Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IV 209



118 IV 209

37. Urteil des Kassationshofs vom 13. Juli 1992 i.S. B. gegen H. und
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 28, Art. 138 Abs. 1 StGB; Strafantrag, Entwendung.

    Das Recht, Strafantrag zu stellen, steht bei der Entwendung neben dem
Eigentümer auch jedem Berechtigten zu, dessen Interessen am Gebrauch der
Sache durch deren Wegnahme unmittelbar beeinträchtigt sind.

Sachverhalt

    A.- H. arbeitete im Sommer 1989 als Galtvieh-Hirte für die
Alpkorporation in X. Ende Juni 1989 verarbeitete er, da er einen Viehzaun
errichten wollte, dürre Tännchen zu Holzpfosten und stellte diese am Rande
des Alpweges unterhalb der Alp X. im Gebiet N. bereit. Am 1. September
1989 erstattete H. Strafanzeige gegen B. mit der Begründung, dieser habe
die bereitgestellten Pfosten am 1. Juli 1989 in sein Geländefahrzeug
geladen und sie anschliessend in sein Maiensäss in N. gebracht. Einen
formellen Strafantrag unterzeichnete H. am 28. September 1989.

    Der Kreispräsident Alvaschein sprach B. mit Strafmandat vom 29. Mai
1990 der Entwendung gemäss Art. 138 Abs. 1 StGB schuldig und verurteilte
ihn zu einer Busse von Fr. 200.--. Auf Einsprache hin bestätigte der
Kreisgerichtsausschuss Alvaschein mit Urteil vom 12. Februar 1991 das
angefochtene Strafmandat.

    Gegen dieses Urteil erhob B. Berufung, welche der
Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden mit Urteil vom 27. Mai 1991
(mitgeteilt am 8. August 1991) abwies.

    B. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Einstellung des
Verfahrens, eventuell zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Subeventuell beantragt er, das Strafverfahren sei einzustellen bzw. er
sei von Schuld und Strafe freizusprechen.

    Der Kantonsgerichtsausschuss Graubünden beantragt unter Verzicht auf
Gegenbemerkungen Abweisung der Beschwerde, soweit auf sie eingetreten
werden kann.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz (Art. 277bis Abs. 1 BStP) war der Beschwerdegegner 1
Angestellter der Alpgenossenschaft X., als welcher er befugt war, aus
Gemeindeholz Pfosten herzustellen und diese für die Errichtung eines
Zauns zu verwenden. Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt,
der Beschwerdegegner 1 habe, indem er solche Pfosten angefertigt habe,
an diesen zumindest eine eigentümerähnliche Stellung innegehabt und sei
durch den Verlust dieser Hilfsmittel am rechtmässigen normalen Gebrauch
derselben gehindert worden. Aufgrund dieser Umstände sei er im Sinne von
Art. 28 StGB verletzt und zur Stellung eines Strafantrages befugt gewesen.

    Demgegenüber macht der Beschwerdeführer geltend, der Beschwerdegegner
1 sei nicht im Sinne von Art. 28 Abs. 1 StGB verletzt worden, weshalb
er nicht antragsberechtigt sei. Bei den strafbaren Handlungen gegen das
Eigentum, unter welche Art. 138 StGB einzuordnen sei, werde als Rechtsgut
das Eigentum geschützt. Verletzter im Sinne von Art. 28 Abs. 1 StGB
könne daher nur sein, wer eine sich aus der Eigentümerstellung ergebende
tatsächliche und rechtliche Verfügungsmacht über eine Sache innehabe. Der
Gewahrsamsinhaber sei deshalb nicht als Verletzter anzusehen und somit
nicht zur Stellung eines Strafantrags berechtigt. Der Beschwerdegegner 1
habe überdies keine eigentümerähnliche Stellung innegehabt, sondern sei
lediglich Besitzdiener bzw. Gewahrsamsdiener gewesen.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 28 Abs. 1 StGB kann, wenn eine Tat nur auf Antrag
strafbar ist, jeder, der durch sie verletzt worden ist, die Bestrafung des
Täters beantragen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gilt als
Verletzter nur, wer materiellrechtlich Träger des unmittelbar angegriffenen
Rechtsgutes ist. Derjenige, dessen Interessen durch die strafbare Handlung
bloss irgendwie beeinträchtigt werden, der also durch die strafbare
Handlung nur mittelbar betroffen wird, gilt nicht als verletzt und
ist folglich auch nicht antragsberechtigt (BGE 92 IV E. 2a, 86 IV 82;
vgl. ferner BGE 117 Ia 138). Wer Träger des angegriffenen Rechtsgutes
ist, ergibt erst die Auslegung des betreffenden Tatbestandes (TRECHSEL,
Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, Art. 28 N 2; REHBERG, Der
Strafantrag, ZStR 85/1969, S. 248; vgl. hiezu BGE 111 IV 67, 108 IV 24).

    Nach der Rechtsprechung ist bei der Sachbeschädigung nicht nur
der Eigentümer als Träger des unmittelbar geschützten Rechtsgutes
antragsberechtigt, sondern überdies der Mieter bzw. jeder Berechtigte,
der die Sache nicht mehr gebrauchen kann (BGE 74 IV 6, 102 II 87 E. a;
117 IV 438 E. 1b mit Hinweisen). Im Zusammenhang mit dem Tatbestand des
Diebstahls zum Nachteil von Angehörigen oder Familiengenossen gemäss
Art. 137 Ziff. 3 StGB hat das Bundesgericht bisher offengelassen, ob
auch der Gewahrsamsinhaber als Verletzter im Sinne des Art. 28 StGB
anzusehen sei (BGE 84 IV 14). In einem unveröffentlichten Entscheid
hat es hingegen erkannt, dass jedenfalls der blosse Besitzdiener zum
Antrag nicht berechtigt ist (Urteil des Bundesgerichts vom 22. Dezember
1986 i.S. W.). Für den Fall der Unterschlagung eines Wertpapiers hat es
offengelassen, ob neben dem Eigentümer des Papiers auch der Berechtigte
aus dem Papier unmittelbar verletzt sei (BGE 98 IV 243).

Erwägung 3

    3.- a) Es ist aufgrund der tatsächlichen Feststellungen
der Vorinstanz davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner 1
Gewahrsamsinhaber der Holzpfosten war. Eigentümerin war die Gemeinde
X. oder die Alpgenossenschaft, vorausgesetzt es handle sich bei
ihr um eine selbständige juristische Person und nicht bloss um eine
unselbständige Anstalt der Gemeinde, was aber offenbleiben kann. Ob
der Beschwerdegegner 1 hinsichtlich der Holzpfosten zivilrechtlich
lediglich als Besitzdiener zu betrachten ist, wie der Beschwerdeführer
geltend macht, kann ebenfalls offenbleiben, da der strafrechtliche
Gewahrsamsbegriff nicht identisch ist mit dem zivilrechtlichen Begriff
des Besitzes (SCHUBARTH, Komm. Strafrecht, Bes. Teil, 2. Bd., Art. 137
N 60). Gewahrsam als tatsächliche Sachherrschaft nach den Regeln des
sozialen Lebens ist hinsichtlich des Beschwerdegegners 1 zu bejahen, da
dieser die Holzpfosten selbst aus Gemeindeholz anfertigte und sie für die
Erstellung eines elektrischen Zauns zur Erleichterung seiner Arbeit als
Viehhirt verwenden wollte. Der Beschwerdegegner 1 übte damit den Gewahrsam
nicht bloss für seinen Arbeitgeber aus, wie dies für den Arbeiter in bezug
auf die von ihm hergestellten Werkstücke bejaht wird (vgl. STRATENWERTH,
Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil 1, 3. Aufl., § 8 N 85).

    b) Die Antragsberechtigung gemäss Art. 28 Abs. 1 StGB richtet sich
nach dem Träger des angegriffenen Rechtsgutes. Bei höchstpersönlichen
Rechtsgütern (Ehre, Berufsgeheimnis usw.) ist Verletzter nur der Träger des
Rechtsgutes selbst, bei anderen Rechtsgütern sind auch andere Personen,
die ein rechtlich geschütztes Interesse an der Erhaltung des Rechtsgutes
haben, antragsberechtigt (vgl. NOLL/TRECHSEL, Schweizerisches Strafrecht,
Allg. Teil I, 3. Aufl., S. 242).

    Rechtsgut der Bestimmungen von Art. 137 ff. StGB ist das Eigentum,
auch wenn die gegen dasselbe gerichteten Handlungen es als Recht nicht
aufheben, sondern lediglich in die dem absoluten Recht entsprechende
Verfügungsmacht über Sachwerte eingreifen (STRATENWERTH, aaO, § 8 N 2). Der
Eigentümer wird beim Diebstahl im Grunde nur in der Ausübung seines Rechts,
mit der Sache nach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung
auszuschliessen, betroffen. Rechtsgut ist daher die Verfügungsmöglichkeit
des Rechtsgutsinhabers (vgl. SCHÖNKE/SCHRÖDER/ESER, Strafgesetzbuch,
Kommentar, § 242 N 1).

    Für den zu beurteilenden Fall ist wesentlich, dass die
Antragsberechtigung auch im Interesse an der Erhaltung des Rechtsgutes
begründet sein kann, welches nicht nur der eigentliche Rechtsgutsträger
besitzt. Insofern kann auch derjenige im Sinne von Art. 28 Abs. 1 StGB
verletzt sein, in dessen Rechtskreis die Tat unmittelbar eingreift,
sowie derjenige, dem eine besondere Verantwortung für die Erhaltung des
Gegenstandes obliegt. Hinsichtlich der Sachbeschädigung gemäss Art. 145
Abs. 1 StGB hat das Bundesgericht die Antragsberechtigung in diesem
Sinne auch auf den Mieter bzw. jeden Berechtigten, der die Sache nicht
mehr gebrauchen kann, ausgedehnt (BGE 74 IV 6, 102 II 87 E. a). Dem liegt
der Gedanke zugrunde, dass der Mieter und andere Berechtigte unmittelbar
auf den Gebrauchswert der Sache angewiesen und deshalb von deren Ausfall
stärker betroffen sein können, als jener, der den entsprechenden Sachwert
verloren hat (BGE 117 IV 438 E. 1b).

    Wenn jedoch die Antragsberechtigung bei der Sachbeschädigung
nicht bloss auf den Eigentümer beschränkt ist, müssen ebenfalls bei
der Entwendung und gegebenenfalls beim Diebstahl, soweit es sich
um ein Antragsdelikt gemäss Art. 137 Ziff. 3 StGB handelt, auch
andere Berechtigte, deren Interessen am Gebrauch der Sache durch die
Wegnahme derselben unmittelbar beeinträchtigt wurden, Strafantrag stellen
können. Was in diesem Zusammenhang zur Sachbeschädigung gesagt wurde, gilt
in gleicher Weise auch hier. Aus diesen Gründen war der Beschwerdegegner
1 als am Gebrauchswert unmittelbar interessierter Gewahrsamsinhaber zur
Stellung eines Strafantrags berechtigt. Die Beschwerde erweist sich daher
als unbegründet.