Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IV 105



118 IV 105

21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 20. Mai
1992 i.S. N. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
(Nichtigkeitsbeschwerde). Regeste

    Art. 42 Ziff. 1 Abs. 2 StGB; Verwahrung; Begutachtung des Täters.

    Vor der Verwahrung nach Art. 42 StGB ist in der Regel ein Gutachten
über den Täter einzuholen (E. 1e).

Sachverhalt

    A.- Am 3. September 1990 sprach das Obergericht des Kantons
Zürich N. schuldig des gewerbs- und bandenmässigen Diebstahls, des
versuchten einfachen Diebstahls, der wiederholten Sachbeschädigung, des
wiederholten Hausfriedensbruchs, der fortgesetzten Widerhandlung gegen
das Betäubungsmittelgesetz sowie der einfachen Verkehrsregelverletzung
und bestrafte ihn mit viereinhalb Jahren Zuchthaus, abzüglich 408
Tage Untersuchungshaft. Anstelle des Vollzugs der Strafe ordnete es
gemäss Art. 42 Ziff. 1 StGB seine Verwahrung an. B. - Dagegen erhebt
N. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichts aufzuheben; dieses sei anzuweisen, ein psychiatrisches
Gutachten über ihn anzuordnen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde, soweit es darauf eintritt,
teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe
Bundesrecht verletzt, indem sie seine Verwahrung angeordnet habe, ohne
ein Gutachten über ihn eingeholt zu haben. Vor einer Verwahrung nach
Art. 42 StGB sei stets eine Begutachtung erforderlich.

    b) Die Vorinstanz legt dar, nach der Lehre bedürfe es keines
Gutachtens zur Beurteilung der Frage, ob ein Täter im Sinne von Art. 42
Ziff. 1 StGB einen Hang zu Verbrechen oder Vergehen aufweise; das habe
allein der Richter zu entscheiden. Aufgabe des Gutachters könne es nur
sein abzuklären, ob die Voraussetzungen einer Massnahme gemäss Art. 43
oder 44 StGB gegeben seien. Zwar werde von einigen Autoren gefordert,
dass vor einer Verwahrung in jedem Fall ein Gutachten eingeholt werden
müsse. Diese Auffassung widerspreche jedoch dem Gesetzestext. Es gebe keine
Hinweise dafür, dass der Beschwerdeführer an einer Geisteskrankheit leide,
insbesondere an einer Krankheit, welche die Anordnung einer stationären
Massnahme nach Art. 43 StGB verlange. Aus seinen Aussagen gehe zwar
hervor, dass er - wie zeitweise bereits früher - Ende 1988/anfangs 1989
Kokain geschnupft und mit Medikamenten Missbrauch getrieben habe. Es könne
indessen nicht davon gesprochen werden, dass es sich beim Beschwerdeführer
um einen über lange Zeit schwer süchtigen Täter handle, bei dem eine
Behandlung gestützt auf Art. 44 Ziff. 1 und 6 StGB im Rahmen einer
spezialisierten Drogenklinik notwendig wäre. Das ergebe sich auch aus dem
Bericht der kantonalen Strafanstalt Lenzburg. Soweit der Beschwerdeführer
während des Straf- bzw. Verwahrungsvollzuges einer Betreuung bedürfe,
seien entsprechende Schritte bereits eingeleitet worden. Für die Einholung
eines Gutachtens bestehe kein Anlass.

    c) Gemäss Art. 42 Ziff. 1 StGB kann der Richter an Stelle des
Vollzuges einer Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe Verwahrung anordnen, wenn
der Täter schon zahlreiche Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich verübt
hat und ihm deswegen durch Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen oder eine
Arbeitserziehungsmassnahme die Freiheit während insgesamt mindestens
zwei Jahren entzogen wurde, oder wenn er an Stelle des Vollzuges von
Freiheitsstrafen bereits als Gewohnheitsverbrecher verwahrt war, und er
innert fünf Jahren seit der endgültigen Entlassung ein neues vorsätzliches
Verbrechen oder Vergehen begeht, das seinen Hang zu Verbrechen oder
Vergehen bekundet (Abs. 1).

    Der Richter lässt den geistigen Zustand des Täters soweit erforderlich
untersuchen (Abs. 2; vgl. auch Art. 13 Abs. 1 StGB).

    d) Nach der einhelligen Ansicht des Schrifttums ist der Richter
bei seinem Urteil über die Voraussetzungen der Verwahrung gemäss
Art. 42 StGB nicht an psychiatrische Gutachten gebunden; ob ein Hang
zu Verbrechen oder Vergehen bestehe, habe er selber zu entscheiden;
die Medizin verfüge insoweit über keine besseren Erkenntnismittel
(STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil II, § 10 N 26;
TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, Art. 42 N 12;
REHBERG, ZStR 93 (1977), S. 214 f.; REHBERG, Strafrecht II, 5. Aufl.,
S. 107; VOSSEN, ZStR 89 (1973), S. 117 f.). Die Begutachtung könne sich,
was die Verwahrung nach Art. 42 StGB betreffe, daher nur in negativer
Form zur Frage äussern, ob die Massnahme angezeigt sei, indem sie die
Zweckmässigkeit aller andern strafrechtlichen Massnahmen ausschliesse
(STRATENWERTH, aaO, § 10 N 43; TRECHSEL, aaO; REHBERG, aaO; VOSSEN,
aaO). Wenigstens vor der erstmaligen Anordnung der Verwahrung nach Art. 42
StGB sei eine Begutachtung grundsätzlich unumgänglich (SCHULTZ, Einführung
in den allgemeinen Teil des Strafrechts, 2. Band, 4. Aufl., S. 194;
REHBERG, ZStR 89 (1973), S. 284; REHBERG, Strafrecht II, S. 107; ALBRECHT,
Die allgemeinen Voraussetzungen zur Anordnung freiheitsentziehender
Massnahmen gegenüber erwachsenen Delinquenten, Basel 1981, S. 84).

    e) Art. 42 Ziff. 1 Abs. 2 StGB verlangt eine Untersuchung des
geistigen Zustands des Täters, soweit das erforderlich ist. Anders als
bei der Anordnung einer Massnahme gegenüber einem geistig Abnormen
(Art. 43 Ziff. 1 Abs. 3 StGB) ist die Begutachtung nicht zwingend
vorgeschrieben. Dem Richter muss daher beim Entscheid darüber, ob vor
einer Verwahrung nach Art. 42 StGB ein Gutachten einzuholen sei, ein
Beurteilungsspielraum zustehen.

    Eine Begutachtung des Täters vor seiner Verwahrung nach Art. 42 StGB
ist dann entbehrlich, wenn sich ein in einem früheren Verfahren erstattetes
und noch schlüssiges Gutachten über ihn bei den Akten befindet. Bereits
der Bundesrat, der die Untersuchung des Täters vor der Verwahrung
gemäss Art. 42 StGB zwingend vorschreiben wollte, äusserte sich in seiner
Botschaft über eine Teilrevision des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom
1. März 1965 dahingehend, dass in diesem Fall von einer Begutachtung Umgang
genommen werden könne (BBl 1965 I, S. 573/4). Das ist auch in den Räten,
die von der vom Bundesrat vorgesehenen Begutachtungspflicht abgewichen
sind, unbestritten geblieben (Votum Zellweger, Amtl. Bull. 1967 S 60).

    Auch dann, wenn sich kein brauchbares Gutachten bei den Akten
befindet, kann der Richter angesichts des Gesetzeswortlautes ("soweit
erforderlich") nicht gehalten sein, vor der Verwahrung nach Art. 42 StGB
stets ein Gutachten einzuholen. Fälle, in denen eine Untersuchung des
Täters hier entbehrlich ist, werden allerdings die Ausnahme sein. Denn
die Verwahrung ist eine ausserordentlich einschneidende Massnahme. Ihre
Mindestdauer beträgt drei Jahre, im Falle der Rückversetzung in der
Regel fünf Jahre (Art. 42 Ziff. 4 StGB). Ein Vollzugsziel ist mit ihr
nicht verbunden. Sie ist das letzte Mittel für einen besserungsunfähigen
rückfälligen Rechtsbrecher. In Betracht kommt sie daher erst, wenn vom
Vollzug der Freiheitsstrafe eine Wirkung nicht mehr zu erwarten ist und
die Anordnung einer bessernden Massnahme gemäss den Art. 43, 44 oder
100bis StGB ausscheidet (vgl. BGE 86 IV 204). Ob das der Fall ist, kann
der Richter in der Regel ohne gutachterliche Hilfe nicht entscheiden.

    f) Angezeigt ist eine Begutachtung namentlich dann, wenn beim Täter
Anzeichen für eine Alkohol- oder Drogensucht oder für eine geistige
Abnormität bestehen.

    Der Beschwerdeführer ist 51 Jahre alt. Ein Gutachten wurde über ihn
bisher nie erstellt. Nach den Feststellungen im angefochtenen Entscheid
schnupfte er Ende 1988/anfangs 1989 - wie zeitweise bereits früher -
Kokain und trieb mit Medikamenten Missbrauch. Die Vorinstanz nimmt denn
auch an, dass seine Einsichts- und Willensfähigkeit bei den im Februar
1989 verübten Einbruchdiebstählen wegen Kokain-, Medikamenten- und
Alkoholkonsums vermindert war. Anzeichen für eine Alkohol- und Drogensucht
und damit auch für psychische Schwierigkeiten waren somit gegeben. Eine
Massnahme nach Art. 43 oder 44 StGB fiel folglich nicht von vornherein
ausser Betracht. Die Vorinstanz hätte demnach eine Begutachtung anordnen
müssen. Indem sie das nicht tat, verletzte sie Bundesrecht. Die Beschwerde
ist in diesem Punkt gutzuheissen.