Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 V 177



118 V 177

22. Urteil vom 9. Juni 1992 i.S. G. gegen "Schweizer Union", Allgemeine
Versicherungs-Gesellschaft, und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
Regeste

    Art. 3 Abs. 1 UVG. Auslegung des Begriffs "Antritt der Arbeit" als
Voraussetzung für die Versicherungsdeckung.

Sachverhalt

    A.- Margrit G. (geb. 1945) ist seit der Wintersaison 1961/62
regelmässig für die Schweizer Skischule L. (SSSL) als Skilehrerin tätig
und seit Erwerb des Skilehrerpatentes im Jahre 1968 Genossenschafterin der
Skischule. Als deren Arbeitnehmerin ist sie bei der "Schweizer Union",
Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend Schweizer Union),
nach Massgabe des UVG obligatorisch versichert. Anfangs Dezember 1988
schloss sie - wie alljährlich - einen Arbeitsvertrag ab, wonach sie
sich verpflichtete, der SSSL während der kommenden Saison gegen eine
feste Tagespauschale als Skilehrerin für Klassen- oder Privatunterricht
zur Verfügung zu stehen. Zudem übernahm sie u.a. ausdrücklich die
Verpflichtung, den obligatorischen Einführungs- oder den kantonalen
Fortbildungskurs, die Trainingsstunden, die Rapporte, Theorie und
Diskussionen sowie die Skischulabende und Fackelabfahrten zu besuchen. Zum
Beginn der Tätigkeit äusserte sich der Vertrag nicht.

    Am Wochenende des 17./18. Dezember 1988, unmittelbar vor ihrem ersten
effektiven Einsatz für Skischulunterricht (19. Dezember 1988), absolvierte
Margrit G. den vom zuständigen kantonalen Amt für patentierte Skilehrer
alle zwei Jahre vorgeschriebenen obligatorischen Fortbildungskurs. Dabei
verunfallte sie am ersten Tag und zog sich nebst einem Wadenbeinbruch
links Verletzungen des Schultergelenks und des Daumens sowie eine
Gehirnerschütterung zu. Die SSSL meldete den Unfall der Schweizer Union,
welche in der Folge über längere Zeit die gesetzlichen Leistungen in Form
von Heilungskosten und Taggeldern in der Höhe von insgesamt Fr. 29'093.40
erbrachte. Nachdem die Versicherungsgesellschaft im Februar 1990 davon
Kenntnis erhalten hatte, dass die "tatsächliche" Anstellung als Skilehrerin
auf den 19. Dezember 1988 erfolgte, kam sie auf ihren Entscheid zurück
und verfügte am 9. November 1990 die Ablehnung ihrer Leistungspflicht für
das Schadenereignis vom 17. Dezember 1988. Zur Begründung führte sie aus,
der vor der tatsächlichen Anstellung besuchte Fortbildungskurs sei nicht
gedeckt, weil laut Gesetz die obligatorische Unfallversicherung erst an
dem Tag beginne, an dem der Arbeitnehmer die Arbeit antrete oder hätte
antreten sollen. Auf Einsprache hin bestätigte die Versicherung ihre
Ablehnungsverfügung (Entscheid vom 22. Januar 1991).

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, die
Schweizer Union sei zur Ausrichtung der vertraglichen und gesetzlichen
Leistungen in vollem Umfange zu verpflichten, wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 7. Juni 1991 ab.

    C.- Margrit G. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und das
vorinstanzliche Rechtsbegehren erneuern; eventuell sei die Sache zur
nochmaligen Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit Eingaben
vom 19. September und 9. Dezember 1991 werden verschiedene Unterlagen
nachgereicht.

    Die Schweizer Union und das Bundesamt für Sozialversicherung schliessen
auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 3 Abs. 1 UVG beginnt die Versicherung an dem Tag,
an dem der Arbeitnehmer aufgrund der Anstellung die Arbeit antritt oder
hätte antreten sollen, in jedem Falle aber im Zeitpunkt, da er sich auf den
Weg zur Arbeit begibt. Diese Regelung stimmt, von kleineren redaktionellen
Änderungen abgesehen, mit Art. 62 Abs. 1 KUVG überein, so dass die hiezu
ergangene Judikatur und Literatur auch für das neue Recht gültig sind. Was
unter dem Anknüpfungspunkt "Antritt zur Arbeit" zu verstehen ist, hat
das Eidg. Versicherungsgericht bereits in einem älteren Urteil aus dem
Jahre 1950 erläutert: Diese Formulierung wolle nichts anderes heissen,
als dass die Versicherung erst mit dem "Arbeitsbeginn" einsetze, also mit
der tatsächlichen Aufnahme der Arbeit. Arbeitsantritt und Arbeitsbeginn
seien synonyme Begriffe, wie der französische und italienische Gesetzestext
klar dartue ("dès que l'ouvrier a commencé le travail" [neu: dès le jour,
où le travailleur commence ... le travail]; "col cominciare del lavoro"
[neu: il giorno, in cui il lavoratore comincia ... l'attività]). Das
Wort "Antritt" in der deutschen Fassung sei nur gewählt worden, um
eine sprachliche Wiederholung zu vermeiden (EVGE 1950 S. 8 Erw. 1).
In EVGE 1963 S. 236 Erw. 4 wurde weiter argumentiert, für den Beginn
der Versicherung sei im Regelfall ein tatsächliches Ereignis (der
"Arbeitsantritt") massgebend, nicht dagegen ein rein rechtliches Verhältnis
("Anstellungsvertrag"). Laut BGE 97 V 208 Erw. 2 ist die Regelung über
den Beginn der Versicherung restriktiv zu interpretieren, wobei sich diese
Einschränkung allerdings auf den mit der Gesetzesnovelle vom 19. Juni 1959
eingefügten Zusatz zu Art. 62 Abs. 1 KUVG ("oder hätte angetreten werden
sollen, in jedem Falle aber mit Antritt des Weges zur Arbeit") bezieht,
der im Verhältnis zur Grundregel des Arbeitsantritts die Ausnahme bildet
(vgl. EVGE 1963 S. 236 Erw. 4). Nach neuerer Lehre und Rechtsprechung ist
eine solche Ausnahmebestimmung weder extensiv noch restriktiv auszulegen,
sondern nach ihrem Sinn und Zweck im Rahmen der allgemeinen Regelung (BGE
114 V 302 Erw. 3e mit Hinweisen), insbesondere unter gehöriger Beachtung
der Schutzrichtung der sozialen Unfallversicherung.

    b) Nach der Lehre (MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht,
S. 140) tritt der Arbeitnehmer die Arbeit an, wenn er mit der eigentlichen
Arbeit, um derentwillen er angestellt wurde, beginnt. "Antritt der Arbeit"
sei aber auch dann anzunehmen, wenn er jene Vorbereitungshandlungen
konkret vornehme, die für die Arbeit erforderlich seien, so z.B. wenn
er auf der Baustelle Werkzeug und Material fasse, Maschinen bereitstelle
oder auf der Arbeitsstätte sich die Arbeitskleider anziehe (vgl. dazu auch
GHÉLEW/RAMELET/RITTER, Commentaire de la loi sur l'assurance-accidents,
S. 30). Die Auslegung, was "Arbeit antreten" im Sinne von Art. 3 Abs. 1
UVG bedeutet, hat sich mitunter am Inhalt der "Anstellung" und damit am
Arbeitsvertrag zu orientieren.

Erwägung 2

    2.- Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin für den am
17. Dezember 1988 erlittenen Unfall Versicherungsschutz geniesst. Dass sie
als Arbeitnehmerin bei der SSSL beschäftigt und mithin im Sinne von Art. 1
Abs. 1 UVG obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert wäre
(vgl. dazu BGE 115 V 55, 113 V 333 Erw. 4b), steht unbestrittenermassen
fest. Ob sie Versicherungsleistungen beanspruchen kann, hängt davon ab,
wann sie die Arbeit angetreten hat.

    a) Versicherung und Vorinstanz stellen sich auf den Standpunkt, der
Besuch des vom Kanton durchgeführten obligatorischen Fortbildungskurses
sei nicht als arbeitsvertragliche Verpflichtung der Arbeitnehmerin zu
betrachten, sondern als Voraussetzung zur Anstellung unter den vereinbarten
Bedingungen. Die Beschwerdeführerin sei im Unfallzeitpunkt weder in einem
Subordinationsverhältnis zur Arbeitgeberin gestanden, noch habe sie für die
Kurstage eine Entschädigung erhalten. Weil die Teilnahme der Skilehrer am
obligatorischen Fortbildungskurs nicht Inhalt des Arbeitsvertrages bilde,
habe die Versicherungsdeckung nicht bereits mit dem Kursbesuch beginnen
können, sondern frühestens mit der effektiven Arbeitsaufnahme, d.h. mit
der Erteilung von Skilektionen und der Betreuung von Gästen.

    b) Dem kann nicht beigepflichtet werden. Entgegen der Auffassung
der Vorinstanz ist der im Arbeitsvertrag ausdrücklich vorgeschriebene
Besuch des obligatorischen Fortbildungskurses als arbeitsvertragliche
Obliegenheit zu betrachten. Es trifft zwar zu, dass die Beschwerdeführerin
mit der Absolvierung dieses Kurses nicht die eigentliche Arbeit geleistet
hat, wofür sie angestellt wurde. Dies ändert aber nichts daran, dass
die Teilnahme am obligatorischen Fortbildungskurs Bestandteil der
arbeitsvertraglichen Verpflichtung war, am ehesten vergleichbar mit
den Trainingsstunden, die ebensowenig zur typischen Tätigkeit einer
Skilehrerin gehören. Insofern als der Kurs unmittelbar vor dem geplanten
eigentlichen Einsatz im Rahmen der Skischule stattfand, hat er zwar
nicht arbeitsbegleitenden, aber doch konkret arbeitsvorbereitenden
Charakter. Im Lichte der in Erw. 1b erörterten Grundsätze hat daher
die Beschwerdeführerin mit dem aufgrund der Anstellungsbedingungen
besuchten Fortbildungskurs ihre Arbeit angetreten. Zwischen dem Besuch
des Fortbildungskurses und der Ausübung der Instruktionstätigkeit
als Skilehrerin besteht ein so enger Konnex, dass der Kurs nicht vom
Arbeitsantritt abgekoppelt werden kann. Eine andere Betrachtungsweise
hätte unter dem Blickwinkel der Praktikabilität insoweit etwas Stossendes
an sich, als sich die Skilehrer für zwei Tage separat versichern müssten,
wenn sie den Fortbildungskurs vor Aufnahme ihrer eigentlichen Tätigkeit
absolvieren. Die Versicherungsdeckung kann aber nicht von der Zufälligkeit
abhängen, ob der Kurs unmittelbar vor dem Beginn des Skiunterrichts
bestanden wird oder erst nachher, wobei in letzterem Falle der
Versicherungsschutz unbestrittenermassen gewährleistet wäre. Der Annahme
der Versicherungsdeckung mit dem Besuch des Fortbildungskurses steht der
Umstand, dass die Beschwerdeführerin dafür nicht speziell entlöhnt war,
nicht entgegen. Rechtsprechungsgemäss kann nämlich der Lohnanspruch
in irgendeiner Form geregelt sein (BGE 115 V 59 Erw. 2d). Bei der
vereinbarten Tagesbesoldung ist vorliegend anzunehmen, dass sie sämtliche
vertraglichen Entschädigungen, insbesondere auch jene für die Absolvierung
des vorgeschriebenen Fortbildungskurses, abdeckt. Nicht zu überzeugen
vermag sodann, vorab unter dem Blickwinkel des Art. 12 Abs. 1 lit. c UVV,
der Einwand, es fehle an einem Subordinationsverhältnis. Danach gelten
Unfälle, die dem Versicherten beim Besuch von Schulen und Kursen zustossen,
welche nach Gesetz und Vertrag vorgesehen oder vom Arbeitgeber gestattet
sind, als Berufsunfälle im Sinne von Art. 7 Abs. 1 UVG. Auch bei diesem
Tatbestand können sich vorübergehend andere, besondere (mehrschichtige)
Unterstellungsverhältnisse ergeben, die an der arbeitsvertraglichen
Subordination grundsätzlich nichts ändern. Unerheblich ist schliesslich,
dass das zuständige Departement bei der Ausschreibung der kantonalen
Fortbildungskurse jeweils darauf hinweist, die Versicherung gegen Unfall
sei Sache der Teilnehmer. Dies hat auf die Frage, wann im Einzelfall
aufgrund der konkreten Anstellungsbedingungen die Arbeit angetreten wurde,
keinen Einfluss.

    c) Nach dem Gesagten hat die Beschwerdeführerin den Skiunfall, der
sich am ersten Kurstag ereignete, nach Antritt ihrer Arbeit erlitten. Somit
hat sie Anspruch auf die gesetzlichen Versicherungsleistungen.