Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IV 6



118 IV 6

2. Urteil des Kassationshofes vom 10. Februar 1992 i.S. R. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 13 Abs. 1 StGB. Psychiatrisches Gutachten.

    Ernsthafter Anlass zu Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit eines
Ersttäters ist gegeben, wenn der Beginn der Straffälligkeit mit dem
Ausbruch einer schweren allergischen oder psychosomatischen Hautkrankheit
zusammenfällt.

Sachverhalt

    A.- R. wurde vom Obergericht des Kantons Zürich (II.  Strafkammer)
im Berufungsverfahren am 2. März 1990 wegen Betäubungsmitteldelikten
(schwerer Fall, Handel mit Kokain), Zuhälterei, wiederholter und
fortgesetzter Kuppelei, fortgesetzter Urkundenfälschung, fortgesetzter
Veruntreuung und Anstiftung zu Körperverletzung zu 24 Monaten Gefängnis
und zu einer Busse von Fr. 500.-- verurteilt.

    B.- Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde beantragt der
Verurteilte, der obergerichtliche Entscheid sei aufzuheben und die Sache
an die Vorinstanz zurückzuweisen zwecks Anordnung seiner psychiatrischen
Begutachtung und neuer Entscheidung bei Vorliegen dieses Gutachtens.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe eidgenössisches
Recht verletzt, indem sie seine Zurechnungsfähigkeit trotz den von ihr
zur Kenntnis genommenen Auswirkungen der 1986 ausgebrochenen Hautallergie
ohne weiteres bejaht habe; die Akten weckten gewichtige Zweifel daran;
dadurch sei sein bundesrechtlicher Anspruch auf ausreichende Abklärung
seiner Zurechnungsfähigkeit massiv verletzt worden.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer rügt sinngemäss eine Verletzung von
Art. 13 StGB. Nach dieser Bestimmung ordnet die zuständige Behörde
eine Untersuchung des Beschuldigten an, wenn sie Zweifel an dessen
Zurechnungsfähigkeit hat oder wenn nach den Umständen des Falles
ernsthafter Anlass zu solchen Zweifeln besteht (BGE 116 IV 274, 107 IV 6,
106 IV 242 E. 1a, 102 IV 75 E. 1b, 98 IV 157 E. 1). Der Richter soll seine
Zweifel nicht selber beseitigen, etwa durch Zuhilfenahme psychiatrischer
Fachliteratur, sondern durch Beizug von Sachverständigen (BGE 116 IV
273 f.).

    Es fragt sich, welche Umstände gegeben sein müssen, um anzunehmen,
der Richter müsse im oben dargelegten Sinn ernsthafte Zweifel haben. Das
Bundesgericht hat dies in einer Reihe von Fällen angenommen und
Beispiele dafür in BGE 116 IV 274 angeführt. Nach diesem Entscheid ist ein
Sachverständiger auch beizuziehen, wenn (beispielsweise bei altersbedingtem
psychischen Abbau) "die Tat mit der bisherigen Lebensführung unvereinbar
erscheint", mit andern Worten eine Persönlichkeitsstörung zu vermuten
ist. Zu den Reaktionen von Persönlichkeitsstörungen zählt die neue
psychiatrische Literatur unter anderen die psychosomatischen Krankheiten
(leibliche Funktionsstörungen), die entweder ausschliesslich determiniert
oder entscheidend mitbestimmt sind durch unbewusste Konfliktspannungen
oder neurotische Strukturen und meist eine lange Entwicklungsgeschichte
aufweisen. So kann es dazu kommen, dass ein bis dahin körperlich relativ
symptomlos (und daher medizinisch "unauffällig") gebliebener neurotischer
Charakter durch eine bestimmte Auslösersituation dekompensiert und sich
nun eine Funktionsstörung im körperlichen Bereich entwickelt. Zu den
wesentlichsten psychosomatischen Krankheiten gehören auch die chronischen
Ekzeme (Handwörterbuch der Rechtsmedizin für Sachverständige und Juristen,
herausgegeben von GEORG EISEN, Band 2: Der Täter, Persönlichkeit und
Verhalten, 1974, S. 44/45).

    Hautkrankheiten können psychosomatischen Ursprung haben
(z.B. chronische Ekzeme) oder durch Allergie bedingt sein
(Kontaktekzeme). Wenn auch der Ausbruch einer allergischen Krankheit
nach der medizinischen Fachliteratur nicht als Reaktion einer
Persönlichkeitsstörung zu werten ist, spielen psychische Faktoren
bei allen Allergikern eine nicht unbedeutende Rolle (KNAURS Grosses
Gesundheitslexikon, München 1987, S. 26/27 und 148/149).

Erwägung 3

    3.- Der 1964 geborene Beschwerdeführer besuchte, offenbar ohne
Probleme, sechs Jahre die Primar- und drei Jahre die Realschule. 1980
begann er eine Kochlehre, die er jedoch nicht zu Ende führte. Anschliessend
begann er eine Maurerlehre, die er 1984 mit guten Noten abschloss. In
der Folge arbeitete er noch zwei Jahre als Akkordmaurer, später als
Rausschmeisser in Nachtklubs. Nach der im Sommer 1986 absolvierten
Rekrutenschule wurde er "Mitte 1987 wegen einer Hautallergie
ausgemustert". Somit ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer
bis 1986 einer geregelten, seiner Ausbildung entsprechenden Arbeit
nachging und bis zu diesem Zeitpunkt nicht mit dem Gesetz in Konflikt
kam. Gemäss Anklageschrift fallen die ersten Delikte (zunächst Konsum und
hernach Handel mit Kokain) denn auch ins Jahr 1987. Diese Gegebenheiten
machen deutlich, dass der Beginn der Straffälligkeit mit dem Ausbruch
der Hautkrankheit zusammenfällt. Auch die Vorinstanz spricht von einem
Ersttäter, "der zudem offensichtlich durch eine physische Beeinträchtigung
aus der Bahn geworfen wurde".

    Den Antrag auf eine Begutachtung hinsichtlich einer Verminderung
der Zurechnungsfähigkeit aufgrund der den Beschwerdeführer belastenden
gesundheitlichen Situation lehnte sie indessen ab, mit folgender
Begründung:

    "Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die im Jahre 1986
   ausgebrochene, schwere Allergie den Angeklagten massiv - auch psychisch

    - belastet und für seine derzeitige missliche Situation in einem
nicht zu
   übersehenden Ausmass mitursächlich ist. Auffällig ist jedenfalls,
   dass der

    Angeklagte erst nach Ausbruch der Krankheit straffällig wurde,
offenbar,
   als die Allergie, insbesondere deren Auswirkungen das
   Selbstwertgefühl des bisher kerngesunden und kraftstrotzenden
   Angeklagten untergrub. Trotzdem ist keineswegs schlüssig, dass beim
   Angeklagten dadurch auch eine psychische Störung ausgelöst wurde,
   die seine Zurechnungsfähigkeit in einem als Strafmilderungsgrund zu
   wertenden Ausmass beeinträchtigt hat.

    Weder seine Straftaten als solche noch sein übriges Verhalten
weisen auf
   diesbezügliche Auffälligkeiten; auch die Verteidigung ergeht sich nur in
   vagen Vermutungen, vermag aber nichts Fassbares darzutun. Ins Gewicht
   fällt dabei auch, dass der Angeklagte bisher keine psychiatrische
   Hilfe in

    Anspruch genommen und sich in keine Behandlung begeben hat, obwohl
er mit
   seinem Verteidiger entsprechende Überlegungen angestellt hat."

Erwägung 4

    4.- Der Auffassung der Vorinstanz kann nicht gefolgt werden.  Wenn sich
ein recht erhebliches strafbares Verhalten mit der bisherigen Lebensführung
eines Delinquenten so wenig vereinbaren lässt (vgl. dazu BGE 116 IV 274)
wie im Falle des Beschwerdeführers und zudem zeitlich so eindeutig mit dem
Ausbruch einer schweren Hautkrankheit zusammenfällt, erscheint es nach
den vorne dargelegten medizinischen Erkenntnissen über allergische und
psychosomatische Krankheiten zumindest möglich, dass psychische Faktoren
bei Entstehung, Ausbruch und weiterem Verlauf der Erkrankung (die im
vorinstanzlichen Urteil nicht genauer beschrieben, sondern nur als "schwere
Allergie" bezeichnet wird) eine erhebliche Rolle gespielt haben könnten.
Darüber vermöchte aber, angesichts der komplexen Probleme der Ursachen
und Wirkungen von Hautkrankheiten, nur ein Gutachten Auskunft zu geben,
und nur ein Sachverständiger könnte die relevanten Fragen bezüglich der
psychischen Struktur des Beschwerdeführers näher prüfen.

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ernsthafter Anlass zu Zweifeln
an der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers bestand. Indem die
Vorinstanz bei dieser Sachlage kein psychiatrisches Gutachten anordnete,
verletzte sie Art. 13 StGB. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach
gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zu
neuer Entscheidung an das Obergericht zurückzuweisen.