Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IA 260



119 Ia 260

31. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Oktober 1993
i.S. Z. gegen Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; rechtliches Gehör im Verfahren der fürsorgerischen
Freiheitsentziehung; Recht auf Vertretung und Verbeiständung.

    Wird einem Rechtsbeistand die Teilnahme an einer fachrichterlichen
Begutachtung der psychisch kranken Person verweigert, ist das aus dem
Gehörsanspruch fliessende Recht auf Vertretung und Verbeiständung im
Regelfall nicht verletzt, wenn er und die betroffene Person nachträglich
in das Gutachten Einblick erhalten und zu den dortigen Schlussfolgerungen
Stellung nehmen können (E. 6).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 6

    6.- Die Beschwerdeführerin macht ferner geltend, ihr Anspruch auf
rechtliches Gehör sei verletzt worden, weil ihrem Rechtsbeistand die
Teilnahme an der fachrichterlichen Einvernahme verweigert worden sei. Sie
beruft sich dazu nicht auf eine Vorschrift des kantonalen Verfahrensrechts,
das in erster Linie den Umfang des Gehörsanspruchs umschreibt, sondern
lediglich auf Art. 4 BV.

    a) Art. 4 BV gewährleistet in allen Streitsachen den
Rechtsunterworfenen ein bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten. Ob
diese unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Regeln missachtet worden sind,
prüft das Bundesgericht frei (BGE 118 Ia 17 E. 1b und 104 E. 3a mit
Hinweisen).

    Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits
stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass
eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen
eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht der Betroffenen, sich
vor Erlass eines in ihre Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur
Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten
zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der
Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest
zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid
zu beeinflussen (BGE 119 Ib 12 E. 4; 118 Ia 17 E. 1c mit Hinweisen). Der
Gehörsanspruch schliesst das Recht ein, sich im Zivilprozess vertreten
und verbeiständen zu lassen (BGE 105 Ia 288 E. 2b; JÖRG PAUL MÜLLER,
Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, 2. A., Bern 1991,
S. 286, Ziff. 2.4).

    b) In gewisser Hinsicht ist dieses Recht auf Vertretung und
Verbeiständung in Art. 397f Abs. 2 ZGB konkretisiert worden. Nach
dieser Bestimmung bestellt der Richter der von einer fürsorgerischen
Freiheitsentziehung betroffenen Person wenn nötig einen Rechtsbeistand;
daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass der Rechtsbeistand zwingend
in jedem Stadium des Verfahrens anwesend zu sein hat. Es kann vielmehr
- gerade in ausgesprochen persönlichkeitsbezogenen Angelegenheiten -
durchaus verantwortbar oder gar erforderlich sein, dass eine Person ohne
Gegenwart ihres Rechtsvertreters oder Beistands angehört wird, um ein
möglichst unverfälschtes Bild ihrer Persönlichkeit zu erhalten.

    Das war nun aber vorliegend gerade der Grund, weshalb dem
Rechtsbeistand die Anwesenheit während der fachrichterlichen Befragung
der Beschwerdeführerin verweigert worden war. Mit den diesbezüglichen
Ausführungen im angefochtenen Entscheid setzt sich die Beschwerdeführerin
kaum auseinander. Insbesondere macht sie nicht geltend, es sei eine
die Parteiöffentlichkeit im Beweisverfahren vorsehende Vorschrift des
kantonalen Rechts missachtet worden, die nicht nur sie, sondern auch
ihren Rechtsbeistand zur Teilnahme an den Beweiserhebungen bzw. dieser
besonderen Beweiserhebung berechtigt hätte. Die Beschwerdeführerin wirft
der Verwaltungsrekurskommission mit keinem Wort vor, in dieser Hinsicht in
Willkür verfallen zu sein. Es kann sich deshalb einzig die Frage stellen,
ob der Gehörsanspruch - entsprechend der Minimalgarantie des Art. 4 BV -
der Betroffenen im Rahmen der fürsorgerischen Freiheitsentziehung das
Recht vermittelt, ihren Rechtsvertreter bei der Einvernahme durch den
sachverständigen Instruktionsrichter beiziehen zu können.

    c) Inwieweit zur wirksamen Interessenwahrung der Partei bzw. ihrem
Rechtsvertreter eine Teilnahme an Beweiserhebungen zugestanden werden muss,
beantwortet sich, ausgehend vom zugrunde liegenden Verfahren, je nach
Beweismittel unterschiedlich (vgl. HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem
Gesetze gleich, Bern 1985, S. 140 f. mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).
Während unter anderem die Teilnahme an einem Augenschein, sofern sie
die Partei innert nützlicher Frist verlangt hat (BGE 103 Ia 37 E. 5b),
nur ganz ausnahmsweise verweigert werden darf (BGE 116 Ia 94 E. 3b;
113 Ia 81 E. 3a mit Hinweis), ist das Ausschliessen von einer durch den
Sachverständigen durchgeführten Begutachtung zulässig, wenn die Partei
nachträglich in das Gutachten bzw. den Bericht Einblick erhält und zu den
dortigen Schlussfolgerungen Stellung nehmen kann (BGE 104 Ia 69 E. 3b;
99 Ia 42 E. 3b; 92 I 185 ff. mit Hinweis; JÖRG PAUL MÜLLER, aaO, S. 273
f., insbesondere Anm. 75).

    Was den besonderen Fall ärztlicher Gutachten betrifft, meint GULDENER
(Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. A., Zürich 1979, S. 178) kurz und
bündig: "Zu einer körperlichen Untersuchung oder einer psychiatrischen
Exploration durch einen Sachverständigen sind neben dem Exploranden
keine weiteren Personen zuzulassen." Dieser Auffassung ist für den
Regelfall mit Blick auf den rein fachbezogenen Untersuchungsauftrag der
Sachverständigen im Verfahren der fürsorgerischen Freiheitsentziehung
beizupflichten (vgl. Art. 397e Ziff. 5 ZGB). Um seinem Auftrag gerecht
zu werden, ist es unumgänglich, dass sich der ärztliche Gutachter einen
zuverlässigen persönlichen Eindruck vom psychischen Zustand des oder der
Betroffenen verschafft. Es muss ihm mithin das Recht zugestanden werden,
die Art und Weise der Begutachtung im Rahmen des Untersuchungszwecks
nach eigenem Ermessen festzulegen (vgl. GULDENER, aaO, S. 350 f.), so
auch, ob er weitere Personen daran teilnehmen lassen will oder eben
gerade nicht. Gleiches gilt für eine fachrichterliche Einvernahme,
deren Bedeutung einzig darin liegt, Grundlage für die Erstellung eines
Gutachtens zu sein. Einen eigentlichen Augenschein und damit einen Akt
der Beweiserhebung stellt auch sie nicht dar.

    d) Im vorliegenden Fall steht der freie Verkehr der Betroffenen
mit ihrem Rechtsvertreter nicht in Frage (BGE 114 Ia 182 E. 3b S. 187
mit Hinweis). Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber selbst, und zwar im
Bewusstsein der bedeutenden Interessen, die beim Freiheitsentzug auf
dem Spiel stehen, die Bestellung eines Rechtsbeistands nicht zwingend,
sondern nur bei Notwendigkeit vorgeschrieben hat (Art. 397f Abs. 2
ZGB). Unter diesen Umständen liegt keine Verletzung von Art. 4 BV darin,
dass der Rechtsbeistand nicht bei der Befragung und Untersuchung der
Beschwerdeführerin anwesend sein durfte. Es wird auch nicht etwa geltend
gemacht, die Beschwerdeführerin sei infolge besonderer Hilflosigkeit
auf den Beistand ihres Rechtsvertreters angewiesen gewesen oder der zu
begutachtende Sachverhalt sei so schwierig, dass der Betroffenen (und
ihrem Rechtsbeistand) ein Anspruch auf Mitwirkung bei der Instruktion des
Sachverständigen hätte zugestanden werden müssen oder dass es nötig gewesen
wäre, bereits in jenem Zeitpunkt dem Sachverständigen Ergänzungsfragen
stellen zu können (BGE 99 Ia 42 E. 3b).

    Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin kann daher von
einer Verletzung des Gehörsanspruchs nicht gesprochen werden. Nach
den Feststellungen im angefochtenen Entscheid diente die Anhörung dem
ärztlichen Fachrichter als Grundlage, um zuhanden des Gesamtgerichts
ein Gutachten und seinen Antrag zu stellen. Dem Rechtsbeistand der
Beschwerdeführerin wurde dieses Gutachten zugestellt und ihm gleichzeitig
die Gelegenheit geboten, sich zu dessen Inhalt zu äussern. Mehr lässt
sich aus dem Gehörsanspruch des Art. 4 BV nicht herleiten.

    Zur nicht ganz unbedenklichen Verquickung sachverständiger und
richterlicher Funktionen äussert sich die Beschwerde so wenig wie
zur weiteren heiklen Problematik, dass der mit der Prozessvorbereitung
betraute Richter, wie das in verschiedenen Prozessgesetzen vorgesehen wird,
zugleich in eigener Regie eine wesentliche Beweisgrundlage erstellt. Der
Rechtsvertreter pocht lediglich - und erst noch mit ganz allgemein
gehaltenen, wenig differenzierten Argumenten - auf sein Teilnahmerecht an
der Begutachtung, das ihm Art. 4 BV - wie gesagt - nicht garantiert. Die
Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet.