Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 V 223



118 V 223

29. Urteil vom 4. November 1992 i.S. W. gegen Ausgleichskasse des
Kantons St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 22 Abs. 1 und 2 ELV. Indem Art. 22 Abs. 2 ELV den
EL-Nachzahlungsanspruch (gemäss Abs. 1) auf die Fälle der Herabsetzung
einer Invalidenrente beschränkt, trifft die Verordnung eine rechtsungleiche
Regelung. Der Nachzahlungsanspruch ist aus Gründen der Gleichbehandlung
auch in den Fällen der Heraufsetzung einer Invalidenrente zu gewähren.

Sachverhalt

    A.- Walter W. steht seit 1. November 1988 im Genuss einer halben
Invalidenrente (Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Zürich vom 7.
September 1989), welche durch Verfügung vom 11. Januar 1991 revisionsweise
mit Wirkung ab 1. August 1990 auf eine ganze Invalidenrente angehoben
wurde. Am 13. Januar 1991 reichte Walter W. das Formular zum EL-Bezug
ein, worauf die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen am 21. März 1991
die Zusprechung von Ergänzungsleistungen ab Januar 1991 verfügte.

    B.- Im Rahmen des hiegegen eingeleiteten Beschwerdeverfahrens
beanstandete der Versicherte einerseits die Behandlung verschiedener
Berechnungspositionen, anderseits - unter Hinweis darauf, dass er sich
bereits mit Schreiben vom 10. November 1990 an die AHV-Zweigstelle R. und
mit Schreiben vom 29. November 1990 an das Sozialamt dieser Stadt gewendet
hatte - den Umstand, dass ihm die Ergänzungsleistungen erst mit Wirkung
ab Januar 1991, und nicht schon ab November 1990, zugesprochen worden
waren. Nachdem sämtliche Rügen hinsichtlich der Berechnung erledigt
werden konnten, wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
die Beschwerde im streitig gebliebenen Punkt (Beginn des Anspruchs auf
Ergänzungsleistungen) ab (Entscheid vom 5. März 1992).

    C.- Walter W. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt
sinngemäss, es seien ihm, sofern und soweit die wirtschaftlichen
Voraussetzungen erfüllt seien, Ergänzungsleistungen bereits ab August 1990,
jedenfalls aber ab November 1990, zuzusprechen.

    Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV)
schliessen auf Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdeführer ab
Januar 1991 Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat, deren Höhe nicht mehr
bestritten ist. Streitig und zu prüfen ist einzig, ob dem Beschwerdeführer
ein Anspruch auf Nachzahlung von Ergänzungsleistungen ab 1. August 1990
- dem Beginn der revisionsweise zugesprochenen ganzen Invalidenrente -
zusteht, wie der Hauptantrag lautet.

Erwägung 2

    2.- a) aa) Nach Art. 21 Abs. 1 ELV besteht der Anspruch auf
Ergänzungsleistungen erstmals für den Monat, in dem die Anmeldung
eingereicht worden ist und sämtliche gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt
sind (Satz 1). Vorbehalten bleibt (Satz 2) Art. 22 Abs. 1 ELV, welcher
lautet:

    Wird die Anmeldung für eine Ergänzungsleistung innert sechs Monaten
seit
   der Zustellung der Verfügung über eine Rente der Alters- und

    Hinterlassenenversicherung oder der Invalidenversicherung eingereicht,
so
   beginnt der Anspruch mit dem Monat der Anmeldung für die Rente,
   frühestens jedoch mit der Rentenberechtigung.

    Diesen Abs. 1 betreffend die Nachzahlung bei erstmaliger
AHV/IV-Rentenberechtigung erklärt Art. 22 Abs. 2 ELV in Fällen eines
laufenden Rentenbezugs für folgendermassen anwendbar:

    "Wird eine laufende Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung
oder
   der Invalidenversicherung mittels Verfügung herabgesetzt, so findet
   Abs. 1

    Anwendung."

    bb) Das kantonale Gericht hat erwogen, eine Nachzahlung sei nach
Art. 22 Abs. 2 ELV bei Anpassungen laufender Renten auf den Fall der
Leistungsherabsetzung beschränkt, welche Voraussetzung vorliegend nicht
erfüllt sei.

    In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird Art. 22 Abs. 2 ELV als
gesetzwidrig gerügt, wogegen das BSV diese Bestimmung mit dem Hinweis
rechtfertigt:

    "Die Beschränkung in Abs. 2 auf die Herabsetzung einer laufenden Rente
   hat ihren Grund darin, dass die finanzielle Situation des Rentenbezügers
   sich mit der Herabsetzung verschlechtert. Wenn er mit der alten Rente
   noch genügend zum Leben hatte und da er nicht auf Ergänzungsleistungen
   angewiesen war, ist dies mit der verminderten Rente vielleicht
   nicht mehr der Fall. Eine Ausdehnung auf Fälle, bei denen eine Rente
   heraufgesetzt wird, drängt sich u. E. nicht auf. Wenn der Rentner
   mit der tieferen Rente nicht auf Ergänzungsleistungen angewiesen war,
   so ist er es um so weniger, wenn seine Rente heraufgesetzt wird."

    b) Nach der Rechtsprechung kann das Eidg. Versicherungsgericht
Verordnungen des Bundesrates grundsätzlich, von hier nicht in Betracht
fallenden Ausnahmen abgesehen, auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüfen. Bei
(unselbständigen) Verordnungen, die sich auf eine gesetzliche Delegation
stützen, prüft es, ob sie sich in den Grenzen der dem Bundesrat im Gesetz
eingeräumten Befugnisse halten. Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche
Delegation ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung
auf Verordnungsebene eingeräumt, muss sich das Gericht auf die Prüfung
beschränken, ob die umstrittenen Verordnungsvorschriften offensichtlich aus
dem Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen herausfallen
oder aus andern Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig sind. Es kann
jedoch sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates
setzen und es hat auch nicht die Zweckmässigkeit zu untersuchen. Die vom
Bundesrat verordnete Regelung verstösst allerdings dann gegen Art. 4 BV,
wenn sie sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt, wenn sie sinn-
oder zwecklos ist oder wenn sie rechtliche Unterscheidungen trifft, für
die sich ein vernünftiger Grund nicht finden lässt. Gleiches gilt, wenn die
Verordnung es unterlässt, Unterscheidungen zu treffen, die richtigerweise
hätten berücksichtigt werden sollen (BGE 117 V 180 Erw. 3a mit Hinweisen).

    c) aa) Die Argumentation des Bundesamtes zeigt, dass die Beschränkung
des in Art. 22 Abs. 1 ELV festgelegten Nachzahlungsanspruchs auf
Fälle der Herabsetzung einer laufenden Invalidenrente (Art. 22
Abs. 2 ELV) rechtsungleich ist. Das BSV verkennt, dass der einer
Rentenheraufsetzung nach Art. 41 IVG zugrunde liegende - zufolge
verschlechterter gesundheitlicher oder erwerblicher Verhältnisse
eingetretene - Einkommensverlust das erhöhte Rentenbetreffnis in aller
Regel übersteigt. Das liegt daran, dass IV-Leistungen nur eine pauschale
Abgeltung der mit gesundheitlich bedingter Erwerbsunfähigkeit verbundenen
Einkommenseinbussen bezwecken (BGE 112 V 130 Erw. 2d mit Hinweis).

    bb) Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Ein Versicherter, der im
Gesundheitsfall ein hypothetisches Valideneinkommen (Art. 28 Abs. 2 IVG)
von Fr. 40'000.-- erzielen könnte und bei einem Invaliditätsgrad von
50% eine halbe Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG) bezieht, verfügt im
günstigsten Fall, d.h. bei voller Ausnützung der ihm noch zumutbaren
Teilerwerbsfähigkeit, über folgende EL-rechtlich anrechenbaren (Art. 3
Abs. 1 ELG) Einkünfte:

    - Invalideneinkommen in Höhe von

    50% des Valideneinkommens von Fr. 40'000.--        Fr. 20'000.--

    - Anspruch auf die halbe Invalidenrente von
   (bis 31. Dezember 1991) 12 x Fr. 800.-- (50% der maximalen Vollrente
   bei hälftiger Invalidität)                         Fr.  9'600.--
                                                      -------------

    Total der insgesamt EL-rechtlich anrechenbaren

    Einkünfte                                          Fr. 29'600.--
                                                      =============

    Erwirbt der gleiche Versicherte revisionsweise (Art. 41 IVG) Anspruch
auf eine ganze Invalidenrente, verfügt er über folgende Einkünfte:

    - Invalideneinkommen zwischen

    Fr. 0.-- und höchstens                             Fr. 13'333.--

    - Anspruch auf die ganze Invalidenrente von
   (bis 31. Dezember 1991) 12 x Fr. 1'600.-- (maximale Vollrente)
   Fr. 19'200.--
                                                      -------------

    Total der insgesamt EL-rechtlich anrechenbaren

    Einkünfte zwischen Fr. 19'200.-- bis maximal       Fr. 32'533.--
                                                      =============

    Dieser Vergleich zeigt, dass der Versicherte, welcher nach Auffassung
des BSV mit höherer Invalidenrente "weniger" auf Ergänzungsleistungen
angewiesen sein soll als früher mit tieferer Invalidenrente, in
Wirklichkeit nur dann besserfährt, wenn er seine Resterwerbsfähigkeit
von einem Drittel voll ausschöpft (im Beispiel mit Fr. 13'333.--). Das
dürfte die Ausnahme bilden. Zudem lässt das EL-Recht die Anrechnung
hypothetischer Erwerbseinkommen nur in engen Grenzen zu (Berücksichtigung
auch invaliditätsfremder Gesichtspunkte, vgl. ZAK 1984 S. 97 Erw. 2
und 3). Ferner handelt es sich bei den durch Art. 14a und 14b ELV
normierten Anrechnungstatbeständen um gesetzliche Vermutungen, welche
der Versicherte nach der Rechtsprechung durch den Beweis des Gegenteils
widerlegen kann (BGE 117 V 205 Erw. 2b mit Hinweis). Bei Rentenbezügern
mit einem Invaliditätsgrad von mehr als 2/3 erfolgt schliesslich überhaupt
keine Anrechnung mehr (Art. 14a Abs. 2 lit. c ELV).

    cc) All dies belegt, dass die Heraufsetzung einer (z.B.) halben
auf eine ganze Invalidenrente die (nach Art. 3 ELG massgeblichen)
anspruchserheblichen Einkommensverhältnisse genau so entscheidend und
nachhaltig zu beeinflussen vermag wie umgekehrt (z.B.) die Herabsetzung
der ganzen auf eine halbe Invalidenrente; denn (höheres) Erwerbseinkommen
und (tiefere) Invalidenrente unterliegen beide nach Art. 3 Abs. 1 lit. a
und c ELG der EL-rechtlichen Anrechenbarkeit. Es lässt sich daher kein
sachlicher Grund namhaft machen, die in Art. 22 Abs. 2 ELV vorgesehene
Anwendung der Nachzahlungsregelung des Abs. 1 dieser Bestimmung bei
laufenden Renten auf die Fälle der Herabsetzung zu beschränken. Aus
Gründen der Rechtsgleichheit muss Art. 22 Abs. 2 ELV sich auch auf Fälle
der Rentenheraufsetzung beziehen.

    Somit steht dem Beschwerdeführer, als Ergebnis der vorfrageweisen
Prüfung des Art. 22 Abs. 2 ELV auf seine Vereinbarkeit mit dem
Gleichbehandlungsgrundsatz, nachzahlungsrechtlich ein Anspruch ab August
1990 zu. Dieser Schluss steht selbstverständlich unter dem Vorbehalt, wie
sich die rechtlich massgeblichen wirtschaftlichen Verhältnisse in diesem
Prüfungszeitraum entwickelt haben, was ausschlaggebend ist für die Frage,
ob und in welcher Höhe ab August 1990 ein EL-Anspruch entstanden ist
(Art. 21 Abs. 1 ELV).

Erwägung 3

    3.- Damit können alle andern Fragen offenbleiben, insbesondere,
ob die Schreiben des Beschwerdeführers vom 10. November 1990 an die
AHV-Zweigstelle R. und vom 29. November 1990 an das Sozialamt R. als
gültige Anmeldungen im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 20 ELV (vgl. BGE
103 V 70; ZAK 1989 S. 47 Erw. 2) zu betrachten sind.

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 5. März 1992 und
die angefochtene Verwaltungsverfügung, soweit sie die Nachzahlung eines
allfälligen Anspruchs auf Ergänzungsleistungen für die Zeit vor Januar
1991 ablehnen, aufgehoben, und es wird die Sache an die Ausgleichskasse des
Kantons St. Gallen zurückgewiesen, damit sie, nach ergänzenden Abklärungen
im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch des Beschwerdeführers auf
Nachzahlung von Ergänzungsleistungen ab August 1990 neu verfüge.