Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IV 61



118 IV 61

13. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Januar
1992 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen
D. W. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 220, 183 Ziff. 2 StGB; Entziehen von Unmündigen/Entführung.

    1. Aufgrund der Verschiedenheit der durch Art. 220 und 183 Ziff. 2
StGB geschützten Rechtsgüter ist für die Annahme echter Gesetzeskonkurrenz
entscheidend, ob sich das Verhalten des Täters im konkreten Fall gegen
den (Mit-)Inhaber der elterlichen Gewalt oder auch gegen die Freiheit
des Kindes richtet (E. 2).

    2. Der strafrechtliche Schutz der Freiheit des Kindes bezüglich der
Wahl seines Aufenthaltsortes unterliegt den sich aus der elterlichen Gewalt
ergebenden Einschränkungen; Entführung im konkreten Fall verneint (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Eheleute L. und D. W. haben zwei Kinder (geb. 1984
und 1987). Im Januar 1989 verliess die Ehefrau mit den Kindern die
gemeinsame Wohnung. Kurz danach reichte sie die Scheidungsklage ein;
sie verlangte, ihr im Sinne einer vorsorglichen Massregel die Obhut über
die Kinder zu übertragen. Am 15. April 1989 holte der Vater die Kinder
zu einem vereinbarten Wochenendbesuch ab, reiste dann aber mit ihnen
in die Ferien und brachte sie erst nach einer sechswöchigen Reise,
die durch Italien, Jugoslawien, die Türkei und Griechenland führte,
wieder zur Mutter zurück. Eine am 17. April 1989 versandte Verfügung
der Instruktionsrichterin, mit welcher die Mutter zur Obhutsinhaberin
erklärt wurde, ging ihm erst bei seiner Rückkehr zu. Alle Beteiligten
stimmen darin überein, dass der Vater die Kinder gut behandelt habe; die
Mutter fügte allerdings hinzu, sie hätten die lange Ferienreise psychisch
verarbeiten müssen.

    Das Bezirksgericht Unterrheintal verurteilte D. W. am 12. Januar 1990
wegen fortgesetzter Entführung, fortgesetzten Entziehens und Vorenthaltens
von Unmündigen sowie wegen Vernachlässigung von Unterstützungspflichten
zu sechs Wochen Gefängnis, bedingt aufgeschoben auf eine Probezeit von
zwei Jahren.

    Auf Berufung der Staatsanwaltschaft hin sprach das Kantonsgericht
St. Gallen D. W. am 4. September 1990 von der Anklage der Entführung
frei. Es erklärte ihn schuldig des Entziehens von Unmündigen sowie der
fortgesetzten Vernachlässigung von Unterstützungspflichten und verurteilte
ihn zu vier Wochen Gefängnis, unter Gewährung des bedingten Strafvollzuges
bei einer Probezeit von zwei Jahren.

    Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft des Kantons
St. Gallen an das Bundesgericht mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde,
mit welcher sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Sache zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen.

    D. W. beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin bringt vor, die Vorinstanz habe Art. 183
Ziff. 2 und 184 StGB verletzt, indem sie den Beschwerdegegner von der
Anklage der Entführung freigesprochen habe; angesichts der Dauer liege
eine qualifizierte Entführung vor. Zu prüfen ist somit, ob die Vorinstanz
Bundesrecht verletzte, wenn sie den Beschwerdegegner nur wegen Entziehens
von Unmündigen nach Art. 220 StGB verurteilte und nicht auch wegen
qualifizierter Entführung.

Erwägung 2

    2.- a) Art. 220 StGB schützt nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung (auch nicht alleinige) Inhaber der elterlichen
und vormundschaftlichen Gewalt in ihrer Befugnis, über die ihnen
unterstellte Person, insbesondere über deren Aufenthaltsort, Erziehung und
Lebensgestaltung zu bestimmen (BGE 95 IV 68, 98 IV 35, 110 IV 37 E. 1c
mit Hinweisen; kritisch dazu SUSANNE HÜPPI, Straf- und zivilrechtliche
Aspekte der Kindesentziehung gemäss Art. 220 StGB mit Schwergewicht auf den
Kindesentführungen durch einen Elternteil, Zürcher Diss. 1988, S. 34 ff.,
insbesondere S. 42, die als geschützt nur das Aufenthaltsbestimmungsrecht
sieht; in diesem Sinn auch TRECHSEL, Kurzkommentar StGB, Art. 220 N 1, und
HAUSER/REHBERG, Grundriss Strafrecht IV, Zürich 1989, S. 98). Es handelt
sich um ein Vergehen gegen die Familie (Überschrift des sechsten Titels).

    b) Demgegenüber handelt es sich bei der Entführung um ein Delikt
gegen die Freiheit. Nach BGE 83 IV 154 besteht das "Entführen" darin,
dass das Opfer an einen Ort geführt wird, wo es sich in der Gewalt
des Täters befindet; die Entführung besteht damit aus zwei Elementen:
dem Verbringen des Opfers an einen anderen Ort und - als Folge davon -
eine gewisse Machtposition des Täters über das Opfer (STRATENWERTH,
Bes. Teil I, 3. Auflage, S. 102; SCHUBARTH, Kommentar StGB, Art. 183 N
47). Gemäss Art. 183 Ziff. 2 StGB können auch Kinder (und Jugendliche:
Art. 82 und 89 StGB) unter 16 Jahren entführt werden.

    c) Ob die durch Art. 184 StGB mögliche Erweiterung des Strafrahmens
aufgrund der Dauer des Freiheitsentzuges auch für die Entführung gilt -
wie Vorinstanz und Beschwerdegegnerin ohne weiteres annehmen -, erscheint
fraglich. Denn bei einer Entführung braucht weder eine Nötigung noch eine
Freiheitsberaubung vorzuliegen (TRECHSEL, aaO, Art. 183 N 13; STRATENWERTH,
aaO, S. 102 N 33; NOLL, Schweiz. Strafrecht, Bes. Teil I, S. 79; SCHUBARTH,
aaO, Art. 183 N 48 und 62); nach dem Wortlaut des Gesetzes "Entzug der
Freiheit" ist wohl nur die eigentliche Freiheitsberaubung (Art. 183 Ziff. 1
Abs. 1 StGB) qualifiziert, wenn sie länger als 10 Tage dauert. Auch die
Botschaft verwendet bei der Erörterung des Qualifikationsgrundes der Dauer
nur den Begriff der Freiheitsberaubung (BBl 1980 I 1260). Ob damit, wenn
als eigentliche Tathandlung der Entführung einzig das Verbringen an einen
anderen Ort zu betrachten ist, diesbezüglich kein Dauerdelikt vorliegt
(so HAFTER, Schweiz. Strafrecht, Bes. Teil I, S. 104; anderer Auffassung
SCHUBARTH, aaO, Art. 183 N 50, allerdings ohne nähere Begründung), wie dies
bei der Freiheitsberaubung als Aufhebung der körperlichen Bewegungsfreiheit
der Fall ist, kann indessen offenbleiben, da der Tatbestand von Art. 184
StGB im vorliegenden Fall ohnehin nicht erfüllt ist.

    d) Für die Annahme einer echten Gesetzeskonkurrenz zwischen Art. 183
und 220 StGB ist wegen der Verschiedenheit der geschützten Rechtsgüter
entscheidend, ob sich das Verhalten des Täters im konkreten Fall lediglich
gegen den (Mit-)Inhaber der elterlichen Gewalt richtet oder auch gegen
die Freiheit des Kindes (vgl. oben E. 2a und b; TRECHSEL, aaO, Art. 220
N 8). Diese Frage ist nach den jeweiligen Umständen sowie den Zielen und
Absichten des Täters zu beurteilen (vgl. BERTRAND SAUTEREL, L'enlèvement
de mineur, thèse de licence, Lausanne 1991, S. 142).

Erwägung 3

    3.- a) Der Tatbestand der Entführung setzt voraus, dass sich als
Folge des Verbringens an einen anderen Ort eine Machtposition des Täters
über sein Opfer ergibt (vgl. E. 2b). Hat der Täter diese Machtposition
bereits aufgrund anderer Umstände inne, oder wird eine bereits bestehende
Machtposition nicht erheblich verstärkt (vgl. EGLI, Freiheitsberaubung,
Entführung und Geiselnahme, Diss. Zürich, S. 76 f.), kann daher keine
Entführung vorliegen.

    b) Der Schutz der Freiheit des Kindes bezüglich der Wahl seines
Aufenthaltsortes unterliegt den sich aus der elterlichen Gewalt ergebenden
Einschränkungen (vgl. EGLI, aaO, S. 113). Gemäss Art. 297 Abs. 1 ZGB
üben die Eltern die elterliche Gewalt gemeinsam aus; diese Regel gilt,
bis ein Ehegatte verstirbt oder die elterliche Gewalt durch den Richter
einem Elternteil allein zugeteilt wird.

    Die Eheleute W. hatten zwar eine private Vereinbarung abgeschlossen,
wonach der Mutter die Obhut eingeräumt werde und der Vater die Kinder
jeweils über ein verlängertes Wochenende zu sich nehmen könne. Eine solche
Vereinbarung wie auch die Zuteilung der Obhut im Eheschutzverfahren
oder als vorsorgliche Massnahme im Scheidungs- oder Abänderungsprozess
(vgl. HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechtes, 3. Auflage, § 26 N 10) lässt
aber die elterliche Gewalt des anderen Teils in ihrem rechtlichen Bestand
vorderhand unberührt (BÜHLER/SPÜHLER, Kommentar, Art. 145 N 200). Die
Kinder sind deshalb nach wie vor beiden Inhabern der elterlichen Gewalt zu
Gehorsam verpflichtet (vgl. HEGNAUER, Kommentar, 3. Auflage, N 8 ff. zu
aArt. 275 ZGB).

    c) Ist daher wie im vorliegenden Fall die elterliche Gewalt lediglich
faktisch durch die Obhut der Obhutsberechtigten eingeschränkt, kann für die
betroffenen Kinder das geschützte Rechtsgut ihrer Freiheit nicht wesentlich
eingeschränkt sein, weil sie nach wie vor dem (Mit-)Inhaber der elterlichen
Gewalt zu Gehorsam verpflichtet sind und es für sie grundsätzlich keine
Rolle spielen wird, von welchem der beiden Elternteile ihr Aufenthaltsort
bestimmt wird; dies gilt jedenfalls so lange, als dies mit der im Interesse
des Kindes ausgeübten elterlichen Gewalt vereinbar und damit zu dessen Wohl
ist. Denn es wäre - wie die Vorinstanz zu Recht bemerkt - widersprüchlich,
einerseits vom Willen des Kindes abzusehen und andererseits denjenigen
wegen eines Deliktes gegen die Freiheit der Willensentschliessung zu
bestrafen, der ermächtigt ist, gerade diesen Willen zu bilden. Dass
auch das Kind unter 16 Jahren ein Freiheitsbewusstsein hat (so schon
HAFTER, aaO, S. 107; LOGOZ, Commentaire, Art. 185 N 1, S. 284) und ihm
mit zunehmendem Alter auch eine gewisse Freiheit in der Wahl seines
Aufenthaltsortes zukommt (vgl. EGLI, aaO, S. 113), braucht hier nicht
berücksichtigt zu werden, handelt es sich doch noch um Kleinkinder.

    Die dargelegte Zurückhaltung bei der Annahme einer Entführung durch
einen (Mit-)Inhaber der elterlichen Gewalt würde sich auch aufgrund der
möglicherweise zur Anwendung gelangenden hohen Mindeststrafe von Art. 184
StGB aufdrängen (vgl. Auslegung von Straftatbeständen nach der angedrohten
Strafe: BGE 116 IV 315 E. aa).

    d) Den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ist zu entnehmen,
dass der Beschwerdegegner seine Kinder gut behandelte; die Kinder waren
nach ihrer Rückkehr wohlauf; es fehlte den Kindern körperlich nichts;
sie hätten nach Angabe der Mutter lediglich "den langen Ferienaufenthalt
psychisch verarbeiten müssen"; der getroffenen Obhutsvereinbarung stimmte
der Beschwerdegegner angeblich nur zu, um die Kinder überhaupt sehen zu
können. Die Ehefrau des Beschwerdegegners hatte die eheliche Wohnung mit
den Kindern erst seit kurzer Zeit verlassen, weshalb sich die Kinder noch
nicht an den neuen Zustand gewöhnt haben dürften. Hinzu kommt, dass im
vorliegenden Fall die Veränderung des Aufenthaltsortes anlässlich eines
mit seiner Ehefrau und Mutter der Kinder vereinbarten Wochenendbesuches
insbesondere noch keine wesentliche Verstärkung des auch zugunsten des
Beschwerdegegners bestehenden Herrschaftsverhältnisses gegenüber seinen
beiden Kleinkindern bewirkte. Unter solchen Umständen ist davon auszugehen,
dass der Beschwerdegegner in erster Linie seiner Ehefrau die (Mit-)Ausübung
der elterlichen Rechte verunmöglichen wollte, nicht aber seinen Kindern
zu deren Nachteil die Freiheit entziehen. Aus diesen Gründen muss es im
vorliegenden Fall mit der ausschliesslichen Anwendbarkeit von Art. 220
StGB sein Bewenden haben.

    e) Die Vorinstanz hat somit kein Bundesrecht verletzt, wenn sie den
Beschwerdegegner ausschliesslich nach Art. 220 StGB bestrafte.