Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 II 139



118 II 139

30. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. Juni 1992 i.S. G.
gegen P. AG (Berufung) Regeste

    Anrechnung des während der Freistellung an einer neuen Stelle
verdienten Lohnes (Art. 337c Abs. 2 OR).

    Erlauben die Umstände des Falles den Schluss nicht, dass die Parteien
keine Anrechnung gewollt haben, muss von der Anrechnungspflicht ausgegangen
werden; auf dem Weg der Lückenfüllung ist die Bestimmung über die
Anrechnungspflicht bei der fristlosen Entlassung analog anzuwenden (E. 1).

Sachverhalt

    A.- Der bei der P. AG angestellte G. kündigte das Arbeitsverhältnis
am 31. August 1989. Mit Schreiben vom gleichen Tag entband ihn die P. AG
mit sofortiger Wirkung von seiner Arbeitspflicht. Gemäss Arbeitsvertrag
endete das Arbeitsverhältnis somit am 28. Februar 1990.

    Am 1. Oktober 1989 trat G. eine neue Stelle an. Weil er dort lediglich
einen Bruttolohn von Fr. 3000.-- pro Monat verdiente, bezahlte ihm die
P. AG die Differenz bis zur Höhe des von ihr zuletzt ausbezahlten Lohnes
von Fr. 4400.--. G. beanspruchte diesen jedoch ungekürzt.

    B.- Mit Klage vom 29. Januar 1990 beantragte G. die Verurteilung
der P. AG zur Zahlung von Fr. 16840.65 nebst Zins; von dieser Forderung
anerkannte und bezahlte die Beklagte Fr. 429.35. In grundsätzlicher
Bestätigung eines Urteils des Kantonsgerichts wies das Obergericht des
Kantons Schaffhausen mit Urteil vom 13. Dezember 1991 die über diese
Anerkennung hinausgehende Forderung ab.

    Das Bundesgericht weist die Berufung des Klägers ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Obergericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der
Kläger, welcher nach der Kündigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist von
der Beklagten freigestellt wurde, müsse sich den während der Freistellung
anderweitig verdienten Betrag an den von der Beklagten zu bezahlenden
Lohn anrechnen lassen. Mangels Vereinbarung würden die Art. 324 Abs. 2
und 337c Abs. 2 OR analog gelten. Seiner Ansicht nach ergäbe sich, wenn
ein freigestellter Arbeitnehmer in den Genuss einer doppelten Lohnzahlung
gelangen könnte, eine nicht zu begründende Ungleichheit zwischen dem
Kläger und einem Angestellten, der entweder ungerechtfertigt fristlos
entlassen worden ist oder dessen Arbeitgeber im Annahmeverzug steht. Der
Kläger erblickt darin eine Verletzung von Bundesrecht. Da die Freistellung
ein eigenes Rechtsgeschäft sei, müsse dessen Inhalt durch Auslegung der
Willensäusserungen der Parteien ermittelt werden, was dem Beizug der
Regel von Art. 324 Abs. 2 OR entgegenstehe.

    a) Gemäss Art. 361 Abs. 1 und 362 Abs. 1 OR darf zugunsten des
Arbeitnehmers bei Annahmeverzug und bei ungerechtfertigter fristloser
Entlassung vereinbart werden, dass der Arbeitnehmer sich anderweitig
verdienten Lohn nicht anrechnen lassen muss. Art. 324 Abs. 2 oder Art. 337c
Abs. 2 OR kann somit betreffend die Anrechnungspflicht auf die Freistellung
nur analog angewendet werden, wenn die Parteien nichts vereinbart haben
und auch die Umstände des Falles den Schluss nicht zulassen, es sei auf
die Anrechnung verzichtet worden.

    Die Freistellung ist weder Annahmeverzug noch ungerechtfertigte
fristlose Entlassung, weil sie von beiden Instituten in mehreren
Tatbestandsmerkmalen abweicht. Der Annahmeverzug setzt nämlich
voraus, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung erfolglos angeboten
hat. Verzichtet der Arbeitgeber - wie bei der Freistellung - ausdrücklich
auf die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers, muss dieser seine Leistung
nicht mehr anbieten. Denn der Verzicht auf die Arbeitsleistung kann
keine Annahmeverweigerung darstellen (REHBINDER, N 11 zu Art. 324 OR;
STREIFF/VON KAENEL, Arbeitsvertrag, Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht,
5. Aufl. 1992, N 9 zu Art. 324 OR; STAEHELIN, N 8 zu Art. 324 OR; WEBER,
N 146 zu Art. 91 OR). Eine ungerechtfertigte fristlose Entlassung liegt
vor, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis unter Verweigerung der
Lohnzahlung sofort aufgelöst hat und sich nachher herausstellt, dass ein
wichtiger Grund fehlte. Vorliegendenfalls kündigte aber der Kläger das
Arbeitsverhältnis ordentlich. Die Beklagte beanspruchte lediglich die
Arbeitsleistung des Klägers nicht mehr, weshalb sich an der Fälligkeit
der einzelnen Monatslöhne nichts änderte. Die ungerechtfertigte fristlose
Entlassung lässt den Lohnanspruch jedoch sofort fällig werden (BGE 103
II 274 E. 3b).

    Hat der Gesetzgeber demnach die Frage, ob sich der freigestellte
Arbeitnehmer den anderweitig verdienten Lohn anrechnen lassen muss, nicht
geregelt, liegt eine Gesetzeslücke vor, welche vom Richter auszufüllen
ist. Da die zu findende Norm den Charakter einer allgemein gültigen
Regel tragen (Art. 1 Abs. 2 ZGB) und sich in das Gesetz möglichst nahtlos
einfügen soll, muss bei der Lückenfüllung primär von analogen gesetzlich
bereits geregelten Tatbeständen ausgegangen werden (MEIER-HAYOZ, N
137 ff., 251 ff., 318 ff. und 345 ff. zu Art. 1 ZGB; TUOR/SCHNYDER,
Das schweizerische Zivilgesetzbuch, 10. Aufl. 1986, S. 39; DESCHENAUX,
SPR II, S. 111 f.).

    Obwohl die Rechtsprechung einiger kantonaler Gerichte die
Anrechnungspflicht bei der Freistellung mit Art. 324 Abs. 2 oder
Art. 337c Abs. 2 OR vergleicht, prüft sie nicht, ob eine der genannten
Bestimmungen analog angewendet werden könnte. Deshalb lehnt sie auch eine
Anrechnungspflicht ab, sofern die Umstände des Einzelfalles nicht eine
gegenteilige Lösung erfordern (Jahrbuch des Schweizerischen Arbeitsrechts
(JAR) 1990, S. 225 f.; JAR 1989, S. 201 bis 203; JAR 1988, S. 265 f. =
ZR 87/1988 Nr. 84; JAR 1985, S. 151; JAR 1982, S. 165; Arbeitsrecht und
Arbeitslosenversicherung 27/1979, S. 39 ff.).

    b) Sowohl bei der fristlosen Entlassung als auch bei der Freistellung
will der Arbeitgeber den Arbeitnehmer mit sofortiger Wirkung vom
Arbeitsplatz fernhalten. Der ungerechtfertigt fristlos Entlassene befindet
sich in einer ähnlichen Situation wie der Freigestellte. Der Arbeitgeber,
der einen Arbeitnehmer freistellt, kündigt nur deshalb nicht fristlos,
weil er weiss oder damit rechnen muss, dass seine Gründe nicht erheblich
genug im Sinne von Art. 337 Abs. 1 und 2 OR sind. Um dem mit einem
Prozessverlust verbundenen Kostenrisiko auszuweichen, erbringt er von
sich aus die Leistungen, zu denen er eventuell gezwungen werden kann.

    Betreffend die Pflicht zur Anrechnung des andernorts verdienten Lohnes
ist die Lage des Klägers durchaus mit derjenigen des zu Unrecht fristlos
entlassenen Arbeitnehmers zu vergleichen. Es wäre nicht einzusehen,
wieso der freigestellte Arbeitnehmer bezüglich der Anrechnungspflicht
bessergestellt sein sollte als derjenige, den die ungerechtfertigte
fristlose Entlassung schon für sich allein in aller Regel hart trifft. Mit
der Freistellung hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nämlich vom
Risiko entbunden, einen Prozess über die Frage führen zu müssen, ob die
fristlose Entlassung gegebenenfalls ungerechtfertigt gewesen wäre. Warum
der Freigestellte bei diesem Vorteil noch zusätzlich gegenüber dem
ungerechtfertigt Entlassenen dadurch begünstigt werden sollte, dass er
sich den am neuen Arbeitsplatz verdienten Lohn nicht anrechnen lassen
muss, ist nicht ersichtlich. Daher drängt sich die analoge Anwendung von
Art. 337c Abs. 2 OR auf.