Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 119 IA 251



119 Ia 251

29. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 14. Juli 1993 i.S. Y.
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; unentgeltliche Rechtspflege (Kriterium der
Nichtaussichtslosigkeit).

    1. Ob der aus Art. 4 BV abgeleitete Anspruch auf unentgeltliche
Rechtspflege missachtet worden sei, prüft das Bundesgericht in rechtlicher
Hinsicht frei (Erw. 2b).

    2. Frage der Aussichtslosigkeit bei einer Scheidungsklage, auf welche
das angerufene Gericht - unter Hinweis auf die durch den andern Ehegatten
in einem andern Kanton eingeleitete gleichlautende Klage - wegen fehlender
örtlicher Zuständigkeit nicht eingetreten ist (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Eheleute A. und B. Y. sind seit 2. März 1984
verheiratet. B. Y. verliess am 3. März 1992 die eheliche Wohnung
in K. (Kanton Freiburg) und zog zu ihren Eltern nach L. (Kanton
St. Gallen). Am 25. März 1992 stellte sie beim dortigen Vermittleramt
das Gesuch, zum Vermittlungsvorstand vorzuladen über das Rechtsbegehren,
die Ehe sei zu scheiden.

    A. Y. erhob am 3. April 1992 durch Einreichung des Aussöhnungsgesuchs
beim Präsidenten des für K. zuständigen (freiburgischen) Zivilgerichts
seinerseits eine Scheidungsklage.

    Am 13. April 1992 wurde in L. der Vermittlungsvorstand durchgeführt
und anschliessend der Leitschein ausgestellt. Am nächsten Tag reichte
B. Y. beim Bezirksgericht M. (Kanton St. Gallen) die Scheidungsklage ein.

    Mit Eingabe vom 3. September 1992 ersuchte B. Y. den
Gerichtspräsidenten von M., ihr rückwirkend auf den Beginn des Verfahrens
die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren. Am 8. Dezember 1992
beschloss das Bezirksgericht M., dass auf die Klage von B. Y. (wegen
fehlender örtlicher Zuständigkeit) nicht eingetreten werde. Dem Begehren um
unentgeltliche Rechtspflege wurde nur insoweit stattgegeben, als B. Y. für
das Vermittlungsverfahren ein unentgeltlicher Vertreter zugestanden wurde.

    Den von B. Y. gegen den Entscheid betreffend unentgeltliche
Rechtspflege erhobenen Rekurs wies das Kantonsgericht St. Gallen
(II. Zivilkammer) am 24. März 1993 ab.

    B. Y. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
BV mit dem Antrag, das kantonsgerichtliche Urteil sei aufzuheben, soweit
ihr darin die unentgeltliche Prozessführung verweigert worden sei.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 281 Abs. 1 des sanktgallischen Zivilprozessgesetzes
(ZPO) hat eine Partei Anspruch auf Bewilligung der unentgeltlichen
Prozessführung, wenn ihr die Mittel fehlen, um neben dem Lebensunterhalt
für sich und die Familie die Prozesskosten aufzubringen. Die unentgeltliche
Prozessführung wird indessen unter anderem dann nicht bewilligt, wenn
das Verfahren aussichtslos erscheint (Art. 281 Abs. 2 lit. a ZPO).

    b) Die Beschwerdeführerin hält dafür, dass die kantonalrechtlichen
Erfordernisse für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege denjenigen
entsprächen, die für den unmittelbar aus Art. 4 BV abgeleiteten Anspruch
gelten würden. Indem das Kantonsgericht die erstinstanzliche Verweigerung
der unentgeltlichen Rechtspflege geschützt habe, habe es mithin diesen
Anspruch missachtet. Wie es sich damit verhält, kann das Bundesgericht
in rechtlicher Hinsicht frei prüfen (BGE 115 Ia 194 E. 2; 109 Ia 7 E. 1,
je mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.- Gestützt auf Art. 4 BV hat eine bedürftige Partei in einem
Zivilprozess Anspruch auf Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege,
wenn jener für sie nicht aussichtslos ist (BGE 117 Ia 281 ff.; 114 Ia
101 f. E. 2 mit Hinweisen).

    a) Die Feststellung der ersten Instanz, die Beschwerdeführerin müsse
zweifellos als bedürftig gelten, hat das Kantonsgericht nicht in Zweifel
gezogen. Es hat die unentgeltliche Rechtspflege ausschliesslich mit der
Begründung verweigert, die von der Beschwerdeführerin beim Bezirksgericht
M. eingereichte Scheidungsklage sei von Anfang an aussichtslos gewesen, da
A. Y. seinerseits im Kanton Freiburg bereits eine gleiche Klage anhängig
gemacht gehabt habe; angesichts der im einschlägigen Punkt klaren und
eindeutigen sanktgallischen Zivilprozessordnung sei die Unzuständigkeit
des Bezirksgerichts M. leicht feststellbar gewesen.

    b) Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Praxis
Prozessbegehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich
geringer sind als die Verlustgefahren und deshalb kaum als ernsthaft
bezeichnet werden können; dagegen hat ein Begehren nicht als aussichtslos
zu gelten, wenn Gewinnaussichten und Verlustgefahren sich ungefähr die
Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend
ist dabei, ob eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei
vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen oder aber davon
absehen würde (BGE 109 Ia 9 E. 4 mit Hinweisen).

    c) Die Beschwerdeführerin hatte im kantonalen Verfahren verschiedene
Argumente dafür vorgebracht, dass das Bezirksgericht M. für ihre
Klage zuständig und diese aus dieser Sicht deshalb nicht aussichtslos
sei. Unter anderem hatte sie sich auf Art. 36 Abs. 1 ZPO (in der seit
1. Juli 1991 geltenden Fassung) berufen, wo festgelegt wird, dass die
örtliche Zuständigkeit sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der
Klageerhebung bestimme.

    aa) Das Kantonsgericht geht in seinen Erwägungen selbst davon aus,
dass die von der Beschwerdeführerin angerufene Bestimmung gewisse
Wirkungen der Rechtshängigkeit auf den Zeitpunkt der Klageeinleitung
vorverlege. Es räumt sodann ein, dass die Kommission, welche die
Revision der Zivilprozessordnung vorberaten habe, die neue Fassung von
Art. 36 damit begründet habe, die Klage werde mit Anhebung bzw. mit dem
Vermittlungsbegehren im Sinne der bundesgerichtlichen Praxis zu den Art. 59
BV und 144 ZGB rechtshängig, und dass SCHERRER (Örtliche Zuständigkeit,
in: HANGARTNER [Hrsg.], Das st. gallische Zivilprozessgesetz, S. 77)
diese Auffassung übernommen habe. Für ihre davon abweichende Auslegung
der erwähnten - erst seit verhältnismässig kurzer Zeit geltenden -
verfahrensrechtlichen Bestimmung führt die kantonale Instanz demgegenüber
weder veröffentlichte Präjudizien noch etwa Meinungsäusserungen aus der
Literatur an.

    bb) Auch wenn das Kantonsgericht die zitierte Darlegung der
vorberatenden Kommission als missverständlich bezeichnet, kann unter
den angeführten Umständen keinesfalls gesagt werden, der Standpunkt der
Beschwerdeführerin bezüglich der Zuständigkeit des von ihr angerufenen
Bezirksgerichts M. sei im Sinne der bundesgerichtlichen Praxis zur
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege aussichtslos gewesen (vgl. dazu
auch den in PVG 1988, Nr. 10, S. 35 f., veröffentlichten Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 24. Juni 1988, wonach die
Behörde bei heiklen und bestrittenen Rechtsfragen nicht zu Ungunsten des
Gesuchstellers Aussichtslosigkeit annehmen dürfe).