Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IV 285



118 IV 285

50. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Juni 1992
i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und vice versa
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 90 Ziff. 2, Art. 27 Abs. 1 SVG; Art. 2 lit. a OBG; Missachten
eines Rotlichts.

    Die erhöhte abstrakte Gefahr setzt die naheliegende Möglichkeit einer
konkreten Gefährdung oder Verletzung voraus (E. 3a).

    Wenn ein Fahrzeuglenker bei übersichtlichen Verkehrsverhältnissen
(spitzwinklig ineinandermündende Fahrbahnen) in einer verkehrsarmen Zeit
das Rotlicht übersieht, ist die erhöhte abstrakte Gefahr zu bejahen, das
Ordnungsbussenverfahren ausgeschlossen und der objektive Tatbestand von
Art. 90 Ziff. 2 SVG insoweit erfüllt (E. 3b); das weitere Erfordernis des
rücksichtslosen oder sonst schwerwiegend verkehrswidrigen Verhaltens nach
dieser Bestimmung kann jedoch in einer solchen Situation zu verneinen sein
(E. 4).

Sachverhalt

    A.- S. missachtete am Sonntag, dem 17. Juni 1990, um
11.00 Uhr am Steuer seines Personenwagens an der Verzweigung
Überlandstrasse/Mutschellenstrasse in Dietikon das Rotlicht. Mit
Strafbefehl der Bezirksanwaltschaft des Kantons Zürich wurde er wegen
grober Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG mit
einer Busse von Fr. 1'200.-- bestraft. Auf seine Einsprache hin sprach ihn
der Einzelrichter der Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 1
i.V.m. Art. 27 Abs. 1 SVG und Art. 68 Abs. 1 SSV schuldig und bestrafte
ihn mit einer Busse von Fr. 80.--. Auf Berufung der Staatsanwaltschaft,
die auf die Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 SVG antrug, und des Verurteilten
hin, der die Anwendung des Ordnungsbussenverfahrens beantragte, bestätigte
das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 22. April 1991 den
Schuldspruch des Einzelrichters und sprach eine Busse von Fr. 250.-- aus.

    Gegen diesen Entscheid führen sowohl die Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich als auch S. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde.

    Die Staatsanwaltschaft stellt Antrag auf Aufhebung des angefochtenen
Urteils wegen Verletzung von Art. 90 Ziff. 2 SVG und Rückweisung der
Sache zur Neuentscheidung an die Vorinstanz.

    S. beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Vorinstanz
anzuweisen, ihn zu einer Ordnungsbusse von Fr. 80.-- zu verurteilen.

    Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtete bei beiden
Nichtigkeitsbeschwerden auf Gegenbemerkungen. S. beantragt in
seiner Vernehmlassung die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde der
Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich liess sich
zur Nichtigkeitsbeschwerde von S. nicht vernehmen.

    Eine gegen das obergerichtliche Urteil eingereichte kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich am 12.
November 1991 ab, soweit es darauf eintrat.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 277bis
Abs. 1 BStP) missachtete der Angeklagte das Rotlicht an der Verzweigung
Überlandstrasse/Mutschellenstrasse in Dietikon und passierte die Ampel 7,6
Sekunden nach dem Wechsel auf rot. Er fuhr dabei mit einer Geschwindigkeit
von 40-50 km/h. Zur selben Zeit bog ein Fahrzeug von links in seine
Fahrspur ein. Dieses wurde jedoch weder massiv behindert, noch fuhr der
Angeklagte in gefährlicher Art und Weise auf es auf.

    Die Vorinstanz ging davon aus, dass die Missachtung des Rotlichts wie
die Missachtung anderer Signale nicht von vornherein eine einfache oder
grobe Verkehrsregelverletzung darstelle. Im zu beurteilenden Fall verneinte
sie eine grobe Verkehrsregelverletzung. Sie führte aus, dem Angeklagten
habe es offensichtlich an der vom Fahrzeuglenker geforderten Aufmerksamkeit
gefehlt. Dabei sei ihm zugute zu halten, dass die Verkehrssituation am
Sonntag morgen gegen 11.00 Uhr an der fraglichen Stelle offensichtlich
ausgesprochen ruhig gewesen sei, was eine verminderte Aufmerksamkeit wenn
nicht zu entschuldigen, so doch teilweise zu erklären vermöge. Auch wenn
das Verhalten des Angeklagten in subjektiver Hinsicht als grob fahrlässig
eingestuft werden müsse, so könne insgesamt gesehen von einer groben
Verkehrsregelverletzung nicht gesprochen werden.

    Die Vorinstanz wandte indes nicht das vereinfachte Verfahren
gemäss dem BG vom 24. Juni 1970 über Ordnungsbussen im Strassenverkehr
(OBG; SR 741.03) an, sondern mass die Strafe nach den allgemeinen
Regeln des Strafgesetzbuches zu. Sie führte in diesem Zusammenhang
aus, das Nichtbeachten von Lichtsignalen sei gemäss Ziff. 126 der
Ordnungsbussenliste mit einer Busse von Fr. 80.-- bedroht, mithin mit
einer Busse, die nahe an der Grenze für das Ordnungsbussenverfahren von
Fr. 100.-- liege. Dies lege nahe, die Anforderungen an das Vorliegen einer
erhöhten abstrakten Gefahr, die das Ordnungsbussenverfahren ausschliesse,
nicht allzuhoch anzusetzen. Eine erhöhte abstrakte Gefahr für die
übrigen Verkehrsteilnehmer sei im zu beurteilenden Fall zu bejahen und
liege darin, dass ein weiterer Personenwagen wenige Wagenlängen vor dem
Angeklagten in dessen Fahrspur eingebogen sei. Die Gefahr sei namentlich
etwa im Vergleich zu den typischen Fällen des Passierens des Rotlichts
innert Sekundenbruchteilen nach dem Wechsel auf rot erhöht, wenn dem
potentiell gefährdeten anderen Verkehrsteilnehmer die Fahrt noch nicht
freigegeben sei.

Erwägung 2

    2.- Die Staatsanwaltschaft wendet dagegen ein, die Vorinstanz habe
Bundesrecht verletzt, wenn sie das Verhalten des Angeklagten in subjektiver
Hinsicht als grob fahrlässig einstufte und eine erhöhte abstrakte Gefahr
für die übrigen Verkehrsteilnehmer bejahte, trotzdem aber eine grobe
Verkehrsregelverletzung verneint habe.

    Der Angeklagte rügt demgegenüber, es seien erwiesenermassen mit
Ausnahme des einen Fahrzeuglenkers keine anderen Verkehrsteilnehmer
zugegen gewesen, die abstrakt hätten gefährdet werden können. Wenn aber
eine konkrete Gefährdung des von links einmündenden Lenkers verneint
werde, könne nicht dieselbe Tatsache automatisch zur Annahme einer
erhöhten abstrakten Gefährdung der übrigen Verkehrsteilnehmer führen. Die
erstellten Fotos bewiesen, dass keine konkreten Umstände vorlägen, welche
eine erhöhte abstrakte Gefahr hätten begründen können. Aus diesen Gründen
müsse das Ordnungsbussenverfahren Anwendung finden.

Erwägung 3

    3.- Wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche
Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, wird
gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG mit Gefängnis oder mit Busse bestraft. Das
Ordnungsbussenverfahren ist nach Art. 2 lit. a OBG ausgeschlossen, bei
Widerhandlungen, durch die der Täter Personen gefährdet oder verletzt
oder Sachschaden verursacht hat.

    a) Nach der Rechtsprechung ist Art. 2 lit. a OBG dahin zu verstehen,
dass das Ordnungsbussenverfahren nicht nur bei einer konkreten,
sondern bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung von Personen
ausgeschlossen ist (BGE 114 IV 63). Auch eine ernstliche Gefahr
für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG nimmt
die Rechtsprechung bereits bei Vorliegen einer erhöhten abstrakten
Gefährdung an (BGE 114 IV 65/6; 106 IV 49 E. a; 95 IV 2 E. 1). Ob
eine konkrete, eine erhöhte abstrakte oder nur eine abstrakte Gefahr
geschaffen wird, hängt nicht von der übertretenen Verkehrsregel,
sondern von der Situation ab, in welcher die Übertretung geschieht
(BGE 114 IV 66 mit Hinweisen). Wesentliches Kriterium für die Annahme
einer ernstlichen oder erhöhten abstrakten Gefahr nach Art. 90 Ziff. 2
SVG ist die Nähe der Verwirklichung (l'imminence) der Gefahr (SCHULTZ,
Rechtsprechung und Praxis zum Strassenverkehrsrecht in den Jahren
1983-1987, S. 258/9; a.A. BUSSY/RUSCONI, Code suisse de la circulation
routière - Commentaire, Art. 90 N 4.5, die nicht auf die "imminence",
sondern auf die "intensité" der Gefahr im Sinne einer Beeinträchtigung
erheblicher Rechtsgüter abstellen, dabei aber zu Unrecht auf die
Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 238 Abs. 2 StGB verweisen:
BGE 72 IV 27, TRECHSEL, Kurzkommentar zum StGB, N 8 zu Art. 238). Die
allgemeine Möglichkeit der Verwirklichung einer Gefahr genügt demnach nur
dann zur Erfüllung des Tatbestandes von Art. 90 Ziff. 2 SVG, wenn wegen
besonderer Umstände - Tageszeit, Verkehrsdichte, Sichtverhältnisse - der
Eintritt einer konkreten Gefährdung oder gar einer Verletzung naheliegt (so
SCHULTZ, aaO). Die erhöhte abstrakte Gefahr setzt damit die naheliegende
Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung voraus. Dasselbe
gilt für die erhöhte abstrakte Gefahr, die gemäss Art. 2 lit. a OBG das
Ordnungsbussenverfahren ausschliesst.

    b) Die in Frage stehende Strassenverzweigung ist nach den
Feststellungen der Vorinstanz und wie sich aus dem Foto, auf das
sie verweist, ergibt, übersichtlich. Der geradeausfahrende Angeklagte
konnte überblicken, ob auf der eine Linkskurve beschreibenden Fahrbahn,
die an ihrem Ende spitzwinklig von links in seine Fahrbahn einmündete,
Fahrzeuge herannahten oder ihm wenige Wagenlängen vorausfuhren, wie dies
bei dem auf dem Foto sichtbaren anderen Personenwagen der Fall war. Die
Vorinstanz ging davon aus, dass der Angeklagte jenes Fahrzeug weder massiv
behindert habe, noch in gefährlicher Art und Weise auf dieses aufgefahren
sei. Sie verneinte damit eine konkrete Gefährdung für dessen Lenker. Zu
Recht bejahte sie indessen jedenfalls im Ergebnis eine erhöhte abstrakte
Gefährdung.

    Eine konkrete Gefährdung des von links einbiegenden Lenkers lag
in der Tat nahe, da dieser im Vertrauen auf die Verkehrsregelung
durch Lichtsignale, die für ihn auf grün und für den Angeklagten auf
rot geschaltet waren, in keiner Weise mit auf der Fahrbahn, in die er
einmünden wollte, auftauchenden Fahrzeugen rechnen musste. Dieser Lenker
hätte durch das Herannahen eines das Rotlicht missachtenden Personenwagens
leicht erschrecken und zu einer Fehlreaktion verleitet werden können,
welche die konkrete Gefahr einer Kollision heraufbeschwören oder gar zu
einer Kollision hätte führen können. Eine bloss allgemeine, abstrakte
Möglichkeit einer Gefährdung wäre nur dann mit Sicherheit anzunehmen,
wenn keine anderen Verkehrsteilnehmer vom Fehlverhalten des Angeklagten
hätten betroffen werden können. Dies trifft indes im zu beurteilenden Fall
nicht zu. Ob, wie die Vorinstanz ausführt, die Gefahr im Vergleich zu den
typischen Fällen, in denen das Rotlicht innert Sekundenbruchteilen nach
dem Wechsel auf rot passiert wird und den anderen Verkehrsteilnehmern die
Fahrt noch nicht freigegeben ist, erhöht ist, weil den Benützern der von
links einmündenden Fahrbahn mit dem grünen Licht die Fahrt seit mehreren
Sekunden freigegeben war, kann offenbleiben.

    Der Ausschluss des Ordnungsbussenverfahrens nach Art. 2 lit. a OBG
wegen der Annahme einer erhöhten abstrakten Gefährdung verletzt Bundesrecht
nicht. Aus diesen Gründen ist die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten
unbegründet und abzuweisen.

Erwägung 4

    4.- Nach dem Gesagten ist eine erhöhte abstrakte Gefahr für andere
Verkehrsteilnehmer zu bejahen. Bei dieser Sachlage hätte die Vorinstanz,
die dem Angeklagten grobe Fahrlässigkeit zur Last legt, konsequenterweise
von einer groben Verletzung der Verkehrsregeln ausgehen müssen. Hiefür
ist auch die weitere objektive Voraussetzung, nämlich die Verletzung einer
grundlegenden Verkehrsvorschrift, die besonders unfallträchtig ist, erfüllt
(BGE 106 IV 49 E. a und 388/9 mit Hinweisen, 118 IV 84). Indessen verletzt
die Annahme eines schweren Verschuldens im Sinne grober Fahrlässigkeit
Bundesrecht.

    Subjektiv verlangt Art. 90 Ziff. 2 SVG ein rücksichtsloses oder sonst
schwerwiegend verkehrswidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden,
bei fahrlässigem Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit. Dies ist immer
dann zu bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner
verkehrswidrigen Fahrweise bewusst ist. Grobe Fahrlässigkeit kann aber
auch vorliegen, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer
pflichtwidrig gar nicht in Betracht zieht, also unbewusst fahrlässig
handelt. In solchen Fällen bedarf jedoch die Annahme grober Fahrlässigkeit
einer sorgfältigen Prüfung (BGE 106 IV 49/50 mit Hinweisen). Sie wird
nur zu bejahen sein, wenn das Nichtbedenken der Gefährdung anderer
Verkehrsteilnehmer ebenfalls auf Rücksichtslosigkeit beruht und daher
besonders vorwerfbar ist.

    Im zu beurteilenden Fall ist eine grobe Fahrlässigkeit zu verneinen,
weil der Angeklagte nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz
infolge Unaufmerksamkeit das auf rot gestellte Lichtsignal übersah und
somit unbewusst handelte. Diese Pflichtwidrigkeit wiegt angesichts
der Übersichtlichkeit der spitzwinkligen Einmündung allein einer
Fahrbahn von links und der ausgesprochen ruhigen Verkehrslage nicht
besonders schwer. Von einem rücksichtslosen Verhalten kann daher nicht
gesprochen werden. Da der Angeklagte das ihm auf der einmündenden
Fahrbahn wenige Wagenlängen vorausfahrende Fahrzeug beobachten und
auf dieses auch entsprechend Rücksicht nehmen konnte, erweist sich die
Verkehrsregelverletzung als nicht schwerwiegend.

    Aus diesen Gründen ist auch die Nichtigkeitsbeschwerde der
Staatsanwaltschaft unbegründet und abzuweisen.