Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 II 97



118 II 97

21. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. April 1992 i.S. L.
gegen L. (Berufung) Regeste

    Art. 277 Abs. 2 ZGB; Voraussetzungen des Unterhaltsanspruchs des
mündigen Kindes gegenüber seinen Eltern.

    1. Wann schulden die Eltern einem mündigen Kind
Unterhalt? Zusammenfassung der Rechtsprechung (E. 4a).

    2. Einem Elternteil können Unterhaltsleistungen an ein mündiges Kind,
das sich noch in Ausbildung befindet, grundsätzlich nur zugemutet werden,
wenn ihm nach Ausrichtung der Unterhaltsleistungen noch ein Einkommen
verbleibt, das den (erweiterten) Notbedarf um ungefähr 20% übersteigt
(E. 4b/aa).

    3. Von dieser Richtlinie kann nach oben oder nach unten abgewichen
werden, wenn dies die Umstände des Einzelfalls rechtfertigen (E. 4b/bb
und dd).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Der Unterhaltsbeitrag hat grundsätzlich den wirtschaftlichen
Verhältnissen des Unterhaltspflichtigen zu entsprechen. Wer mittellos ist,
kann nicht verpflichtet werden, Unterhalt zu leisten, es sei denn, er könne
seine Mittellosigkeit durch zumutbare Arbeit selber beheben (HEGNAUER,
Grundriss des Kindesrechts, 3. Aufl., Bern 1989, S. 144, Rz. 21.15).
Das eigene Existenzminimum des Unterhaltspflichtigen ist somit bei der
Festsetzung von Unterhaltsbeiträgen grundsätzlich zu respektieren.

    a) Gemäss konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung kommt der
über die Mündigkeit des Kindes hinausgehenden Unterhaltspflicht der
Eltern Ausnahmecharakter zu (BGE 111 II 416; 113 II 376; 115 II 126 f.;
die Kritik bei STETTLER, Das Kindesrecht, SPR, Basel 1992, S. 306 f.,
richtet sich an den Gesetzgeber, nicht an die Rechtsprechung). Dies zeigt
sich einmal darin, dass Unterhalt überhaupt nur geschuldet ist, wenn
sich der Jugendliche noch in Ausbildung befindet und diese beruflichen
Charakter hat (BGE 115 II 126). Zudem besteht eine Unterhaltspflicht
nur für eine berufliche Ausbildung; Zweitausbildung, Weiterbildung und
Zusatzausbildung fallen grundsätzlich nicht darunter, auch wenn sie als
nützlich angesehen werden können. Anders verhält es sich jedoch, wenn
es um die erste eigentliche Berufsausbildung geht, selbst wenn sie erst
begonnen wird, nachdem der Jugendliche bereits erwerbstätig gewesen ist
(BGE 107 II 409 E. 2a). Die Ausbildung muss überdies einem - zumindest in
seinen Grundzügen (vgl. BGE 107 II 408 f.) - bereits vor der Mündigkeit
angelegten Lebensplan entsprechen (BGE 115 II 127; kritisch: STETTLER,
SPR, S. 304 f.). Schliesslich folgt aus dem Ausnahmecharakter auch, dass
die Unterhaltsleistungen aufgrund der persönlichen Beziehung zwischen
den Parteien und der wirtschaftlichen Leistungskraft des Pflichtigen als
zumutbar erscheinen müssen.

    Soll dem letzten Erfordernis eine selbständige Bedeutung zukommen,
bedeutet dies, dass eine Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem mündigen
Kind nur in Frage kommen kann, wenn ein Elternteil über einiges mehr
als den eigenen Notbedarf verfügt. Während es den Eltern zuzumuten ist,
sich für den Unterhalt des unmündigen Kindes bis zu ihrem eigenen
Existenzminimum einzuschränken, rechtfertigt es sich nicht, Eltern
volljähriger Kinder eine ebenso weitgehende Einschränkung zuzumuten. Die
Unterhaltsbedürfnisse weisen unterschiedliche Dringlichkeitsgrade
auf. Während die unmittelbaren Bedürfnisse eines Kindes wie Kleidung,
Nahrung, Wohnung und dergleichen zweifellos an erster Stelle stehen und
es den Eltern zuzumuten ist, nötigenfalls selbst auf einen bescheidenen
Wohlstand zu verzichten, um diese Bedürfnisse zu decken, stellt
eine höhere Berufsausbildung ein weniger elementares Bedürfnis dar,
obgleich sie keinesfalls als Luxus bezeichnet werden kann. Es erscheint
mit dem Ausnahmecharakter der Unterhaltspflicht über die Mündigkeit
hinaus nicht vereinbar, den Eltern den Verzicht auf jeden noch so
bescheidenen Wohlstand zuzumuten, um eine höhere Ausbildung ihres Kindes
zu finanzieren (vgl. JAKOB GROB, Die familienrechtlichen Unterhalts-
und Unterstützungsansprüche des Studenten, Diss. Bern 1975, S. 32).

    b) Es fragt sich, um wieviel das Einkommen des Unterhaltspflichtigen
dessen Notbedarf übersteigen muss, damit diesem Unterhaltsleistungen an
ein mündiges Kind zugemutet werden können.

    aa) Im Zusammenhang mit der Bedürftigkeitsrente geschiedener Ehegatten
nach Art. 152 ZGB geht die neuere bundesgerichtliche Rechtsprechung
davon aus, dass von einer Bedürftigkeit im Sinne dieser Bestimmung
grundsätzlich dann gesprochen werden kann, wenn das Einkommen nicht mehr
als 20% über dem Notbedarf liegt (BGE 114 II 304 mit Hinweis auf einen
nicht publizierten Entscheid vom 16. (recte: 15.) Juni 1982; bestätigt im
nicht publ. Entscheid vom 10. Mai 1990 i.S. R. c. R., E. 5b; HAUSHEER,
Neuere Tendenzen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Bereiche der
Ehescheidung, ZBJV 1986, S. 63; SPÜHLER/FREI-MAURER, Berner Kommentar,
Ergänzungsband, 1991, N. 10 zu Art. 152 ZGB). Dabei ist der Notbedarf
schon um die laufende Steuerlast zu erweitern, da die Beitragsfestsetzung
- im Gegensatz zur Zwangsvollstreckung - auf eine gewisse Dauer angelegt
ist und deshalb Schulden nicht einfach nach ihrer zeitlichen Priorität
berücksichtigt werden können, sondern dem Umstand Rechnung getragen werden
muss, dass Einkommen und Ausgaben auf die Dauer ausgewogen zu sein haben.

    Entsprechende Überlegungen gelten auch, wenn im Zusammenhang mit
der Bedürftigkeitsrente nach Art. 152 ZGB die Leistungsfähigkeit des
Unterhaltsschuldners beurteilt werden muss. Das Ausrichten einer in der
dargestellten Art errechneten Bedürftigkeitsrente kann einem Ehegatten nur
zugemutet werden, wenn der verbleibende Teil seines Einkommens wenigstens
seinen um 20% erhöhten Notbedarf noch deckt (vgl. BGE 114 II 304).

    Die gleichen Überlegungen treffen aber auch auf die Lage des
Unterhaltspflichtigen zu, der für die Ausbildung eines mündigen Kindes
aufkommen soll. Auch bei ihm müssen die Einnahmen und Ausgaben auf die
Dauer ausgeglichen sein. Zudem kann ihm nicht zugemutet werden, bloss
über den nackten Notbedarf zu verfügen, um seinem volljährigen Kind
eine höhere Ausbildung zu finanzieren. Es rechtfertigt sich deshalb,
Unterhaltsleistungen gegenüber dem volljährigen Kind grundsätzlich nur
dann als wirtschaftlich zumutbar anzusehen, wenn dem Unterhaltspflichtigen
nach Abzug der Unterhaltsbeiträge noch ein Einkommen verbleibt, das dessen
(erweiterten) Notbedarf um ungefähr 20% übersteigt.

    bb) Dies darf allerdings - wie beim Begriff der grossen Bedürftigkeit
nach Art. 152 ZGB (vgl. Bundesgericht in BJM 1980, S. 192 f., und Urteil
vom 10. Mai 1990 i.S. R. c. R., E. 5b) - nur als Grundsatz verstanden
werden, von dem im Einzelfall nach oben oder unten abgewichen werden kann,
wenn es die konkreten Umstände rechtfertigen. Ein Unterschreiten dieser
Limite könnte sich im Einzelfall rechtfertigen, wenn es beispielsweise
darum geht, nur noch wenige Monate einer Ausbildung zu finanzieren,
oder wenn der Unterhaltspflichtige Aussicht darauf hat, in absehbarer
Zeit sein Einkommen wesentlich zu verbessern. Andererseits könnte die
Limite höher anzusetzen sein, wenn der Unterhaltspflichtige nachweist,
dass er auf Rückstellungen für die Zukunft angewiesen ist.

    cc) Der Beklagte geht in der Berufungsschrift nicht von einem Zuschlag
von 20% auf dem gesamten (erweiterten) Notbedarf aus, um das Mindestmass
seiner Leistungsfähigkeit zu bestimmen, sondern fordert eine Erhöhung des
im Notbedarf inbegriffenen Grundbetrages um die Hälfte. Der Grundbetrag
ist eine nicht individuell bestimmte Pauschale, welche die allgemeinen
Kosten für Ernährung, Bekleidung, kulturelle Bedürfnisse, Taschengeld
und anderes mehr erfassen soll. Diese Betrachtungsweise führt indessen
vorliegend nicht zu einem wesentlich anderen Ergebnis. Es braucht deshalb
auch nicht geprüft zu werden, ob sich ein Abweichen von der aufgestellten
Regel rechtfertigt, wenn sich bei einer fünfzigprozentigen Erhöhung des
Grundbedarfs ein erheblich anderer Betrag ergibt als bei der Erhöhung des
(erweiterten) Notbedarfs um 20%.

    dd) Das Obergericht hat einen erweiterten Lebensbedarf des Beklagten
von Fr. 4'025.-- errechnet. Schlägt man 20% dazu, ergibt sich ein
Betrag von Fr. 4'830.--. Die Vorinstanz geht von einem Einkommen
des Beklagten von Fr. 4'629.-- aus. Das Einkommen erreicht den um 20%
erhöhten (erweiterten) Notbedarf somit nicht. Es sind keinerlei Umstände
nachgewiesen, die eine Abweichung vom dargelegten Grundsatz rechtfertigen
könnten. Der 1928 geborene Beklagte steht vor seiner Pensionierung. Mit
einer künftigen Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage ist nicht zu
rechnen. In diesem Sinne ist auch die Bemerkung in der Berufungsschrift
zu verstehen, dass sich der Beklagte in einer wirtschaftlich ungleich
schlechteren Lage befinde als der Kläger, der noch sein ganzes Leben vor
sich habe. Der vom Kläger verlangte Unterhaltsbeitrag bezieht sich auch
nicht nur auf einige wenige Monate. Vielmehr soll der Vater während über
sieben Jahren für die Ausbildung seines mündigen Sohnes aufkommen. Es ist
dem Beklagten somit nicht zuzumuten, während der Ausbildung des Klägers
einen Beitrag an dessen Unterhalt zu leisten.

    c) Fehlt es an der Leistungsfähigkeit des Beklagten, so bleibt
es ohne Bedeutung, ob der Kläger seinen Notbedarf mit seinen übrigen
Einkünften decken kann oder nicht. Es kann deshalb auch offenbleiben,
ob das Obergericht diesen Notbedarf im einzelnen richtig errechnet hat,
namentlich ob der Kläger tatsächlich auf eine eigene Wohnung angewiesen
ist. Die fehlende Leistungsfähigkeit des Vaters führt dazu, dass der
volljährige Student versuchen muss, seine Ausbildung auf andere Weise
zu finanzieren.

    Da die Leistungsfähigkeit eines Elternteils eine selbständige
Voraussetzung für die Unterhaltspflicht gegenüber dem mündigen Studenten
darstellt, muss, wenn diese fehlt, auch unberücksichtigt bleiben, ob dem
andern Elternteil - vorliegend der Mutter des Klägers - eine Mehrleistung
zumutbar ist oder nicht.