Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 II 528



118 II 528

99. Urteil der I. Zivilabteilung vom 15. Dezember 1992 i.S. Paritätische
Berufskommission Baugewerbe des Kantons Luzern gegen S. AG (Berufung)
Regeste

    Gesamtarbeitsvertraglicher Anspruch auf Lohnkontrolle gegenüber
einem Aussenseiter; sachliche Zuständigkeit des Zivilrichters;
Berufungsvoraussetzungen (Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 AVEG; Art. 46 und
Art. 48 Abs. 1 OG).

    1. Berufungsfähigkeit eines Entscheides, mit dem der Regierungsrat
eines Kantons seine Zuständigkeit zur Anordnung einer Lohnkontrolle
verneint (E. 2).

    2. Keine Verletzung von Bundesrecht liegt in der Auffassung, der
Zivilrichter und nicht der Regierungsrat sei zuständig, wenn nicht
nur streitig ist, ob ein von den Parteien des Gesamtarbeitsvertrages
unabhängiges Kontrollorgan einzusetzen sei, sondern der Aussenseiter auch
die rechtliche Grundlage des Kontrollanspruchs bestreitet (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 1. Januar 1988 schlossen der Schweizerische Baumeisterverband
einerseits sowie die Gewerkschaft Bau und Holz, der Christliche
Holz- und Bauarbeiterverband der Schweiz, der Schweizerische Verband
evangelischer Arbeitnehmer und der Landesverband Freier Schweizer
Arbeitnehmer andererseits den Landesmantelvertrag (LMV) für das
schweizerische Bauhauptgewerbe ab, der bis 31. Dezember 1990 Geltung
hatte. Mit Bundesratsbeschluss vom 10. Februar 1989 (BBl 1989 I 727)
wurden einzelne Vorschriften des LMV allgemeinverbindlich erklärt. Dazu
gehört Art. 10.4 LMV, der bestimmt, die paritätischen Berufskommissionen
seien nötigenfalls berechtigt, gemeinsame Lohnkontrollen und Untersuchungen
über die Arbeitsverhältnisse durchzuführen oder durchführen zu lassen.

    Die S. AG betreibt in Nottwil im Kanton Luzern ein Baugeschäft. Sie ist
nicht Mitglied des Schweizerischen Baumeisterverbandes. Am 23. April 1990
beschloss die Paritätische Berufskommission Baugewerbe des Kantons Luzern,
bei allen Bau- und Zimmereigeschäften im Kanton Luzern schriftliche
Lohnerhebungen durchzuführen. Nachdem sich die S. AG mit Schreiben
vom 4. September 1990 geweigert hatte, das ihr zugestellte Formular
auszufüllen, reichte die Berufskommission am 5. Dezember 1990 beim
Regierungsrat des Kantons Luzern das Gesuch ein, gegenüber der S. AG
sei die in Art. 10.4 LMV vorgesehene Kontrolle anzuordnen. Die S. AG
widersetzte sich diesem Begehren mit der Begründung, die rechtlichen
Voraussetzungen für die Anordnung einer solchen Kontrolle seien nicht
gegeben; sie lehnte zudem eine Kontrolle durch die Berufskommission
unter Hinweis auf Art. 6 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die
Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (AVEG; SR
221.215.311) ab.

    Mit Entscheid vom 11. Februar 1992 trat der Regierungsrat auf das
Gesuch der Berufskommission mit der Begründung nicht ein, weder nach
Bundesrecht noch nach kantonalem Recht sei er verpflichtet, die verlangte
Kontrolle anzuordnen; die Berufskommission habe jedoch gemäss Art. 10.4
LMV einen zivilrechtlichen Anspruch gegenüber der S. AG auf Durchführung
der Kontrolle; über einen Streit hinsichtlich dieses Anspruches habe der
Zivilrichter zu entscheiden.

    Die Berufskommission hat gegen den Entscheid des Regierungsrates
Berufung eingelegt mit dem Antrag, ihn aufzuheben und die in Art. 10.4 LMV
vorgesehene Kontrolle anzuordnen, eventuell die Sache an den Regierungsrat
zurückzuweisen, damit er selbst die Kontrolle anordne. Das Bundesgericht
weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Paritätische Berufskommission ist gemäss ihren Statuten
vom 11. Oktober 1974 ein Verein im Sinne von Art. 60 ff. ZGB.
Mitglieder dieses Vereines sind die Sektionen Luzern und Luzern-Land
des Schweizerischen Baumeisterverbandes, des Schweizerischen Bau- und
Holzarbeiterverbandes, des Christlichen Holz- und Bauarbeiterverbandes
sowie des Landesverbandes freier Schweizer Arbeiter. Zweck des Vereines
ist insbesondere die Wahrnehmung der gemeinsamen Berufsinteressen
gegenüber Behörden und Privaten sowie die Überwachung der Einhaltung
der Gesamtarbeitsverträge. Da es sich bei der Berufungsklägerin demnach
um eine juristische Person handelt, ist die von Amtes wegen zu prüfende
Frage ihrer Parteifähigkeit (vgl. MESSMER/IMBODEN, Die eidgenössischen
Rechtsmittel in Zivilsachen, S. 14 Rz. 11) zu bejahen.

Erwägung 2

    2.- a) Die Berufung ist abgesehen von den in Art. 44 lit. a
bis f und Art. 45 lit. b OG abschliessend aufgezählten Fällen nur in
Zivilrechtsstreitigkeiten zulässig (Art. 44 Abs. 1 und Art. 46 OG). Zu
verstehen sind darunter Streitigkeiten, die in einem kontradiktorischen
Verfahren ausgetragen werden, das die endgültige Regelung zivilrechtlicher
Verhältnisse zum Ziel hat (BGE 117 II 164, 116 II 377, 113 II 14, 112 II
147 E. 1). Wird mit der Berufung ein Nichteintretensentscheid angefochten,
so beurteilt sich die Frage, ob ein zivilrechtlicher Anspruch streitig ist,
aufgrund der Anträge und Sachvorbringen des Klägers (BGE 115 II 239 E. 1a).

    Mit dem Gesuch vom 5. Dezember 1990 beantragte die Berufungsklägerin,
der Regierungsrat habe gegenüber der Berufungsbeklagten die in Art. 10.4
LMV vorgesehene Kontrolle anzuordnen. Wie sich aus der Begründung
des Gesuchs ergibt, lag diesem Antrag die Auffassung zugrunde, der
Regierungsrat sei gemäss Art. 6 Abs. 1 und 2 AVEG zuständig, eine solche
Kontrolle anzuordnen, dafür ein unabhängiges Kontrollorgan im Sinne dieser
Vorschriften einzusetzen sowie Gegenstand und Umfang der Kontrolle zu
bestimmen. In Art. 6 AVEG wird festgehalten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer,
auf die der Geltungsbereich des Gesamtarbeitsvertrages ausgedehnt
worden ist, könnten jederzeit bei der zuständigen kantonalen Behörde
die Einsetzung eines besondern, von den Vertragsparteien unabhängigen
Kontrollorgans an Stelle der im Vertrag vorgesehenen Kontrollorgane
verlangen (Abs. 1); die zuständige kantonale Behörde bestimme Gegenstand
und Umfang der Kontrolle nach Anhörung der Vertragsparteien und des
Arbeitgebers oder Arbeitnehmers, der die Einsetzung eines solchen Organs
verlange (Abs. 2). Als streitig betrachtete die Berufungsklägerin somit den
sich aus Art. 10.4 LMV ergebenden Anspruch, Lohnkontrollen durchzuführen
oder durchführen zu lassen. Dass sich daran auch vor Bundesgericht nichts
geändert hat, zeigen im übrigen die Anträge und Begründungen der Berufung
und der Berufungsantwort.

    Ansprüche aus Gesamtarbeitsverträgen werden nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts auch dann dem Privatrecht zugeordnet, wenn sie
auf allgemeinverbindlich erklärten Bestimmungen beruhen und gegenüber
Aussenseitern geltend gemacht werden (BGE 98 II 208 f.). Das sich aus
Art. 10.4 LMV ergebende Kontrollrecht kann sodann selbständigen Charakter
haben, wenn seine Durchsetzung - wie im vorliegenden Fall - nicht bloss
eine vorsorgliche oder vorbereitende Massnahme darstellt. Vergleichbar
dem ebenfalls selbständig einklagbaren Recht des Aktionärs auf
Auskunfterteilung (Art. 697 Abs. 4 OR; BGE 112 II 147 E. 2b: zu Art. 697
aOR) kann das Kontrollrecht in einem eigenen Verfahren durchgesetzt werden,
in dem endgültig über dessen Bestand zu entscheiden ist. Erfüllt ist
schliesslich auch die Voraussetzung eines kontradiktorischen Verfahrens,
da der Regierungsrat der Berufungsbeklagten - in Übereinstimmung mit
dem Gesuch der Berufungsklägerin - von Anfang an volle Parteistellung
eingeräumt hat.

    b) Ebenfalls gegeben ist die weitere Voraussetzung, dass sich die
Berufung gegen einen Endentscheid eines oberen kantonalen Gerichtes oder
einer sonstigen Spruchbehörde richten muss (Art. 48 Abs. 1 OG). Einerseits
werden Nichteintretensentscheide wie der hier angefochtene nach der
neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts als Endentscheide im Sinne
von Art. 48 Abs. 1 OG betrachtet (BGE 115 II 239 f. E. 1b). Andererseits
fällt der Regierungsrat aufgrund seiner Stellung und Funktion innerhalb
des Kantons unter den Begriff der "sonstigen Spruchbehörde" (vgl. POUDRET,
Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Bd. II, N 1.2.3
zu Art. 48 OG; MESSMER/IMBODEN, aaO, S. 90 Rz. 64 insb. Fn. 7).

    c) Zu prüfen bleibt, ob es sich um eine vermögensrechtliche Streitsache
im Sinne von Art. 46 OG handelt. Massgebend ist dafür, ob der Rechtsgrund
des streitigen Anspruchs letzten Endes im Vermögensrecht ruht, mit der
Klage letztlich und überwiegend ein wirtschaftlicher Zweck verfolgt
wird (BGE 116 II 380 E. 2a mit Hinweis; MESSMER/IMBODEN, aaO, S. 79
Rz. 57). Gegenstand der von der Berufungsklägerin angestrebten Kontrolle
sind die Lohnzahlungen der Berufungsbeklagten an ihre Arbeitnehmer. Obschon
diesem Kontrollrecht - wie bereits erörtert - selbständiger Charakter
zukommt, ist es mittelbar auf vermögenswerte Interessen ausgerichtet,
denn damit soll insbesondere erreicht werden, dass allenfalls verletzte
Lohnvorschriften des LMV gegenüber der Berufungsbeklagten durchgesetzt
werden können.

    Auf die Berufung ist somit nur einzutreten, falls der gemäss Art. 46
OG erforderliche Streitwert von Fr. 8'000.-- erreicht wird. In der
Berufungsschrift wird dies zwar behauptet, aber nicht begründet. Die
Berufungsantwort äussert sich nicht dazu. Ausdrückliche Angaben zum
Streitwert lassen sich sodann weder dem angefochtenen Entscheid noch
den Rechtsschriften der Parteien im kantonalen Verfahren entnehmen. In
einem solchen Fall wird nach der Praxis des Bundesgerichts in der
Regel auf die Berufung nicht eingetreten (BGE 116 II 381 Nr. 69, 109
II 493 ff. E. 1ee). Unter den hier gegebenen Umständen vermag diese
Praxis indessen nicht zu befriedigen. Sie setzte voraus, dass die
Berufungsklägerin objektiv beurteilt in der Lage wäre, konkrete Angaben
zur Höhe der mittelbar auf dem Spiel stehenden Vermögensinteressen
zu machen, auf welche sich das Bundesgericht bei der ermessensweisen
Schätzung des Streitwerts (Art. 36 Abs. 2 OG) stützen könnte. Nicht aus
dem Blick zu verlieren ist in diesem Zusammenhang, dass in Übereinstimmung
mit Art. 36 Abs. 1 OG primär auf die Verhältnisse auf der Seite der
Berufungsklägerin abgestellt werden muss. Ausschlaggebend sind deshalb
in erster Linie die der Klage zugrundeliegenden Vermögensinteressen
der Berufungsklägerin bzw. der ihr als Mitglieder angehörenden
Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen. Angaben zum Unternehmen der
Berufungsbeklagten (Anzahl Arbeitnehmer, gesamte Lohnsumme) hätten es
dagegen - auf der Grundlage einer hypothetischen Verletzung des LMV durch
die Berufungsbeklagte - allenfalls gestattet, das Vermögensinteresse zu
bestimmen, das diese an einer Verhinderung der Lohnkontrolle hat. Obschon
auch dieses Interesse allein schon in Anbetracht der zeitlichen Dauer
des LMV als beträchtlich eingeschätzt werden muss, wird es doch von jenem
der Berufungsklägerin übertroffen, da auf deren Seite darüber hinaus zu
berücksichtigen ist, dass mit der Erhebung der Klage indirekt bezweckt
wird, auch die Einhaltung von zukünftigen, allgemeinverbindlich erklärten
Gesamtarbeitsverträgen zu gewährleisten, und zwar nicht nur durch die
Berufungsbeklagte, sondern - als Präventivmassnahme verstanden - auch
durch andere Aussenseiter. Insoweit ist es der Berufungsklägerin aber
kaum möglich, Angaben zum Umfang ihrer ohnehin nur mittelbar vorhandenen
Vermögensinteressen zu machen. Das Fehlen solcher Angaben in der
Berufungsschrift darf ihr deshalb nicht zum Nachteil gereichen. Unter
diesen Umständen rechtfertigt es sich, die ermessensweise Schätzung
des Streitwertes allein aufgrund der Tatsachen vorzunehmen, welche
das Bundesgericht den kantonalen Akten entnehmen kann. Diese Schätzung
führt in Anbetracht der auf der Seite der Berufungsklägerin vorhandenen,
bereits erwähnten globalen Vermögensinteressen zum Ergebnis, dass der
nach Art. 46 OG erforderliche Streitwert von Fr. 8'000.-- auf jeden Fall
erreicht ist. Auf die Berufung kann deshalb eingetreten werden.

Erwägung 3

    3.- In materieller Hinsicht ist einzig zu beurteilen, ob der
Regierungsrat, wie mit der Berufung gerügt wird, Art. 6 Abs. 1 und 2 AVEG
verletzt hat. Die Anwendung des kantonalen Rechts (§ 2 Abs. 2c VVO zum
AVEG: Zuständigkeit des Regierungsrates im Sinne von Art. 6 Abs. 1 und
2 AVEG) wird dagegen nicht überprüft (Art. 43 OG; BGE 115 II 241 E. 1c).

    Entgegen der mit der Berufung vertretenen Auffassung lässt sich
aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 AVEG, der für die Auslegung in
erster Linie massgebend ist (BGE 117 II 499 E. 6a mit Hinweisen),
nicht ableiten, der Regierungsrat und nicht der Zivilrichter sei auch
dann zuständig, wenn nicht nur streitig ist, ob ein von den Parteien des
Gesamtarbeitsvertrages unabhängiges Kontrollorgan einzusetzen sei, sondern
der Aussenseiter bereits die rechtliche Grundlage des Kontrollanspruchs
bestreitet. Aus dem Wortlaut ergibt sich vielmehr, dass diese Bestimmung
auf die Regelung des Falles beschränkt ist, in welchem der Aussenseiter
an sich mit der Einsetzung eines Kontrollorganes einverstanden ist,
die im Gesamtarbeitsvertrag für diese Aufgabe vorgesehene Paritätische
Berufskommission aber ablehnt. Dass darin der Sinn der Bestimmung
liegt, ist bereits in der Botschaft des Bundesrates zum Entwurf des
AVEG (BBl 1954 I 178) festgehalten worden und entspricht auch der in
der Literatur vertretenen Meinung (SCHWEINGRUBER/BIGLER, Kommentar zum
Gesamtarbeitsvertrag, 3. Auflage, N 1 zu Art. 6 AVEG, S. 120). Aus Abs. 2
von Art. 6 AVEG, der eindeutig auf Abs. 1 Bezug nimmt und inhaltlich
auf das Verfahren bei der Einsetzung des besonderen Kontrollorgans
beschränkt ist, ergibt sich nichts anderes. Die Aufteilung der sachlichen
Zuständigkeit zwischen Zivilrichter und "zuständiger kantonaler Behörde"
im Sinne von Art. 6 Abs. 1 AVEG, so wie sie im angefochtenen Entscheid
vorgenommen worden ist, verstösst aus diesen Gründen nicht gegen
Bundesrecht.

Erwägung 4

    4.- Für den Entscheid über die Berufung unerheblich und deshalb
nicht zu prüfen ist im übrigen, ob die Berufungsklägerin entsprechend
ihrer in der Berufungsschrift vorgebrachten Behauptung befugt ist,
in eigenem Namen - und nicht nur als bevollmächtigte Vertreterin der am
Landesmantelvertrag beteiligten Parteien - gestützt auf Art. 10.4 LMV gegen
die Berufungsbeklagte auf Duldung der Lohnkontrolle zu klagen. Immerhin
ist darauf hinzuweisen, dass die Frage der Aktivlegitimation von
Paritätischen Berufskommissionen in der Literatur umstritten ist
(vgl. dazu VISCHER, N 14 f. zu Art. 357b OR; STREIFF/VON KÄNEL,
Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht, 5. Aufl., N 5 zu Art. 357b OR;
SCHWEINGRUBER/BIGLER, aaO, N 5 zu Art. 357b OR, S. 87; PETER WEHRLI, Die
gemeinsame Durchführung des Gesamtarbeitsvertrages gemäss Art. 323ter OR,
Diss. Zürich 1961, S. 26 ff.).