Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IV 1



118 IV 1

1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 10. März 1992
i.S. B. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 11 StGB. Verminderung der Zurechnungsfähigkeit, Strafmilderung.

    Bei verminderter Zurechnungsfähigkeit ist die Strafe, die bei voller
Zurechnungsfähigkeit ausgefällt worden wäre, auch dann entsprechend
dem Grad der Verminderung zu reduzieren, wenn die Tat objektiv
schwer wiegt. Dies gilt auch für eine alkoholbedingte Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit beim Tatbestand des Fahrens in angetrunkenem Zustand,
wenn keine "actio libera in causa" vorliegt.

Sachverhalt

    A.- Zu Sachverhalt und Vorgeschichte siehe BGE 117 IV 292.

    B.- Die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern verurteilte
B. am 26. September 1991 wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand und
Nichtbeherrschens des Fahrzeugs unter Zubilligung einer Verminderung
der Zurechnungsfähigkeit in mittlerem Grade zu einer Gefängnisstrafe
von 50 Tagen, nachdem sie in ihrem ersten Urteil vom 23. August 1990
ohne Zubilligung einer Verminderung der Zurechnungsfähigkeit eine
Gefängnisstrafe von zwei Monaten ausgefällt hatte.

    C.- Der Verurteilte führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache
zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Die
Generalprokurator-Stellvertreterin des Kantons Bern beantragt die Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht zunächst eine Bundesrechtsverletzung
in bezug auf die Strafzumessung geltend.

    a) Gemäss den Ausführungen im angefochtenen Urteil hat der
Beschwerdeführer in schwer alkoholisiertem Zustand eine Autofahrt von
rund 130 km unternehmen wollen. Er habe dadurch Mensch und Umwelt massiv
gefährdet; die Tat sei deshalb nach ihrem objektiven Erscheinungsbild als
schwer zu bezeichnen. Nach dem in Rechtskraft erwachsenen erstinstanzlichen
Schuldspruch sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Moment des
Fahrtantritts wusste oder doch mit der Möglichkeit rechnete, er sei durch
den Alkoholgenuss an der sicheren Führung des Fahrzeuges gehindert. Weiter
sei nach den verbindlichen Erwägungen des Bundesgerichtes davon auszugehen,
dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Alkoholkonsums weder wusste
noch damit rechnete, noch bei pflichtgemässer Vorsicht damit hätte rechnen
müssen, später unter Alkoholeinfluss ein Fahrzeug zu führen, weshalb
vorsätzliche bzw. fahrlässige "actio libera in causa" auszuschliessen
seien. Zur Beurteilung stehe somit eine vorsätzliche "unvorhersehbare
Trunkenheitsfahrt". Nach den weiteren Erwägungen der Vorinstanz liegt in
bezug auf eine verminderte Zurechnungsfähigkeit die Besonderheit darin,
dass die Trunkenheitsfahrt gerade die in Art. 91 Abs. 1 SVG mit Strafe
bedrohte Verhaltensweise sei. Die Auffassung des Bundesgerichtes habe
in jenen Fällen, in denen wie vorliegend sowohl die vorsätzliche wie
auch die fahrlässige "actio libera in causa" auszuschliessen seien, zur
Folge, dass zwischen objektiver und subjektiver Tatschwere ein umgekehrt
proportionales Verhältnis bestehe: Je höher der Alkoholisierungsgrad und
damit die objektive Tatschwere seien, desto geringer sei die Intensität
des "verbrecherischen Willens", erschwere doch die mit zunehmendem
Trunkenheitsgrad fortschreitende Enthemmung es dem Täter, der Einsicht
in das Tatunrecht entsprechend auf die Trunkenheitsfahrt zu verzichten,
weshalb die Tat subjektiv nicht schwer wiege. Zu prüfen sei die Gewichtung
der objektiven und der subjektiven Strafzumessungsfaktoren. Gerade auch die
Leichtfertigkeit, mit welcher sich Autofahrer immer wieder über die ihnen
bewusste, letztlich entscheidende Hemmschwelle hinwegsetzen, werde durch
Art. 91 SVG pönalisiert. Demnach könnten die objektive und die subjektive
Tatschwere bei der Beurteilung des Verschuldens nicht gleich gewichtet
werden, würden sie sich doch andernfalls, insbesondere bei einem hohen
Alkoholisierungsgrad, gegenseitig kompensieren. Im vorliegenden Fall könne
sich deshalb die in Berücksichtigung der verminderten Zurechnungsfähigkeit
nur als relativ geringfügig zu bezeichnende subjektive Tatschwere nicht
stark zugunsten des Beschwerdeführers auswirken.

    Die Vorinstanz hält im weiteren fest, dass die Lebensführung des
Beschwerdeführers zu keinerlei Beanstandung Anlass gebe. Einzig sein
automobilistischer Leumund, welcher vorliegend erheblich ins Gewicht falle,
könne in Anbetracht seiner Vorstrafen (Verurteilungen wegen Fahrens in
angetrunkenem Zustand vom 19. Oktober 1970 zu 20 Tagen Gefängnis bedingt
und Busse von Fr. 500.-- und vom 19. August 1983 zu drei Wochen Gefängnis
bedingt und Busse von Fr. 1'000.--) nicht mehr als gut bezeichnet werden.

    Die Vorinstanz führt sodann aus, auch wenn im Urteil vom 23. August
1990 Art. 11 StGB nicht angewendet worden sei, habe sie den besonderen
Umständen des Falles, nämlich dem nicht vorgesehenen Aufstehen des
Beschwerdeführers mitten in der Nacht, im Rahmen von Art. 63 StGB unter
dem Aspekt der Beweggründe Rechnung getragen, weshalb jetzt die Anwendung
von Art. 11 StGB nicht zu einer massiven Strafreduktion führen könne. Sie
berücksichtigt weiter, dass Art. 91 SVG gerade jenes Verhalten unter Strafe
stelle, welches nun im Rahmen von Art. 11 StGB zu einer Strafmilderung
führen müsse. Wenn nicht die Strafwürdigkeit eines solchen Verhaltens
gänzlich in Frage gestellt werden solle, könne sich deshalb die verminderte
Zurechnungsfähigkeit nur beschränkt strafmildernd auswirken.

    b) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe damit
Art. 63 und Art. 11 StGB in unzulässiger Weise "vermischt". In der
Konsequenz führe die Auffassung der Vorinstanz dazu, dass man Art. 11 StGB
überhaupt nicht mehr brauche. Die Strafzumessung habe jedoch schrittweise
zu erfolgen, wobei das Resultat der Überlegungen gemäss Art. 63 StGB
gleich laute, egal ob der Täter voll oder vermindert zurechnungsfähig
war. Erst wenn das Strafmass feststehe, werde die Strafe, sofern die
Voraussetzungen von Art. 11 StGB gegeben seien, im Sinne von Art. 66
StGB gemildert. Im übrigen gelte im Kanton Bern die Faustregel, dass
bei leichter Verminderung der Zurechnungsfähigkeit die "Einsatzstrafe"
um einen Viertel, bei mittelschwerer Verminderung um die Hälfte und bei
schwerer Beeinträchtigung auf einen Viertel reduziert werde. Das freie
Ermessen des Richters im Sinne von Art. 66 StGB sei jedoch sicherlich
nicht so zu verstehen, dass er die Anwendung von Art. 66 durch Hinweis auf
Art. 63 StGB teilweise ablehnen könne. Im übrigen sei nicht einsichtig,
weshalb bei Art. 91 SVG ein anderer "Kürzungsmassstab" als bei anderen
Taten gelten solle. Dem Beschwerdeführer erscheint eine Strafe von 30
Tagen als angemessen.

    c) Der Beschwerdegegner ist der Ansicht, dass sich aus den von der
Vorinstanz genannten Gründen die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
nicht stark auswirken konnte.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 11 StGB kann der Richter die Strafe nach
freiem Ermessen mildern, wenn der Täter zur Zeit der Tat vermindert
zurechnungsfähig war. Der Richter ist dabei weder an die Strafart noch an
das Strafmass, wohl aber an das gesetzliche Mindestmass der jeweiligen
Strafart gebunden (Art. 66 StGB). Nach herrschender und zutreffender
Auffassung muss der Richter den Strafmilderungsgrund der verminderten
Zurechnungsfähigkeit mindestens strafmindernd berücksichtigen (BGE 116 IV
303 E. bb mit Hinweisen). Die Bestimmungen über die Zurechnungsfähigkeit
(Art. 10-13 StGB) sind Ausfluss des das ganze Strafrecht beherrschenden
Schuldprinzips. Eine alkoholbedingte Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
kann deshalb, unter Vorbehalt der bei einer "actio libera in causa"
geltenden Regeln, auch beim Tatbestand des Fahrens in angetrunkenem
Zustand beachtlich sein (BGE 117 IV 294 E. 2).

    Die Vorinstanz geht von einer in mittlerem Grade verminderten
Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers aus. Verminderte
Zurechnungsfähigkeit in mittlerem Grade bedeutet, dass der Schuldvorwurf,
der dem Täter gemacht werden kann, verglichen mit dem Schuldvorwurf bei
voller Zurechnungsfähigkeit in entsprechendem Ausmass geringer ist. Das
Ausmass der strafrechtlich relevanten Schuld steht also in Beziehung zum
Ausmass der Verminderung der Zurechnungsfähigkeit. Nach dem oben Gesagten
muss der Richter dieser Verminderung der Schuld Rechnung tragen, und zwar
im ganzen Ausmass der Verminderung. Die Vorinstanz ist demgegenüber, wie
dargelegt, der Ansicht, für die Bemessung der Schuld sei vorliegend in
erster Linie die objektive Tatschwere zu berücksichtigen. Damit verletzt
sie Bundesrecht.

    Zwischen voller Zurechnungsfähigkeit und völliger
Unzurechnungsfähigkeit gemäss Art. 10 StGB sind kontinuierliche
Abstufungen denkbar. Gegenüber dem Unzurechnungsfähigen, also etwa
gegenüber dem Mörder, der zufolge geistiger Umnachtung in völliger
Unzurechnungsfähigkeit getötet hat, darf auch bei objektiv sehr
schweren Straftaten nach der klaren Anordnung des Gesetzes keine Strafe
ausgesprochen werden. Dies macht deutlich, dass der Verminderung der
Schuldfähigkeit entgegen der Ansicht der Vorinstanz nicht die objektive
Schwere der Tat entgegengehalten werden darf. Vielmehr ergibt sich
aus der Straflosigkeit des völlig Unzurechnungsfähigen, dass gegen
den in sehr starkem Masse vermindert Zurechnungsfähigen nur eine im
Vergleich mit der Strafe für den voll Schuldfähigen sehr geringe Strafe
ausgesprochen werden darf. Entsprechend ist die Strafe bei verminderter
Zurechnungsfähigkeit in mittlerem Grade verglichen mit der Strafe, die
für die gleiche Tat eines voll Zurechnungsfähigen ausgesprochen würde,
in mittlerem Ausmass zu reduzieren (vgl. HAUSER/REHBERG, Strafrecht
I, 4. Aufl. 1988, S. 160; TRECHSEL, Kurzkommentar, Art. 11 StGB N 6;
HEINZ SCHÖCH, Die Beurteilung von Schweregraden schuldmindernder oder
schuldausschliessender Persönlichkeitsstörungen aus juristischer Sicht,
MSchrKrim 1983, S. 333 ff., 337; RUDOLPHI, Systematischer Kommentar zum
dt. StGB, § 21 N 7). Diese Prinzipien gelten für alle Straftaten, auch für
das Fahren in angetrunkenem Zustand, wenn, wie vorliegend, nicht durch
Rückgriff auf die Figur der "actio libera in causa" der Schuldvorwurf
bereits für einen Zeitpunkt erhoben werden kann, in dem der Täter noch
voll zurechnungsfähig war.

    Die Vorinstanz hat in ihrem ersten, vom Bundesgericht aufgehobenen
Urteil ausgehend von voller Zurechnungsfähigkeit eine Gefängnisstrafe
von zwei Monaten ausgesprochen. Dabei hat sie dem Beschwerdeführer unter
anderem vorgeworfen, dass er mit einer sehr hohen Alkoholkonzentration
gefahren ist. Bloss in einem eingeschobenen Nebensatz - "obwohl unter
besonderen Umständen nach dem nicht vorgesehenen Aufstehen mitten in der
Nacht" - hat sie auf die Besonderheit des Falles Bezug genommen. Es ist
nicht anzunehmen, dass sich dieser Hinweis nennenswert zugunsten des
Beschwerdeführers auf die Strafzumessung im ersten Urteil ausgewirkt
hat. Indem die Vorinstanz im zweiten Urteil eine Strafe von 50 Tagen
Gefängnis ausfällte, hat sie der Verminderung der Zurechnungsfähigkeit in
mittlerem Grade nach dem Gesagten aus sachfremden Gründen nicht ausreichend
Rechnung getragen. Die schwerwiegende Gefährdung, die der Beschwerdeführer
schuf, indem er mit einer Blutalkoholkonzentration von 2,26 Gew.-%o ein
Automobil lenkte, bzw. die sich daraus ergebende objektive Schwere der
Tat durfte bei der Strafzumessung straferhöhend berücksichtigt werden, und
die Vorinstanz hat dies denn auch sowohl im ersten Urteil vom 23. August
1990 als auch im vorliegend angefochtenen Entscheid getan. Die Vorinstanz
durfte aber die sich aus der hohen Alkoholkonzentration ergebende objektive
Schwere der Tat nicht ein zweites Mal bei der Strafzumessung zu Ungunsten
des Beschwerdeführers berücksichtigen, indem sie der Verminderung der
Schuld infolge der in mittlerem Grade verminderten Zurechnungsfähigkeit
unter Berufung auf die objektive Tatschwere bei der Strafzumessung nicht
vollumfänglich, sondern bloss beschränkt Rechnung trug.

    Die Vorinstanz verletzte somit Bundesrecht, indem sie die
Gefängnisstrafe infolge der Verminderung der Zurechnungsfähigkeit in
mittlerem Grade lediglich um einen Sechstel von zwei Monaten auf 50
Tage herabsetzte.