Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 II 297



118 II 297

58. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 5. Mai 1992
i.S. I. gegen S. (Berufung) Regeste

    Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR. Irrtum in bezug auf einen künftigen
Sachverhalt.

    Voraussetzung für das Vorliegen eines Grundlagenirrtums ist, dass
einerseits die sich auf den Irrtum berufende Partei fälschlicherweise
annahm, ein zukünftiges Ereignis sei sicher, und anderseits auch die
Gegenpartei nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr hätte erkennen
müssen, dass die Sicherheit für die andere Partei Vertragsvoraussetzung
war. Dabei muss es sich um einen Irrtum über eine objektiv wesentliche
Vertragsgrundlage gehandelt haben (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Im Jahre 1981 war S. Mehrheitsaktionär der S. AG. Er hielt
sämtliche 142 Namenaktien zum Nennwert von Fr. 500.-- sowie 189 der
429 Namenaktien zum Nennwert von Fr. 1'000.--. Am 23. September 1981
schloss er mit I. einen Vertrag über den Verkauf von Aktien, verbunden
mit verschiedenen Kaufs- und Rückkaufsrechten. Gemäss Art. 2 dieses
Vertrages verkaufte S. seine 142 Namenaktien zum Nennwert von Fr. 500.--
für insgesamt Fr. ... an I. Der Kaufpreis wurde beglichen und der
Käufer im Aktienbuch eingetragen. Art. 3 sah für 148 der Namenaktien zum
Nennwert von Fr. 1'000.-- ein zeitlich gestaffeltes Kaufsrecht vor. Danach
durfte I. einerseits das Kaufsrecht bis spätestens Ende 1987 ausüben,
konnte anderseits aber das absolute Mehr von 286 der Total 571 Stimmen
erst ab Januar 1986 erlangen. Den Kaufpreis setzten die Parteien in
einer Zusatzvereinbarung auf Fr. ... je Namenaktie fest. In Art. 4 des
Hauptvertrages behielt sich S. ein zeitlich befristetes Rückkaufsrecht
an sämtlichen Aktien für den Fall vor, dass I. sein Kaufsrecht bis Ende
1987 nicht vollständig ausüben sollte. I. war vom 1. Februar 1981 bis
28. Februar 1986 in der S. AG angestellt; er teilte sich anfänglich mit
S. in die Aufgabe der Geschäftsführung, die ihm dann in den Jahren 1984
und 1985 allein oblag.

    Am 2. April 1986 übte I. sein Kaufsrecht an den 148 Namenaktien
aus. Mit Schreiben vom 24. April und vom 25. Juni 1986 stellte sich S. auf
den Standpunkt, er sei an den Vertrag nicht gebunden. Im September 1986
klagte I. daher gegen S. auf Übertragung der 148 Namenaktien gemäss Art. 3
des Vertrages gegen Bezahlung des in der Zusatzvereinbarung festgelegten
Kaufpreises. Der Beklagte hielt der Klage entgegen, er habe sich in einem
wesentlichen Irrtum über die Eignung des Klägers als Geschäftsführer
befunden. In dieser Funktion habe der Kläger seine Pflichten verletzt und
völlig versagt. Er habe das Unternehmen so schlecht geführt, dass es in die
Verlustzone geraten sei. Sein Verhalten habe Sinn und Geist des Vertrages,
mit dem die Nachfolge in der S. AG hätte sichergestellt werden sollen,
widersprochen. Das Walliser Kantonsgericht wies die Klage am 20. Februar
1991 ab.

    Auf Berufung des Klägers heisst das Bundesgericht die Klage gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Vorinstanz und Parteien sind sich zu Recht darüber einig, dass
der vom Beklagten geltend gemachte Irrtum nicht unter Art. 24 Abs. 1
Ziff. 2 OR fällt. Diese Bestimmung regelt im Gegensatz zur früheren
Fassung gemäss Art. 20 aOR einzig den Irrtum über die Identität und nicht
denjenigen über die Eigenschaften des Vertragspartners. Dieser Irrtum kann
lediglich als Grundlagenirrtum im Sinne von Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR in
Betracht fallen, sofern er das qualifizierende Kriterium der objektiven
Wesentlichkeit erfüllt; andernfalls bleibt er ein gemäss Art. 24 Abs. 2
OR unbeachtlicher Motivirrtum (BECKER, N 9 und OSER/SCHÖNENBERGER, N 24
zu Art. 24 OR; GUHL/MERZ/KOLLER, Das schweizerische Obligationenrecht,
8. Auflage, S. 131; VON TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des schweizerischen
Obligationenrechts, Band I, 3. Auflage, S. 304 f.; ENGEL, Traité
des obligations en droit suisse, S. 222; BUCHER, Allgemeiner Teil des
schweizerischen Obligationenrechts, 2. Auflage, S. 200 f.).

    Das Kantonsgericht ist zum Schluss gelangt, der Irrtum, auf den sich
der Beklagte berufe, erfülle alle Merkmale eines Grundlagenirrtums. Der
Kläger bringt in seiner Berufung demgegenüber vor, von einem wesentlichen
Irrtum könne nicht die Rede sein. Dass sich die Hoffnungen und Erwartungen
des Beklagten nicht erfüllt hätten, lasse sich nach Rechtsprechung
und Lehre nicht als Irrtum ausgeben. Ob der Irrtum des Beklagten als
wesentlich im Sinne von Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR anzusehen ist, ist
eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht im Berufungsverfahren frei prüft.

    a) Die Vorinstanz ist bei ihrer Beurteilung von einem Irrtum
über einen im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht gegebenen,
künftigen Sachverhalt ausgegangen. Nicht nur der Misserfolg des Klägers
als Geschäftsführer, sondern auch die Ursache seines Scheiterns habe in
der Zukunft gelegen. Es treffe nicht zu, dass der Kläger aufgrund seiner
vorbestandenen Eignung und Veranlagung zwar den Anforderungen an einen
beaufsichtigten Mitarbeiter in leitender Stellung, nicht aber der Aufgabe
eines auf sich gestellten alleinigen Geschäftsführers gewachsen gewesen
sei. Vielmehr habe sich seine Einstellung gewandelt, und es sei gar eine
nicht mehr zu behebende Veränderung in seinen charakterlichen Eigenschaften
eingetreten. Dieser bezogen auf den Vertragsschluss in zweifacher Hinsicht
zukünftige Sachverhalt hat das Kantonsgericht folgerichtig bewogen, sich
mit der Frage der rechtlichen Erheblichkeit eines solchen in die Zukunft
gerichteten Irrtums zu befassen.

    b) Ob und wieweit ein Grundlagenirrtum auch der falschen Vorstellung
über einen künftigen Sachverhalt entspringen kann, ist umstritten
(Übersicht über die hauptsächlichsten Lehrmeinungen in GAUCH/SCHLUEP,
Allgemeiner Teil des schweizerischen Obligationenrechts, Band I,
5. Auflage, Rz. 799 f. und bei KLAUSBERGER, Die Willensmängel im
schweizerischen Vertragsrecht, Diss. Zürich 1989, S. 59 Fn. 282-284). Die
bundesgerichtliche Praxis mündet in BGE 109 II 109 ff., wo ihre
Entwicklung ausführlich dargestellt wird. In diesem Entscheid schliesst
das Bundesgericht einen Irrtum über einen künftigen Sachverhalt dann nicht
aus, wenn beide Vertragsparteien die Verwirklichung als sicher angesehen
haben, verwirft ihn jedoch von vornherein gegenüber blossen Hoffnungen,
übertriebenen Erwartungen und Spekulationen.

    Kritik hat die Rechtsprechung nicht nur seitens grundsätzlicher Gegner
der Mitbeachtung eines zukünftigen Sachverhalts erfahren (GAUCH/SCHLUEP,
aaO, Rz. 801). Selbst Befürworter beanstanden das Erfordernis, dass eine
beiden Parteien gemeinsame sichere Vorstellung bestanden haben muss,
dass also die Anerkennung des Irrtums der einen Partei vom Irrtum auch
der andern abhängig sein soll (GUHL/MERZ/KOLLER, aaO, S. 132 und 134;
KLAUSBERGER, aaO, S. 61). Der Einwand ist insofern berechtigt, als das
Bundesgericht diesbezüglich in verschiedenen Entscheiden (BGE 109 II 110
f., 324, 113 II 27) den Eindruck erweckt hat, beide Parteien müssten sich
über den betreffenden Sachverhalt geirrt haben. Ein Grundlagenirrtum kann
jedoch auch dann vorliegen, wenn zwar nur die sich auf den Irrtum berufende
Partei fälschlicherweise annahm, ein zukünftiges Ereignis sei sicher,
aber auch die Gegenpartei nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr
hätte erkennen müssen, dass die Sicherheit für die andere Partei
Vertragsvoraussetzung war (BGE 117 II 224; BUCHER, aaO, S. 204 Fn. 40).

    c) Unerlässliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufung auf
einen Grundlagenirrtum bleibt indes, dass es sich dabei um einen Irrtum
über eine objektiv wesentliche Vertragsgrundlage und nicht bloss um eine
auf Hoffnung gründende spekulative Erwartung gehandelt hat. Der Irrende
muss sich m. a. W. über einen bestimmten Sachverhalt geirrt haben, den er
nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr als notwendige Vertragsgrundlage
betrachten durfte (BGE 113 II 27).

    aa) Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Dass
sich eine Person in einer ihr übertragenen Funktion bewähren werde,
kann hier wie andernorts nicht als unumstösslich feststehendes Ereignis
angesehen werden. Auch wenn Vorabklärungen und betriebliches Umfeld zu
einer günstigen Prognose berechtigen, steht der tatsächliche Erfolg nie
mit Gewissheit fest. Ein mehr oder minder grosser Unsicherheitsfaktor
musste bei objektiver Betrachtung auch vom Beklagten in seine Beurteilung
einbezogen werden. Aufgrund ähnlicher Überlegungen hat das Bundesgericht
beispielsweise die Annahme, eine Erfindung werde sich gewinnbringend
verwerten lassen, oder ein Fabrikgebäude bleibe weiterhin einer
rationellen Produktion zugänglich, nicht als unumstösslich feststehende
Vertragsgrundlage gelten lassen. Die Irrtumsanfechtung steht nicht als
Versicherung gegen eine unvorhergesehen schlechte Entwicklung zur Verfügung
(GUGGENHEIM, le droit suisse des contrats, Band I, 1991, S. 156).

    bb) Nicht anders verhielte es sich, wenn man den für die
Vertragschliessenden massgeblichen Sachverhalt entgegen der Auffassung der
Vorinstanz nicht in einer zukünftigen, sondern in einer bereits aktuellen
Gegebenheit erblicken wollte, nämlich in der schon vorhandenen, aber erst
später offenbar gewordenen Nichteignung des Klägers. Mit dem Umstand,
dass er nicht optimal für alle höheren Aufgaben geeignet sein könnte,
war als Möglichkeit von Anfang an zu rechnen. Das Gegenteil konnte daher
vernünftigerweise nicht eine notwendige Vertragsgrundlage bilden.

    cc) Bei der Annahme, die massgebliche Vorstellung des Beklagten
knüpfe an das unerwartete künftige Ereignis einer Charakterwandlung an,
gilt es schliesslich folgendes zu bedenken: Der vom Kantonsgericht
offensichtlich nicht aufgrund des Beweisergebnisses, sondern der
allgemeinen Lebenserfahrung gezogene Schluss, die Nichteignung des
Klägers stehe endgültig fest, der Erfolg des Unternehmens lasse sich
unter seiner Leitung daher nicht mehr herbeiführen, lässt sich gerade
bei Annahme einer charakterlichen Entwicklung nicht aufrechterhalten.
Hat eine Entwicklung in die eine Richtung stattgefunden, so ist sie auch
in die andere möglich. Der Sachverhalt, über den sich der Beklagte geirrt
haben will, stünde diesfalls noch gar nicht fest und könnte nicht zur
Begründung eines Irrtums herangezogen werden (BGE 109 II 112).

    Aus allen diesen Gründen hat die Vorinstanz somit in Verletzung von
Bundesrecht den Irrtum des Beklagten als wesentlich und den Vertrag als für
ihn unverbindlich betrachtet. Dass dem Zuspruch der Klage bei Verneinung
eines Grundlagenirrtums etwas entgegenstehen würde, wird weder behauptet
noch ist dies ersichtlich. Die Berufungsantwort enthält insbesondere auch
keinen Eventualantrag für den Fall der grundsätzlichen Gutheissung des
klägerischen Rechtsbegehrens.