewesen zu sein. Hierfür zog er mit verschiedenen Argumenten
die Glaubwürdigkeit der Aussagen der Anzeiger und hauptsächlichen
Zeugen C. und M. in Frage; er wies auf Widersprüche über die Orts-
und Distanzangaben hin und bezweifelte die Möglichkeit, dass sie ihn
hätten erkennen können. Schliesslich stellte er in Abrede, dass er die
vom Kreisgericht zugrunde gelegten Distanzen in den angenommenen Zeiten
habe zurücklegen können.

    d) Für die Beurteilung der Rüge, ob Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt
worden ist, kann vorerst festgehalten werden, dass im Verfahren vor dem
Kantonsgerichtsausschuss eine reformatio in peius ausgeschlossen war,
da ausschliesslich der Beschwerdeführer Berufung eingelegt hatte. Dieser
Umstand vermag für sich allein das Absehen von einer mündlichen Verhandlung
nicht zu rechtfertigen. Die Strafsache ist für den Beschwerdeführer
keine Geringfügigkeit; die Busse von Fr. 1'000.-- und das Jagdverbot
während sechs Jahren stellen für ihn eine schwere Sanktion dar. Weiter
gilt es zu berücksichtigen, dass dem Kantonsgerichtsausschuss nicht nur
hinsichtlich der Rechtsfragen, sondern auch in bezug auf die Tatfragen
freie Kognition zukam. Und in dieser Hinsicht stellten sich wesentliche,
den Kern der streitigen Strafsache betreffende Fragen, bestritt der
Beschwerdeführer doch sowohl die Tat als auch die Glaubwürdigkeit der
Aussagen der wichtigsten Zeugen. Der Kantonsgerichtsausschuss setzte
sich denn in seinem Urteil auch zur Hauptsache mit all diesen Fragen der
Sachverhaltsermittlung und Beweiswürdigung auseinander.

    All diese Umstände zeigen, dass die streitige Strafsache ohne
mündliche Verhandlung nicht im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK sachgerecht
entschieden werden konnte. Für eine angemessene Beurteilung der Strafsache
wäre vielmehr eine mündliche Äusserung des Beschwerdeführers vor dem
Kantonsgerichtsausschuss erforderlich gewesen.

    Demnach erweist sich die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde in
diesem Punkte als begründet und ist unter Aufhebung des angefochtenen
Urteils gutzuheissen. Bei dieser Sachlage braucht auf all die materiellen
Rügen betreffend die Feststellung des Sachverhalts, die Beweiswürdigung
sowie die antizipierte Beweiswürdigung hinsichtlich der gestellten
Beweisanträge nicht eingegangen zu werden, da der Kantonsgerichtsausschuss
die Strafsache in dieser Hinsicht nochmals wird prüfen müssen.