Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 III 10



118 III 10

4. Auszug aus dem Urteil der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer vom 28.
Oktober 1992 i.S. X. Versicherungsgesellschaft (Rekurs) Regeste

    Zustellung von Betreibungsurkunden (Art. 65 SchKG).

    Entsprechend der Vorschrift von Art. 65 Abs. 1 Ziff. 2 SchKG sind an
eine Aktiengesellschaft gerichtete Betreibungsurkunden - insbesondere der
Zahlungsbefehl - einem Mitglied der Verwaltung oder einem Prokuristen
zuzustellen. Eine Ersatzzustellung gemäss Art. 65 Abs. 2 SchKG ist nur
zulässig, wenn die Zustellung an einen Vertreter im Sinne der zuerst
erwähnten Bestimmung erfolglos versucht worden ist. Das Recht der
Stellvertretung im Sinne der Art. 32 ff. OR (im vorliegenden Fall die
Anscheins- oder Duldungsvollmacht) hat neben der präzisen Anweisung des
Art. 65 SchKG keinen Platz.

Sachverhalt

    A.- Auf Begehren von Sch. erliess das Betreibungsamt gegen die
X. Versicherungsgesellschaft den Zahlungsbefehl für eine Forderung
von einer Million Franken zuzüglich Zins und Kosten. Der Zahlungsbefehl
wurde am Sitz der Gesellschaft von deren Kassier entgegengenommen. Nachdem
innert Frist kein Rechtsvorschlag erhoben worden war, stellte der Gläubiger
das Fortsetzungsbegehren, worauf das Betreibungsamt die Konkursandrohung
erliess.

    Die X. Versicherungsgesellschaft beschwerte sich über die Zustellung
des Zahlungsbefehls bei der kantonalen Aufsichtsbehörde, indem sie
die Aufhebung des Zahlungsbefehls und der Konkursandrohung begehrte,
wurde jedoch abgewiesen. Demgegenüber hiess die Schuldbetreibungs- und
Konkurskammer des Bundesgerichts den hierauf bei ihr erhobenen Rekurs
der X. Versicherungsgesellschaft gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Die präzise Anweisung, die Art. 65 SchKG für die Zustellung
von Betreibungsurkunden an eine juristische Person oder eine
Gesellschaft erteilt, erklärt sich aus dem System des schweizerischen
Zwangsvollstreckungsrechtes: Der Zahlungsbefehl beruht ausschliesslich auf
den Behauptungen des Gläubigers im Betreibungsbegehren. Völlig einseitig
macht dieser darin geltend, dass ein materiellrechtlicher Anspruch bestehe,
dass ihm die Sachlegitimation dafür gegenüber dem Schuldner zukomme und
dass der Anspruch erzwingbar und vollstreckbar sei. Dabei kann es sich um
ein streitiges Rechtsverhältnis handeln, oder der Anspruch ist noch gar
nicht fällig, oder es steht die betreibungsrechtliche Vollstreckbarkeit
in Frage. Der Schuldner muss sich deshalb der Eintreibung der Forderung
widersetzen können, wenn er mit den Behauptungen des Gläubigers nicht oder
nur bedingt einverstanden ist (AMONN, Grundriss des Schuldbetreibungs-
und Konkursrechts, 4. Auflage Bern 1988, § 18 N. 1; FRITZSCHE/WALDER,
Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, Band I, Zürich
1984, § 16 Rz. 1 und 3 sowie Anm. 4; § 17 Rz. 17; GILLIÉRON, Poursuite
pour dettes, faillite et concordat, Lausanne 1988, S. 121 f.). Hiefür ist
der Rechtsvorschlag, den der Schuldner innert zehn Tagen nach Zustellung
des Zahlungsbefehls zu erheben hat, die erste und letzte Gelegenheit,
die sich ihm im Zwangsvollstreckungsverfahren bietet.

    Wenn nun das Gesetz bestimmt, dass in der Betreibung gegen eine
juristische Person oder eine Gesellschaft die Zustellung an deren
Vertreter zu erfolgen habe und in Art. 65 Abs. 1 Ziff. 2 SchKG für die
Aktiengesellschaft im besonderen als deren Vertreter jedes Mitglied der
Verwaltung und jeden Prokuristen bezeichnet, so soll damit sichergestellt
werden, dass die für die Aktiengesellschaft bestimmte Betreibungsurkunde
in die Hände jener natürlichen Personen gelangt, die in Betreibungssachen
für die Aktiengesellschaft handeln, insbesondere Rechtsvorschlag erheben
können (BGE 117 III 12 f. E. 5a). Komplementär dazu verlangt Art. 67
Abs. 2 Ziff. 2 SchKG, dass Name und Wohnort des gesetzlichen Vertreters
im Betreibungsbegehren, das die Grundlage für den Zahlungsbefehl bildet,
anzugeben seien. In diesem Erfordernis liegt, wie die Rechtsprechung
festgehalten hat, kein überspitzter Formalismus; vielmehr sind diese
Angaben - damit die Vorschriften über die Zustellung des Art. 65 SchKG
befolgt werden können - unerlässlich. Das Betreibungsamt hat daher, wenn
die Angaben im Betreibungsbegehren fehlen, den Gläubiger unverzüglich
davon in Kenntnis zu setzen und ihm Gelegenheit zur Ergänzung zu geben
(BGE 117 III 13 E. 5b, 116 III 10, 109 III 4 ff.).

    b) Dadurch, dass die kantonale Aufsichtsbehörde dem angefochtenen
Entscheid die im Bereich des Obligationenrechts anerkannte Figur der
Anscheins- oder Duldungsvollmacht zugrunde gelegt hat, hat sie das
aufgezeigte System des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts aus den Augen
verloren. Sie hat damit, neben der - von ihr zu Recht nicht in Betracht
gezogenen - Ersatzzustellung gemäss Art. 65 Abs. 2 SchKG, die Gesetz und
Rechtsprechung nur unter der Voraussetzung zulassen, dass die Zustellung
an einen Vertreter im Sinne von Art. 65 Abs. 1 SchKG erfolglos versucht
worden ist (BGE 117 III 13 E. 5a, mit Hinweis auf BGE 88 III 17 f. und
96 III 6), eine neue Möglichkeit der Ersatzzustellung geschaffen. Doch
hat das Bundesgericht, wie die Rekurrentin zutreffend vorbringt, schon
in BGE 43 III 22 erkannt, dass die Fälle, in welchen die Zustellung an
andere Personen zuhanden des Schuldners zulässig sind, von den Art. 64
und 65 SchKG abschliessend aufgezählt werden.

    c) Im Hinblick auf die präzisen und unumstösslichen Anweisungen,
die das Gesetz für die Zustellung der Betreibungsurkunden erteilt, kann
es nicht entscheidend sein, dass an die X. Versicherungsgesellschaft
gerichtete Zahlungsbefehle während vieler Jahre und bis zum heutigen
Zeitpunkt von deren Kassier, der weder Mitglied der Verwaltung noch
Prokurist ist, entgegengenommen worden sind. Es ist nicht ungewöhnlich,
dass eine rechtlich fehlerhafte Praxis erst im Streitfall aufgedeckt
wird. Aus diesem Grund kann sich auch die Frage, ob die Rekurrentin
sich rechtsmissbräuchlich auf die gesetzlichen Vorschriften berufe,
nicht stellen.