Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 II 184



118 II 184

38. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. Februar 1992
i.S. M. B. gegen D. B. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Vorsorgliche Massnahmen für die Dauer des Scheidungsverfahrens
zwischen zwei ausländischen Ehegatten; Zuständigkeit zum Erlass von
Massnahmen zum Schutze Minderjähriger; Art. 49 Abs. 1 OG; Art. 85 Abs. 1
und 3 IPRG; Art. 15 des Haager Übereinkommens vom 5. Oktober 1961 über
die Zuständigkeit der Behörden und das anwendbare Recht auf dem Gebiet
des Schutzes der Minderjährigen.

    1. Vor- und Zwischenentscheid im Sinne von Art. 49 Abs. 1 OG (E. 1a).

    2. Im Bereich des Minderjährigenschutzes gilt aufgrund von Art. 85
Abs. 1 IPRG grundsätzlich das Haager Übereinkommen; dem gestützt auf
Art. 15 des Übereinkommens erklärten Vorbehalt kommt daher keine rechtliche
Bedeutung zu (E. 3).

    3. Art. 85 Abs. 3 IPRG begründet eine Zuständigkeit der schweizerischen
Gerichte oder Behörden zum Erlass von Massnahmen zum Schutze Minderjähriger
in dringenden Fällen (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 13. Februar 1989 leitete M. B. vor Bezirksgericht Zürich das
Scheidungsverfahren ein. Mit Beschluss vom 15. Februar 1990 ordnete das
angerufene Gericht vorsorgliche Massnahmen für die Dauer des Verfahrens an,
gewährte dabei M. B. ein Besuchsrecht für die unter die Obhut der D. B.
gestellten, in den USA lebenden drei Kinder (Dispositiv-Ziffer 3) und
setzte in Ziffer 5 dessen Unterhaltsleistungen fest.

    Das Obergericht des Kantons Zürich trat am 6. August 1990 auf den von
M. B. gegen Ziffer 3 des vorinstanzlichen Beschlusses erhobenen Rekurs
nicht ein, hob diese Ziffer auf und wies den Rekurs im übrigen ab.

    B.- M. B. legte "Berufung" ein mit dem Antrag, der Beschluss des
Obergerichts sei aufzuheben und dieses zu verpflichten, auf den Rekurs
bezüglich Ziffer 3 (Besuchsrecht) des bezirksgerichtlichen Beschlusses
einzutreten und den an den Unterhalt der Kinder zu bezahlenden
Unterhaltsbeitrag (Ziffer 5 des bezirksgerichtlichen Beschlusses)
angesichts der Verpflichtung zum Eintreten materiell noch einmal zu
überprüfen.

    Das Bundesgericht nimmt die "Berufung" als Nichtigkeitsbeschwerde
entgegen und weist sie ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Soweit auf den Rekurs des Beschwerdeführers nicht
eingetreten worden ist, beschlägt der angefochtene Beschluss die
Frage der Zuständigkeit des schweizerischen Richters zum Erlass
vorsorglicher Massnahmen im Scheidungsprozess. Gegen Entscheide über
die Zuständigkeit zum Erlass vorsorglicher Massnahmen ist einzig die
Nichtigkeitsbeschwerde zulässig; denn als Vor- und Zwischenentscheid
über die Zuständigkeit im Sinne von Art. 49 Abs. 1 OG gilt nur jener
Entscheid, der über die Zuständigkeit zur Beurteilung der Hauptsache,
also des Klageanspruches, befindet (BGE 85 II 53 E. 2, 75 II 95 E. 1 mit
Hinweisen; POUDRET/SANDOZ-MONOD, N 1.2 zu Art. 49 OG). Die "Berufung"
erfüllt im übrigen die Formerfordernisse einer Nichtigkeitsbeschwerde
und ist demnach als solche zu behandeln (BGE 95 II 294 E. 2, 93 II 217
E. 3 und 91 II 397 E. 2 mit Hinweisen; POUDRET/SANDOZ-MONOD, Kapitel III,
N 2.1, S. 626/7).

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht ist im angefochtenen Beschluss davon ausgegangen,
das Haager Übereinkommen vom 5. Oktober 1961 über die Zuständigkeit
der Behörden und das anwendbare Recht auf dem Gebiet des Schutzes
der Minderjährigen (nachfolgend Übereinkommen; SR 0.211.231.01)
sei aufgrund von Art. 62 Abs. 3 und Art. 85 des Bundesgesetzes über
das internationale Privatrecht (IPRG; SR 291) ausschliesslich und
uneingeschränkt anzuwenden. Der Beschwerdeführer hält diese Auffassung
zu Unrecht für bundesrechtswidrig.

    a) Gemäss Art. 62 Abs. 1 IPRG kann das schweizerische Gericht, bei dem
eine Scheidungs- oder Trennungsklage hängig ist, vorsorgliche Massnahmen
erlassen, sofern seine Unzuständigkeit zur Beurteilung der Klage nicht
offensichtlich ist oder nicht rechtskräftig festgestellt wurde. Aufgrund
von Art. 62 Abs. 3 des genannten Gesetzes sind indessen die Bestimmungen
des IPRG über den Minderjährigenschutz (Art. 85) vorbehalten. Art. 85
Abs. 1 IPRG sieht vor, für den Schutz von Minderjährigen gelte in bezug
auf die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte oder Behörden und das
anwendbare Recht das Übereinkommen. Im Bereich des Minderjährigenschutzes
ist damit ohne Zweifel grundsätzlich einzig und ausnahmslos das
Übereinkommen anwendbar. Zwar hatte die Schweiz seinerzeit von dem in
Art. 15 des Übereinkommens vorgesehenen Vorbehalt Gebrauch gemacht und
erklärt, sie werde den Richter, der über Ungültigkeit, Scheidung oder
Trennung der Ehe zu befinden habe, als zuständig erachten, im Rahmen der
Art. 173 Abs. 2, 156 und 157 ZGB Massnahmen zum Schutz der Person oder
des Vermögens eines Minderjährigen zu treffen. Dieser Vorbehalt ist jedoch
durch die in Art. 85 Abs. 1 IPRG vorgeschriebene, grundsätzlich generelle
Anwendbarkeit des Übereinkommens hinfällig geworden (vgl. zum Ganzen
auch BGE 109 II 379 f.). Entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers
verweist diese Bestimmung nicht auf jenen Vorbehalt, sondern trifft
eine diesem ausdrücklich und bewusst widersprechende Regelung. Mit
dem Inkrafttreten des IPRG kann ihm demzufolge keinerlei rechtliche
Wirkung mehr zukommen. Mit Recht wird daher sowohl im Schlussbericht der
Expertenkommission (Bundesgesetz über das internationale Privatrecht,
IPR-Gesetz, in Schweizer Studien zum internationalen Recht, Band 13,
S. 137) wie auch in der Botschaft des Bundesrates (BBl 1983 I 360/235.4)
bemerkt, er sei zurückzuziehen. Gerade dadurch aber wird ausser Frage
gestellt, dass der Wortlaut von Art. 85 Abs. 1 IPRG den Sinn der Vorschrift
nicht oder nicht zutreffend wiedergebe. Der vom Beschwerdeführer angerufene
Grundsatz der Einheit des Scheidungsurteils wird demnach insoweit durch
eine positive gesetzliche Regelung durchbrochen.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer vermag ebensowenig aus Art. 85 Abs.  3 IPRG
etwas zu seinen Gunsten abzuleiten, wonach die schweizerischen Gerichte
oder Behörden zuständig sind, wenn es für den Schutz einer Person oder
deren Vermögen unerlässlich ist.

    a) Diese Ausnahmebestimmung begründet eine von der Kompetenzverteilung
des Übereinkommens unabhängige Dringlichkeitszuständigkeit,
welche ursprünglich allein wegen der im Zusammenhang mit den
ex-lege-Gewaltverhältnissen aufgetretenen Unsicherheiten geschaffen worden
ist (Schlussbericht der Expertenkommission, aaO, S. 168). Diese haben
sich daraus ergeben, dass einerseits gemäss Art. 1 des Übereinkommens die
Gerichte und die Verwaltungsbehörden des Staates, in dem ein Minderjähriger
seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, für Massnahmen zum Schutze seiner
Person oder seines Vermögens zuständig sind, andererseits aber aufgrund
von Art. 3 des Übereinkommens in allen Vertragsstaaten ein nach dem
innerstaatlichen Recht des Staates, dem der Minderjährige angehört, kraft
Gesetzes bestehendes Gewaltverhältnis anerkannt wird (ANTON K. SCHNYDER,
Das neue IPR-Gesetz, 2. A. 1990, S. 79, Abschnitt II).

    b) Als zu schützende Personen im Sinne von Art. 85 Abs. 3 IPRG
fallen einzig die Kinder des Beschwerdeführers in Betracht, so dass
seine Interessenlage für die Bestimmung der schweizerischen Zuständigkeit
nicht von Belang ist. Das Obergericht hat aber in tatsächlicher Hinsicht
nichts festgestellt, wonach der Erlass von Schutzmassnahmen durch den
schweizerischen Richter unerlässlich erschiene; es hält vielmehr fest,
bezüglich Obhutszuteilung und Besuchsrecht liege bereits ein Entscheid
eines Gerichtes der USA vor. Wenn der Beschwerdeführer daher in diesem
Zusammenhang namentlich behauptet, es fehle an einer durchsetzbaren
gerichtlichen Regelung sowie an einer Verständigung unter den Parteien
über das Besuchsrecht, ist er nicht zu hören; auch im Verfahren der
Nichtigkeitsbeschwerde ist das Bundesgericht an den von der Vorinstanz
festgestellten Sachverhalt gebunden (Art. 55 Abs. 1 lit. c und Art. 63
Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 74 OG).