Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 V 88



118 V 88

11. Urteil vom 18. Mai 1992 i.S. H. gegen Ausgleichskasse des Kantons St.
Gallen und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen. Regeste

    Art. 50 IVG; Art. 84 IVV; Art. 45 AHVG; Art. 76 Abs. 1 AHVV.

    - Die Zustimmung zur Auszahlung der Rente an eine Drittperson oder
Behörde kann erst rechtswirksam erteilt werden, wenn der Beschluss der
Invalidenversicherungs-Kommission über den Rentenanspruch ergangen ist
(Erw. 2b).

    - Die Zustimmung zur Auszahlung der Rente an eine Drittperson
oder Behörde muss auf dem dafür vorgesehenen Formular gegenüber der
Ausgleichskasse erfolgen (Erw. 3).

    - Frage offengelassen, ob eine kantonale Gesetzesbestimmung
aus dem Bereich des Fürsorgerechts, welche eine Drittauszahlung von
Rentenleistungen auch für Fälle vorsieht, in welchen die Voraussetzungen
nach Art. 45 AHVG und Art. 76 AHVV oder die darüber hinausgehend von der
Praxis ebenfalls als hinreichend erachteten Bedingungen nicht erfüllt sind,
mit dem Bundesrecht vereinbar wäre (Erw. 5).

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 21. Juni 1990 sprach die Ausgleichskasse des
Kantons St. Gallen der 1952 geborenen M. H., alleinerziehenden Mutter
eines 1974 geborenen Sohnes, gestützt auf einen entsprechenden Beschluss
der Invalidenversicherungs-Kommission vom 3. April 1990 rückwirkend ab
1. Januar 1986 eine halbe Invalidenrente mitsamt Kinderrente zu.

    Zusammen mit der Anmeldung zum Leistungsbezug vom 27. Januar 1987
war der Ausgleichskasse das Formular "Gesuch um Rentenauszahlung an
eine Drittperson oder Behörde" eingereicht worden, das als Grund für die
von der Gemeinde B. beantragte Rentenüberweisung an sie "Rückzahlungen
Fürsorgeleistungen" angab und von der Versicherten unterzeichnet worden
war. Nachdem die Gemeindeverwaltung B. von der Rentenzusprechung erfahren
hatte, ersuchte sie die Ausgleichskasse am 24. April 1990 um Ausrichtung
der auf die Zeit vom 1. Januar 1986 bis 1. Oktober 1987 entfallenden
Rentennachzahlungen, da M. H. bis zu ihrem Wegzug aus der Gemeinde am
1. Oktober 1987 Fürsorgeunterstützung in Höhe von insgesamt Fr. 42'520.50
bezogen habe. Dem Schreiben lag eine Abtretungserklärung bei, welche von
M. H. nicht unterzeichnet worden war.

    Am 8. Mai 1990 reichte auch die Fürsorgebehörde der Gemeinde S., wo
M. H. ab Ende 1987 wohnte, der Ausgleichskasse, unter Hinweis auf gewährte
Unterstützung, das Formular "Gesuch um Rentenauszahlung an eine Drittperson
oder Behörde" ein. Dieses Gesuch war von der Leistungsberechtigten nicht
unterzeichnet worden. Die Gemeinde S. erneuerte am 12. Juni 1990 ihr
Drittauszahlungsbegehren, wobei sie die Kopie eines Auszuges aus dem
von der Versicherten am 25. November 1987 unterschriftlich erteilten
Inkassoauftrag im Zusammenhang mit einer Alimentenbevorschussung
einreichte. Auf dieser Kopie findet sich abschliessend die Klausel: "Ich
gebe die Zustimmung, dass Vorschussleistungen mit allfällig rückwirkend
eingehenden Sozialleistungen (AHV-, IV- oder anderen Renten und Taggeldern)
verrechnet werden."

    Aufgrund dieser Drittauszahlungsbegehren ordnete die Ausgleichskasse in
der Rentenverfügung vom 21. Juni 1990 die Verrechnung der Rentennachzahlung
für die Zeit vom 1. Januar 1986 bis 30. Juni 1990 mit "Vorschussleistungen
des Fürsorgeamtes" von Fr. 36'623.75 an, so dass schliesslich noch die
Rente für den Monat Juni 1990 im Betrag von Fr. 748.-- und die ab Juli
1990 laufenden Rentenbetreffnisse zur Ausrichtung an die Versicherte
selbst gelangten.

    B.- In der gegen die Verrechnung mit Fürsorgeleistungen erhobenen
Beschwerde bestritt M. H. im wesentlichen, ihre Zustimmung dazu erteilt zu
haben. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, das eine ablehnende
Vernehmlassung der Ausgleichskasse eingeholt und die Gemeinden B. und
S. beigeladen hatte, wies die Beschwerde mit Entscheid vom 7. Mai 1991 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde wendet sich M. H. gegen die
vorinstanzlich bestätigte Drittauszahlung, da sie einer Direktüberweisung
der Rentennachzahlung an die Fürsorgebehörde nie zugestimmt habe. Zudem
reicht sie ein Schreiben des Fürsorgeamtes S. vom 28. Dezember 1990 ein,
in welchem sie aufgefordert wird, die Rentennachzahlung im Umfang von
insgesamt Fr. 36'623.75 für die geleisteten Unterstützungsbeiträge
abzutreten und den "Rekurs und allfällig weitere Beschwerden in
Bezug auf die IV-Rentennach- und auszahlung an die Fürsorgebehörde
S. ... unwiderruflich und vorbehaltlos" zurückzuziehen. Die entsprechende
Bestätigung war von der Versicherten nicht unterzeichnet worden.

    Die Ausgleichskasse sowie die Gemeinden B. und S. als Mitinteressierte
schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt
für Sozialversicherung verzichtet auf einen Antrag.

    Auf die einzelnen Vorbringen in den Rechtsschriften wird, soweit
erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Der Streit um die Drittauszahlung einer Invalidenrente
nach Art. 50 IVG und Art. 84 IVV in Verbindung mit Art. 45 AHVG
und Art. 76 AHVV betrifft nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen (nicht veröffentlichte Urteile i.S. Fürsorgebehörde
P. vom 29. Oktober 1990, Fürsorgebehörde B. vom 28. April 1989 sowie
Ausgleichskasse S. und Gemeinde W. vom 22. April 1992). Bei Streitigkeiten
über den Auszahlungsmodus hat das Eidg. Versicherungsgericht deshalb
nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Richter Bundesrecht verletzt hat,
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der
rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden
ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2
OG). Zudem ist das Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario;
Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 OG).

    b) Gestützt auf Art. 50 IVG in Verbindung mit Art. 45 AHVG hat
der Bundesrat in Art. 76 AHVV Vorschriften über die Gewährleistung
zweckmässiger Verwendung von Renten aufgestellt. Nach den zitierten
Bestimmungen kann die Ausgleichskasse eine Invalidenrente
ganz oder teilweise einer geeigneten Drittperson oder Behörde
auszahlen, die dem Rentenberechtigten gegenüber gesetzlich oder
sittlich unterstützungspflichtig ist oder ihn dauernd fürsorgerisch
betreut. Voraussetzung ist, dass der Rentenberechtigte die Renten nicht für
den Unterhalt seiner selbst und der Personen, für welche er zu sorgen hat,
verwendet oder dass er nachweisbar nicht imstande ist, die Rente hiefür
zu verwenden, und dass er oder die Personen, für welche er zu sorgen hat,
deswegen ganz oder teilweise der öffentlichen oder privaten Fürsorge zur
Last fallen (Art. 76 Abs. 1 AHVV). Nach der Rechtsprechung rechtfertigt
die Tatsache allein, dass jemand von einer Fürsorgebehörde unterstützt
wird, noch nicht die Auszahlung an diese Behörde (BGE 101 V 20, ZAK 1990
S. 254 Erw. 2a, je mit Hinweisen).

    Im weiteren hat die Verwaltungspraxis seit jeher die Drittauszahlung
unter bestimmten Voraussetzungen auch dann zugelassen, wenn die
Bedingungen des Art. 76 AHVV über die Gewährleistung zweckmässiger
Rentenverwendung nicht erfüllt sind, obschon grundsätzlich jede
Abtretung einer Invalidenrente aufgrund von Art. 50 IVG in Verbindung
mit Art. 20 Abs. 1 AHVG nichtig ist. So können Rentennachzahlungen
auf Gesuch hin privaten oder öffentlichen Fürsorgestellen ausbezahlt
werden, welche entsprechende Vorschussleistungen erbracht haben.
Solche Drittauszahlungen setzen nach der Verwaltungspraxis jedoch voraus,
dass die Vorschussleistungen tatsächlich erbracht worden sind und dass der
Leistungsberechtigte oder sein gesetzlicher Vertreter der Drittauszahlung
schriftlich zugestimmt hat. Diese Praxis hat das Eidg. Versicherungsgericht
wiederholt unbeanstandet gelassen (BGE 110 V 13 Erw. 1b; ZAK 1990 S. 254 f.
Erw. 2a, je mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- a) Die Beschwerdeführerin hatte zwar im Zeitpunkt ihrer Anmeldung
zum Leistungsbezug vom 27. Januar 1987 dem Drittauszahlungsbegehren
der Gemeinde B. auf dem Formular "Gesuch um Rentenauszahlung an eine
Drittperson oder Behörde" unterschriftlich zugestimmt. Es stellt sich
aber die Frage, ob eine - im Sinne der vorstehend erwähnten und von der
Rechtsprechung als zulässig erklärten Verwaltungspraxis - rechtsgenügliche
Zustimmung zur Drittauszahlung an eine bevorschussende Fürsorgeinstitution
bereits erteilt werden kann, bevor das Bestehen eines Anspruches auf
Leistungen der Invalidenversicherung in grundsätzlicher, masslicher und
zeitlicher Hinsicht überhaupt feststeht.

    b) Zivilrechtlich gesehen mögen keine Bedenken bestehen, eine im
voraus abgegebene Zustimmungserklärung zur Drittauszahlung einer noch nicht
feststehenden Leistung gegenüber der Invalidenversicherung als wirksam zu
betrachten; denn grundsätzlich sind auch noch nicht fällige, bestrittene,
bedingte oder zukünftige Forderungen, vorbehältlich der Schranken der
guten Sitte (Art. 20 OR) und des Persönlichkeitsrechts (Art. 27 ZGB),
im Sinne von Art. 164 Abs. 1 OR zedierbar (GUHL/MERZ/KUMMER, 8. Aufl.,
S. 248). Fraglich ist indessen, ob diese zivilrechtliche Betrachtungsweise
auch im Sozialversicherungsrecht Geltung beanspruchen kann, behält
doch Art. 164 Abs. 1 OR u.a. Gesetz und Natur des Rechtsverhältnisses
ausdrücklich vor.

    Der von der Verwaltungspraxis eingeführten und von der Rechtsprechung
geschützten Möglichkeit, Drittauszahlungen auch zu verfügen, wenn
die in Art. 45 AHVG in Verbindung mit Art. 76 Abs. 1 AHVV erwähnten
Voraussetzungen nicht erfüllt sind, muss im Rahmen des gesetzlichen
Kontextes absoluter Ausnahmecharakter zukommen, da nach Art. 20 Abs. 1
AHVG grundsätzlich jeder Rentenanspruch unabtretbar, unverpfändbar
und der Zwangsvollstreckung entzogen (Satz 1) und jede Abtretung oder
Verpfändung nichtig ist (Satz 2). Die Drittauszahlung gemäss dargelegter
Praxis besteht zwar nicht contra, aber doch praeter legem. An die
Einwilligung des Versicherten zur Drittauszahlung sind deshalb strenge
Anforderungen zu stellen. Sie darf nur Rechtswirksamkeit entfalten,
wenn die Tragweite der Zustimmungserklärung klar ersichtlich ist.
Der bereits im Zeitpunkt der Anmeldung zum Rentenbezug - in welchem der
Anspruch gegenüber der Invalidenversicherung noch gänzlich unbestimmt ist
- erfolgten Zustimmung kann deshalb nicht dieselbe Bedeutung wie einer
Erklärung nach Bekanntgabe der konkret zugesprochenen Versicherungsleistung
beigemessen werden. Die Zustimmung zur Drittauszahlung kann daher erst
dann rechtsgültig erteilt werden, wenn der entsprechende Beschluss
der Invalidenversicherungs-Kommission ergangen ist. Im Rahmen des
daraufhin einsetzenden Vorbescheidverfahrens hat die Verwaltung bis
zum Verfügungserlass Gelegenheit, eine allfällige Einwilligung zur
Drittauszahlung einzuholen oder, falls diese vom antragstellenden Dritten
beigebracht wird, deren Eingang abzuwarten.

    c) Die bereits 1987 unterschriftlich erfolgte Zustimmung zur
Überweisung der Rentennachzahlungen an die Gemeinde B. auf dem dafür
vorgesehenen Gesuchsformular genügt demnach als Grundlage für die nunmehr
angefochtene Verrechnung mit Unterstützungsleistungen der Fürsorgebehörde
nicht.

Erwägung 3

    3.- Im weiteren hat die Beschwerdeführerin in keinem Stadium des
Verfahrens einer Drittauszahlung der am 21. Juni 1990 zugesprochenen
Invalidenrente an die Gemeinde S. zugestimmt. Sämtliche ihr unterbreiteten
Abtretungserklärungen wurden von ihr nicht unterschrieben. Daran ändert
auch die im Zusammenhang mit der Alimentenbevorschussung erteilte
Einwilligung nichts, da die diesbezüglich abgegebene Zessionserklärung
keinesfalls eine gegenüber der Ausgleichskasse rechtswirksam erfolgte
Zustimmung zur Drittauszahlung zu ersetzen vermag. Am Erfordernis, dass die
Einwilligung des Versicherten auf dem dafür vorgesehenen Formular gegenüber
der Ausgleichskasse erfolgen muss, ist auf jeden Fall festzuhalten. Dem
Versicherten dürfen im sozialversicherungsrechtlichen Prozess um die
Drittauszahlung von Rentenleistungen nicht Erklärungen entgegengehalten
werden, welche er in ganz anderem Zusammenhang abgegeben hat. Im übrigen
geht es auch nicht an, dass eine Fürsorgebehörde, wie vorliegend diejenige
der Gemeinde S., noch nach Einleitung des kantonalen Rechtsmittelverfahrens
und während dessen Hängigkeit ausserprozessual versucht, vom Versicherten
die für eine Drittauszahlung erforderliche Einwilligung zu erwirken,
welche gerade Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens bildet.

Erwägung 4

    4.- Insgesamt liegt somit keine gültige Zustimmung zur Drittauszahlung
vor. Da auch durch nichts ausgewiesen ist, dass die Voraussetzungen des
in Art. 20 Abs. 1 Satz 3 AHVG vorbehaltenen Art. 45 AHVG, welcher in
Art. 76 AHVV seine Konkretisierung gefunden hat, erfüllt wären, ist die
von der Verwaltung verfügte und vorinstanzlich bestätigte Verrechnung
der Rentennachzahlungen mit den von den Fürsorgebehörden erbrachten
Unterstützungsleistungen unzulässig.

Erwägung 5

    5.- Theoretisch könnte sich noch die Frage stellen, ob Art.
45 AHVG und Art. 76 AHVV für allfällige darüber hinausgehende
Drittauszahlungsnormen des kantonalen Sozialhilferechts Raum
lassen. Bezüglich des Vormundschaftsrechts, welches Bundesprivatrecht
ist, wird dies mit dem Argument bejaht, das Sozialversicherungsrecht
setze gleichsam das Familienrecht voraus (BGE 102 V 36 mit Hinweisen;
EVGE 1959 S. 197). Ein Vormund oder die Vormundschaftsbehörde könne
deshalb eine Ausgleichskasse, im Rahmen der Bestimmungen des ZGB
über die Vormundschaft, verpflichten, eine Rente ihnen statt dem
Bevormundeten selbst auszubezahlen, gänzlich unbesehen darum, ob die
sozialversicherungsrechtlichen Normen über die Gewährleistung zweckmässiger
Rentenverwendung dies ebenfalls zulassen würden (zur Zulässigkeit
kantonaler Bestimmungen über die Drittauszahlung im EL-Bereich vgl. ZAK
1989 S. 227 Erw. 4). Im vorliegenden Fall geht es indessen nicht um
vormundschaftliche Massnahmen, sondern um eine Unterstützung durch die
öffentliche Sozialhilfe. Wie bereits im nicht veröffentlichten Urteil
i.S. Ausgleichskasse S. und Gemeinde W. vom 22. April 1992 kann auch
hier offenbleiben, ob sich ein Rechtstitel für die Verrechnung durch
direkte Nachzahlung an die Fürsorgebehörde allenfalls aus der kantonalen
Sozialhilfegesetzgebung ableiten liesse. Denn solches wird von keiner
Seite behauptet, und kantonales Recht ist im Rahmen von Art. 104 lit. a
OG nicht von Amtes wegen anzuwenden.