Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IV 330



118 IV 330

58. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. November 1992 i.S. B.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 41 Ziff. 3 StGB; Missachtung einer Weisung; Widerruf des bedingten
Strafvollzugs.

    Der Richter hat, bevor er den bedingten Strafvollzug wegen
Nichtbefolgung einer Weisung widerruft, zu prüfen, ob die Voraussetzungen
für einen Verzicht darauf gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB gegeben
sind. Ist der Betroffene seit der Verurteilung nicht mehr straffällig
geworden, lebt er in stabilen familiären Verhältnissen und bewährt er
sich am Arbeitsplatz, soll von der Möglichkeit des Widerrufs nur mit
Zurückhaltung Gebrauch gemacht werden (E. 3d).

Sachverhalt

    A.- Am 28. Februar 1990 verurteilte das Bezirksgericht Aarau B. wegen
einfacher Körperverletzung, wiederholter Tätlichkeit, wiederholter
und fortgesetzter Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz und
Sachbeschädigung zu fünf Monaten Gefängnis. Es gewährte ihm den bedingten
Strafvollzug bei einer Probezeit von vier Jahren und erteilte ihm die
Weisung, sich einer ambulanten psychotherapeutischen Behandlung zu
unterziehen und sich hierüber halbjährlich bei der Staatsanwaltschaft
auszuweisen.

    B.- Am 26. April 1991 beantragte die Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau dem Bezirksgericht, den bedingten Strafvollzug zu widerrufen, da
B. die Weisung trotz förmlicher richterlicher Mahnung nicht befolgt habe.

    Am 22. Mai 1991 sah das Bezirksgericht vom Widerruf ab.

    Eine dagegen von der Staatsanwaltschaft erhobene Berufung hiess das
Obergericht des Kantons Aargau am 15. Juli 1992 gut und widerrief den
vom Bezirksgericht am 28. Februar 1990 gewährten bedingten Strafvollzug.

    C.- B. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
den Entscheid des Obergerichts aufzuheben.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, der Widerruf des bedingten
Strafvollzugs verletze Art. 41 Ziff. 3 StGB.

    a) Die Vorinstanz führt aus, über den Beschwerdeführer sei vor dem
Urteil des Bezirksgerichts vom 28. Februar 1990 ein psychiatrisches
Gutachten erstattet worden. Darin komme zum Ausdruck, dass er aufgrund
einer neurotischen Fehlentwicklung eine erregbare Persönlichkeit
aufweise. Der Gutachter lege dar, es sei möglich, dass er unter
Alkoholeinfluss erneut gegenüber Mitmenschen gefährlich werden könne;
es sei ihm deshalb dringendst zu empfehlen, sich in eine ambulante
psychotherapeutische Behandlung zu begeben und gleichzeitig den Konsum von
Alkohol zu meiden. Die Vorinstanz führt sodann aus, der Beschwerdeführer
sei sich wohl seiner Schwäche bewusst, jedoch habe er bereits in der
Verhandlung vor Bezirksgericht am 28. Februar 1990 implizit eine gewisse
Zurückhaltung gegenüber der Durchführung einer psychotherapeutischen
Behandlung offenbart. Seine Einstellung zu einer solchen Behandlung
habe sich darin bestätigt, dass er erst rund ein halbes Jahr später,
ab Ende Oktober 1990, Herrn Dr. med. T. zu drei Sitzungen aufgesucht
habe und dabei gemäss seinen Aussagen die Meinung erhalten habe, dass
ihn diese Gespräche nicht weiterbrächten. Darauf habe er die Behandlung
von sich aus abgebrochen. Selbst nach dem Entscheid des Bezirksgerichts
vom 22. Mai 1991 habe er sich nicht dazu durchringen können, sich
einer konstanten Behandlung zu unterziehen und darüber weisungsgemäss
der Staatsanwaltschaft Bericht zu erstatten. Es sei festzustellen,
dass aufgrund der Persönlichkeitsstruktur des Beschwerdeführers die
Weisung, sich einer psychotherapeutischen Behandlung zu unterziehen,
sinnvoll sei. Abgesehen davon liege es nicht an ihm selbst, über die
Nützlichkeit von Therapiegesprächen zu befinden, sondern er habe sich an
die unmissverständliche und klare Weisung im Urteil des Bezirksgerichts
vom 28. Februar 1990 zu halten. Falls wirklich kein Bedürfnis mehr nach
der Fortsetzung einer Behandlung bestehe, sei gemäss Art. 41 Ziff. 2
Abs. 2 Satz 2 StGB allein der Richter zuständig, die Weisung nachträglich
zu ändern. Der Beschwerdeführer habe geltend gemacht, er sei bereit, den
ihm bekannten Dr. N., Arzt in der psychiatrischen Klinik F., aufzusuchen,
und habe angegeben, er habe in der Zwischenzeit einen Therapieplatz mit
einem ersten Termin am 10. Dezember 1991 gefunden. Das Obergericht habe
ihm mit Beschluss vom 3. Juni 1992 eine letzte Gelegenheit gegeben,
sich über die nun stattfindende Behandlung auszuweisen. Er habe nicht
reagiert und damit das Bild eines einsichtslosen und therapieunwilligen
Verurteilten bestätigt. Ihn entlastende Umstände, weshalb er auch seine
neueste Behandlungszusicherung nicht eingehalten habe, habe er nicht
geltend gemacht. Der bedingte Strafvollzug sei deshalb zu widerrufen.

    b) Der Beschwerdeführer bestreitet, schuldhaft die Weisung
nicht befolgt zu haben. Er habe sich als Laie zu gutgläubig auf die
verschiedenen Psychiater oder Psychologen abgestützt. Zudem seien die
Fachinstanzen offensichtlich zu wenig präzis in der Behandlung der
Angelegenheit gewesen. Es stehe fest, dass er nicht nur den Psychiater
Dr. med. T. konsultiert habe, sondern auch die psychologische Fachstelle
für Suchtprobleme in Z. sowie die psychiatrische Klinik F. Als ihn
die Vorinstanz mit Beschluss vom 3. Juni 1992 aufgefordert habe, sich
über die psychotherapeutische Behandlung auszuweisen, habe er erneut die
Fachstelle für Suchtberatung in Z. aufgesucht, sie darüber orientiert und
die Mitteilung erhalten, dass er sich nach den Sommerferien, in der zweiten
Hälfte August 1992, wieder um neue Termine bemühen könne. Auch hier habe er
darauf vertraut, dass diese Fachstelle die notwendigen Mitteilungen mache.
Offenbar sei er zu gutgläubig gewesen, denn eine Meldung an die Vorinstanz
sei unterblieben. Die Vorinstanz hätte wegen der Komplexität und der
Problematik des Falles ihm entweder einen amtlichen Verteidiger zuordnen
oder ihn zumindest persönlich anhören müssen. Sie habe nicht in Erwägung
gezogen, dass er sich wohlverhalten habe, dass er als Familienvater von
drei kleinen Kindern seit Jahren einer geregelten Arbeit nachgehe und durch
sehr intensive Arbeit die beträchtlichen Hypothekarzinsen für sein Haus
von rund Fr. 3'900.-- pro Monat decken könne. Lediglich auf dem kleinen
Nebengebiet der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung sei ihm ein
Vorwurf gemacht worden, der dazu genügen solle, ihn für fünf Monate ins
Gefängnis zu bringen. Durch den Vollzug der Strafe würde die bis heute
gelungene soziale Rehabilitation erheblich gefährdet.

Erwägung 3

    3.- a) Gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB lässt der Richter die Strafe
unter anderem vollziehen, wenn der Verurteilte trotz förmlicher Mahnung
des Richters einer ihm erteilten Weisung zuwiderhandelt. Der Widerruf
des bedingten Strafvollzugs setzt die schuldhafte Missachtung der Weisung
voraus (BGE 100 IV 197 f. E. 1; 71 IV 179 f. E. 2).

    b) Am 28. Februar 1990 erteilte das Bezirksgericht dem Beschwerdeführer
gemäss Art. 41 Ziff. 2 StGB die Weisung, sich einer ambulanten
psychotherapeutischen Behandlung zu unterziehen und sich hierüber
halbjährlich bei der Beschwerdegegnerin auszuweisen.

    Da ein Beleg über eine psychotherapeutische Behandlung bei der
Beschwerdegegnerin nicht eingegangen war, mahnte das Bezirksgericht am 20.
Februar 1991 den Beschwerdeführer gemäss Art. 41 Ziff. 3 StGB förmlich und
setzte ihm eine Frist von zehn Tagen an, um der Weisung nachzukommen. Da
er sich nicht innert Frist über eine psychiatrische Behandlung auswies,
beantragte die Beschwerdegegnerin den Widerruf des bedingten Strafvollzugs.

    An der Verhandlung vor dem Bezirksgericht am 22. Mai 1991 legte
der Beschwerdeführer eine Honorarrechnung von Dr. med. T. ein. Daraus
ergab sich, dass er am 26. Oktober, 13. November und 27. November 1990
bei diesem Arzt in Behandlung war. Das Bezirksgericht sah deshalb vom
Widerruf ab. Dass der Beschwerdegegnerin der Ausweis über die angeordnete
psychotherapeutische Massnahme nicht zugekommen sei, sei unerheblich,
wenn daraus nicht auf bösen Willen oder mangelnden Besserungswillen zu
schliessen sei. Der Beschwerdeführer sei der Weisung nachgekommen und habe
die angeordnete psychotherapeutische Behandlung besucht. Er habe sich
darum bemüht, dass sein Arzt eine Mitteilung an die Beschwerdegegnerin
mache. Dass der Arzt der Beschwerdegegnerin keine Mitteilung über die
erfolgte Behandlung habe zukommen lassen, könne dem Beschwerdeführer
nicht vorgeworfen werden.

    Nachdem die Beschwerdegegnerin gegen den Entscheid des Bezirksgerichts
Berufung eingelegt hatte, wies sie den Beschwerdeführer mit Schreiben
vom 21. November 1991 darauf hin, dass er seiner Ausweispflicht nicht
nachgekommen sei, und ersuchte ihn, ihr bis zum 5. Dezember 1991 einen
ärztlichen Bericht zuzustellen. Mit Schreiben vom 4. Dezember 1991 teilte
der Beschwerdeführer der Beschwerdegegnerin mit, er habe sich um einen
Therapieplatz bemüht. Der erste Gesprächstermin sei auf den 10. Dezember
1991 festgesetzt worden. Die halbjährliche Ausweispflicht werde somit
auf Juni 1992 fällig.

    Am 3. Juni 1992 beschloss die Vorinstanz, der Beschwerdeführer
habe innert zehn Tagen einen Bericht des behandelnden Psychiaters
beizubringen. Der Bericht habe zu enthalten: Diagnose, Art der Behandlung,
Anzahl und Daten der bereits durchgeführten Sitzungen, voraussichtliche
Dauer der Behandlung und zeitlicher Rhythmus der künftigen Sitzungen. Nach
Ablauf dieser Frist werde das Urteil gefällt. Da kein Bericht einging,
widerrief die Vorinstanz am 15. Juli 1992 in Gutheissung der Berufung
der Beschwerdegegnerin den bedingten Strafvollzug.

    c) Der Beschwerdeführer hat demnach trotz förmlicher richterlicher
Mahnung seine Pflicht, sich halbjährlich über die Durchführung der
Therapie auszuweisen, nicht befolgt und damit der ihm erteilten Weisung
zuwidergehandelt. Entgegen seinen Vorbringen hat er die Weisung schuldhaft
missachtet. Denn nach deren klarem Wortlaut oblag es ihm selber und nicht
Dritten, den Ausweis über die psychotherapeutische Behandlung beizubringen.
Dass er sich bewusst war, selbst für den rechtzeitigen Eingang eines
Behandlungsberichts bei den Behörden verantwortlich zu sein, ergibt sich
im übrigen aus seinen Aussagen in der Verhandlung vor dem Bezirksgericht
vom 20. Februar 1991. Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen für den
Widerruf des bedingten Strafvollzugs gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB
deshalb zu Recht bejaht.

    d) Der Widerruf ist jedoch nicht stets zwingend, wenn ein
Widerrufsgrund nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB gegeben ist. Gemäss
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB kann der Richter, wenn begründete Aussicht
auf Bewährung besteht, in leichten Fällen vom Widerruf Umgang nehmen und,
je nach den Umständen, den Verurteilten verwarnen, zusätzliche Massnahmen
nach Art. 41 Ziff. 2 StGB anordnen und die im Urteil bestimmte Probezeit
um höchstens die Hälfte verlängern. Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB ist
bei allen Widerrufsgründen gemäss Ziff. 3 Abs. 1 anwendbar (BGE 98 IV
164 f.). Damit das Bundesgericht überprüfen kann, ob der Widerruf des
bedingten Strafvollzugs bundesrechtmässig ist, hat sich der kantonale
Richter folglich nicht nur darüber auszusprechen, weshalb er einen
Widerrufsgrund gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB bejaht, sondern auch
darüber, weshalb ein Verzicht auf den Widerruf gemäss Art. 41 Ziff. 3
Abs. 2 StGB ausscheide. Daran ändert der Umstand, dass ihm das Gesetz bei
seinem Entscheid nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB ein Ermessen einräumt,
nichts. Die Vorinstanz äussert sich nicht dazu, aus welchem Grund hier ein
Verzicht auf den Widerruf nach Ziff. 3 Abs. 2 ausser Betracht falle und
eine Verwarnung, zusätzliche Massnahmen nach Ziffer 2 und die Verlängerung
der Probezeit unzweckmässig seien. Der angefochtene Entscheid ist daher in
Anwendung von Art. 277 BStP aufzuheben und die Sache an sie zurückzuweisen.

    Die Vorinstanz wird dazu Stellung zu nehmen haben, ob ein leichter
Fall im Sinne von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB anzunehmen sei. Dabei wird
sie zu berücksichtigen haben, dass es der Beschwerdeführer nicht gänzlich
abgelehnt hat, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Er hat, wie
sich dem angefochtenen Urteil und den Akten entnehmen lässt, vielmehr
einen Arzt für drei Sitzungen aufgesucht und sich mit einer weiteren
Fachstelle in Verbindung gesetzt.

    Die Vorinstanz wird sodann zu prüfen haben, ob begründete Aussicht
auf Bewährung besteht. Der Beschwerdeführer führt in der Beschwerde aus,
er sei verheiratet und Vater von drei Kindern im Alter von zwei, vier und
sechs Jahren; er sei ein einfacher, fleissiger Handwerker und gehe seit
Jahren einer geregelten Arbeit nach; es gelinge ihm, den beträchtlichen
Hypothekarzins von rund Fr. 3'900.-- im Monat für das Haus, in dem er
mit seiner Familie lebe, zu bezahlen; seit seiner Verurteilung durch das
Bezirksgericht am 28. Februar 1990 habe er sich wohlverhalten. Sollte
das zutreffen, wäre - ohne schwerwiegende Gegenindizien - die begründete
Aussicht auf Bewährung zu bejahen.

    Sollte sie die Voraussetzungen für einen Verzicht auf den Widerruf
gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB als erfüllt ansehen, wird sich
die Vorinstanz damit auseinanderzusetzen haben, ob eine Verwarnung,
die Verlängerung der Probezeit oder eine zusätzliche Massnahme
nach Art. 41 Ziff. 2 StGB auszusprechen sei. Da hier Anzeichen einer
Betreuungsbedürftigkeit bestehen, käme als zusätzliche Massnahme gemäss
Art. 41 Ziff. 2 StGB insbesondere die Anordnung einer Schutzaufsicht -
die für den Betroffenen vor allem eine Hilfe sein soll (BGE 118 IV 219
E. 2) - in Betracht. Auch wäre zu erwägen, die Weisung nach Rücksprache
mit den entsprechenden Fachstellen und dem Beschwerdeführer nach Zeit und
Ort näher zu bestimmen. Denn wenn es gemäss Art. 41 Ziff. 2 Abs. 2 StGB
zulässig ist, die Weisung nachträglich zu ändern, muss auch ihre spätere
Konkretisierung statthaft sein.

    Die Vorinstanz wird zu berücksichtigen haben, dass der bedingte
Strafvollzug wegen Nichtbefolgung einer Weisung in Fällen, in denen der
Betroffene seit der Verurteilung nicht mehr straffällig geworden ist, in
stabilen familiären Verhältnissen lebt und sich am Arbeitsplatz bewährt,
nur mit Zurückhaltung zu widerrufen ist. Denn der Vollzug der Strafe
würde den Resozialisierungserfolg häufig wieder in Frage stellen. Gerade
deshalb muss zunächst geprüft werden, ob dem Beschwerdeführer geholfen
werden kann, der Weisung mit ihrem therapeutischen Zweck nachzukommen. Der
Widerruf darf insbesondere nicht allein deshalb ausgesprochen werden,
um die Missachtung einer Weisung zu ahnden. Eine solche Sanktion wäre
gerade in einem Fall wie hier, wo es um den Widerruf einer bedingten
Strafe von mehreren Monaten geht, unverhältnismässig.