Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 V 283



118 V 283

35. Auszug aus dem Urteil vom 22. Oktober 1992 i.S. Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt gegen S. und Verwaltungsgericht des Kantons
Bern Regeste

    Art. 9 Abs. 1 UVV: Unfallbegriff, ungewöhnlicher äusserer Faktor. Bei
der Beurteilung der Frage, ob eine bestimmte medizinische Massnahme den
gesetzlichen Unfallbegriff erfüllt, kommt der Indikation zum Eingriff
keine Rechtserheblichkeit zu.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 9 Abs. 1 UVV, der die vom Eidg.
Versicherungsgericht in ständiger Rechtsprechung verwendete Definition
übernommen hat (BGE 116 V 138 Erw. 3a und 147 Erw. 2a mit Hinweisen),
gilt als Unfall die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende
Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen
Körper. Nach der Definition des Unfalls bezieht sich das Begriffsmerkmal
der Ungewöhnlichkeit nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern
nur auf diesen selber. Ohne Belang für die Prüfung der Ungewöhnlichkeit
ist somit, dass der äussere Faktor allenfalls schwerwiegende, unerwartete
Folgen nach sich zog. Der äussere Faktor ist ungewöhnlich, wenn er
den Rahmen des im jeweiligen Lebensbereich Alltäglichen oder Üblichen
überschreitet. Ob dies zutrifft, beurteilt sich im Einzelfall, wobei
grundsätzlich nur die objektiven Verumständungen in Betracht fallen
(BGE 116 V 138 Erw. 3b und 147 Erw. 2a mit Hinweisen).

    b) Diese Grundsätze zum Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit
gelten auch, wenn zu beurteilen ist, ob ein ärztlicher Eingriff den
gesetzlichen Unfallbegriff erfüllt. Die Frage, ob eine ärztliche Vorkehr
als mehr oder weniger ungewöhnlicher äusserer Faktor zu betrachten sei,
ist aufgrund objektiver medizinischer Kriterien zu beantworten. Sie
ist nur dann zu bejahen, wenn die ärztliche Vorkehr als solche den
Charakter des ungewöhnlichen äusseren Faktors aufweist; denn das
Merkmal der Aussergewöhnlichkeit bezieht sich nach der Definition des
Unfallbegriffs nicht auf die Wirkungen des äusseren Faktors, sondern
allein auf diesen selber. Nach der Praxis ist es mit dem Erfordernis
der Aussergewöhnlichkeit streng zu nehmen, wenn eine medizinische
Massnahme in Frage steht. Damit eine solche Vorkehr als ungewöhnlicher
äusserer Faktor qualifiziert werden kann, muss ihre Vornahme unter den
jeweils gegebenen Umständen vom medizinisch Üblichen ganz erheblich
abweichen und zudem, objektiv betrachtet, entsprechend grosse Risiken
in sich schliessen. Im Rahmen einer Krankheitsbehandlung, für welche der
Unfallversicherer nicht leistungspflichtig ist, kann ein Behandlungsfehler
ausnahmsweise den Unfallbegriff erfüllen, nämlich wenn es sich um grobe
und ausserordentliche Verwechslungen und Ungeschicklichkeiten oder
sogar um absichtliche Schädigungen handelt, mit denen niemand rechnet
noch zu rechnen braucht. Ob ein Unfall im Sinne des obligatorischen
Unfallversicherungsrechts vorliegt, beurteilt sich unabhängig davon, ob der
beteiligte Mediziner einen Kunstfehler begangen hat, der eine (zivil- oder
öffentlichrechtliche) Haftung begründet. Ebensowenig besteht eine Bindung
an eine allfällige strafrechtliche Beurteilung des ärztlichen Verhaltens
(RKUV 1988 Nr. U 36 S. 46 f. mit zahlreichen Hinweisen; vgl. auch MAURER,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 180 ff.).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall geht aus den Akten, insbesondere den Gutachten
der Dres. W. vom 15. Mai 1989 und Sch. vom 22. April 1988, hervor und
ist unbestritten, dass für die durchgeführte Carotisangiographie bei
richtiger Interpretation der CT-Aufnahmen keine Indikation bestand. Es
kann diesbezüglich auf die zutreffenden Ausführungen des kantonalen
Gerichts verwiesen und festgestellt werden, dass die Vornahme der
Carotisangiographie medizinisch nicht indiziert war.

    a) Die Vorinstanz erwog, bei der Beurteilung der Frage, ob die
medizinische Massnahme einen ungewöhnlichen äusseren Faktor darstelle,
komme der Indikation zum Eingriff eine zentrale Bedeutung zu. Die fehlende
Indikation sei bereits ein gewichtiges Indiz für die Ungewöhnlichkeit
des äusseren Faktors im Sinne einer erheblichen Abweichung vom
medizinisch Üblichen. Es bedürfe anschliessend nur noch eines kleinen,
sich realisierenden Risikos, damit der Unfallbegriff erfüllt sei. Es
bestehe folglich eine Wechselwirkung zwischen Indikation und Risiko:
Je weniger der Eingriff an sich gerechtfertigt sei, desto kleiner seien
die Risiken, welche dem Arzt bei dessen Durchführung zugebilligt werden
dürften. Erfolge der Eingriff hingegen zu Recht, müssten auch grössere
Risiken zugestanden werden.

    Für die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt stellt die
Indikation kein taugliches Abgrenzungskriterium zwischen der Kranken- und
der Unfallversicherung dar. Die medizinische Massnahme sei in der Regel
das Ergebnis einer Vielzahl von Entscheidungen über gesundheitsrelevante
Fragen. Der Einbezug der Indikation in die unfallversicherungsrechtliche
Beurteilung hätte zur Folge, dass jeweils die Krankengeschichte daraufhin
analysiert werden müsste, welche Entscheide des medizinischen Personals am
Misserfolg einer Behandlung beteiligt sein könnten. Im übrigen setze der
Unfallbegriff ein aktives Tun oder Unterlassen des medizinischen Personals
voraus. Die Indikation sei nur die innere Begründung für dieses Tun und
deshalb für den Unfallbegriff entbehrlich.

    b) Der Auffassung der Anstalt ist beizupflichten. Damit eine
medizinische Massnahme als ungewöhnlicher äusserer Faktor qualifiziert
werden kann, muss praxisgemäss ihre Vornahme unter den gegebenen Umständen
vom medizinisch Üblichen ganz erheblich abweichen (Erw. 2b). Entscheidend
ist mithin, ob der Eingriff als solcher das Begriffsmerkmal der
Aussergewöhnlichkeit erfüllt. Dagegen kommt der Indikation (dem
"Angezeigtsein") in diesem Zusammenhang weder für sich allein noch
im Verein mit anderen Umständen (wie ärztliche Fehlleistungen bei der
Durchführung der Massnahme) irgendwelche Bedeutung zu. Bei der Indikation
handelt es sich nicht um einen äusseren Faktor, sondern lediglich um den
- auf vorgängigen ärztlichen Abklärungen und Erkenntnissen beruhenden -
Grund, im Einzelfall ein bestimmtes diagnostisches oder therapeutisches
Verfahren zur Anwendung zu bringen. Erweist sich die Indikation für einen
im Rahmen der Krankheitsbehandlung erfolgten Eingriff im nachhinein
als falsch, liegt eine blosse Fehlbehandlung vor. Hierfür hat der
Unfallversicherer nicht aufzukommen, es sei denn, die (nicht indizierte)
Vorkehr selber überschreite die Schwelle der Aussergewöhnlichkeit.