Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 95



118 Ia 95

12. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 24.
Januar 1992 i.S. M. F. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich, Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich und Obergericht (I. Strafkammer) des Kantons Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 5 Ziff. 3 EMRK. Trennung von haftanordnendem Richter und
Anklagevertreter (Beurteilung der betreffenden Rüge im Stadium des
Anklagezulassungsverfahrens).

    Es verstösst gegen Art. 5 Ziff. 3 EMRK, wenn der gleiche Beamte,
der später die strafrechtliche Anklage erhebt, die Untersuchungshaft
anordnet (Bestätigung der Rechtsprechung). Art. 5 Ziff. 3 EMRK
räumt dem Angeschuldigten indessen keinen Anspruch auf einen mit
richterlicher Unabhängigkeit ausgestatteten Anklagevertreter ein. Die
Durchsetzung der Garantien von Art. 5 Ziff. 3 EMRK verlangt aber, dass
die Konventionsverletzung auch noch nach Rechtskraft der Haftanordnung
gerügt werden kann, sofern der Angeschuldigte vorher vom Mangel keine
Kenntnis hatte.

Sachverhalt

    A.- M. F. steht im Verdacht, sie sei Mitglied eines
Drogenhändlerringes, welcher grosse Mengen von Kokain von Brasilien
nach Europa schmuggelte. Die Bezirksanwaltschaft Zürich leitete gegen
M. F. ein Strafverfahren wegen qualifizierter Widerhandlung gegen
das Betäubungsmittelgesetz ein. Am 25. Juni 1989 wurde sie durch
Bezirksanwalt B. in Untersuchungshaft versetzt. Am 9. September 1991
reichte die Bezirksanwaltschaft Zürich durch denselben Bezirksanwalt
B. die Anklageschrift gegen M. F. beim Bezirksgericht Zürich ein. Mit
Beschluss vom 23. Oktober 1991 liess die 4. Abteilung des Bezirksgerichtes
Zürich die Anklage definitiv nicht zu und schrieb den Prozess als erledigt
ab. Der Entscheid wurde im wesentlichen damit begründet, dass die Anklage
den Anforderungen von Art. 5 Ziff. 3 EMRK nicht genüge, weil der sie
vertretende Bezirksanwalt gegenüber M. F. schon die Untersuchungshaft
angeordnet habe. Gegen diesen Beschluss rekurrierte die Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich an das Zürcher Obergericht. In Gutheissung des Rekurses
entschied die I. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich mit
Beschluss vom 29. November 1991 materiell wie folgt:

    "Die von der Bezirksanwaltschaft Zürich am 9. September 1991 beim

    Bezirksgericht Zürich (4. Abteilung) gegen M. F. erhobene Anklage wird
   zugelassen."

    Gegen den Entscheid des Obergerichtes des Kantons Zürich gelangte
M. F. mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Sie rügt
insbesondere eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK und beantragt
unter anderem, es sei "die definitive Nichtzulassung der Anklage zu
beschliessen". Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführerin macht zur Hauptsache geltend, die im
angefochtenen Entscheid angeordnete Anklagezulassung verletze Art. 5
Ziff. 3 EMRK, da die Anklage durch den gleichen Bezirksanwalt erhoben
worden sei, der im Juni 1989 schon Untersuchungshaft gegen sie angeordnet
habe. Dieser Mangel sei unheilbar, so dass die Anklage definitiv nicht
zugelassen werden könne.

    a) In seinem Urteil vom 23. Oktober 1990 i.S. Jutta Huber hat der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, es könnten
Zweifel entstehen an der Unparteilichkeit des Gerichtsbeamten, welcher
gemäss Art. 5 Ziff. 3 EMRK die Haft anordnet, wenn dieser befugt ist, im
nachfolgenden Strafverfahren als Vertreter der Anklagebehörde einzugreifen
("if he is entitled to intervene in the subsequent criminal proceedings as
a representative of the prosecuting authority"; "s'il peut intervenir dans
la procédure pénale ultérieure en qualité de partie poursuivante"). Da die
Haft durch den gleichen zürcherischen Bezirksanwalt angeordnet worden war,
welcher 14 Monate später die Anklageschrift verfasste ("in drawing up the
indictment"; "en dressant l'acte d'accusation"), stellte der Gerichtshof
eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK fest (Publications de la Cour
européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 188, Ziff. 41, 43 =
EuGRZ 17 (1990) 502 ff.).

    Art. 5 Ziff. 3 EMRK regelt insbesondere die Anforderungen an die
Behörde, welche die Haft anordnet. Es muss sich dabei um einen Richter
oder einen anderen, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen
ermächtigten Beamten ("un autre magistrat habilité par la loi à exercer des
fonctions judiciaires") handeln. Im hier zu beurteilenden Fall ist indessen
nicht die Anordnung der Haft angefochten, sondern die Anklagezulassung nach
zürcherischem Prozessrecht. Die Haftanordnungsverfügung ist rechtskräftig
und bildet nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens. In
diesem Verfahren kann sich daher grundsätzlich nur die Frage stellen,
ob die Anklagezulassung konventionswidrig erscheint. Wie der Europäische
Gerichtshof ausdrücklich festgehalten hat, wurde im Urteil Huber allein
die Streitfrage beurteilt, ob der damalige Bezirksanwalt im Moment, als er
die Haft anordnete, somit in seiner Funktion als Haftrichter, unparteilich
erschien oder nicht. ("La Cour note d'emblée que seule prête à controverse
l'impartialité du procureur de district de Zurich lors de la délivrance du
mandat d'arrêt", Série A, vol. 188, Ziff. 40). Im vorliegenden Fall stellt
sich demgegenüber die Frage, ob die Angeschuldigte nach rechtskräftiger
Haftanordnung ex post geltend machen kann, die Anklagezulassung
bzw. Anklagevertretung durch einen Untersuchungsbeamten, welcher früher
die Haft angeordnet hat, verstosse gegen Art. 5 Ziff. 3 EMRK.

    b) Den kantonalen Instanzen ist insoweit beizupflichten, als Art. 5
Ziff. 3 EMRK keinen Anspruch auf eine qualifizierte Unparteilichkeit der
Anklagebehörde im Anklagezulassungsverfahren bzw. bei der Anklagevertretung
vor Gericht einräumt. Der Anspruch auf einen Beamten mit "richterlichen
Funktionen" bezieht sich nach dem klaren Wortlaut von Art. 5 Ziff. 3 EMRK
lediglich auf den Haftanordnungsrichter. Die haftanordnende Behörde muss
im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtes und der Strassburger
Organe unbefangen und mit einer gewissen richterlichen Unabhängigkeit
ausgestattet sein (BGE 115 Ia 59 E. b; 112 Ia 144 E. 2b). Keine
analoge Garantie besteht dagegen für die Strafverfolgungsbehörde, welche
Anklagefunktionen ausübt (Ausarbeitung und Einreichung der Anklageschrift,
Anklagevertretung vor Gericht usw.). Die EMRK räumt dem Angeschuldigten
ebensowenig wie Art. 58 BV einen Anspruch auf einen Anklagevertreter mit
"richterlicher Unabhängigkeit" ein (vgl. BGE 112 Ia 146 f. E. c). Für die
Unparteilichkeit nichtrichterlicher Behördevertreter gelten vielmehr die
weniger weitreichenden Anforderungen von Art. 4 BV (BGE 112 Ia 147 E. d).

    c) Im vorliegenden Fall ist nun aber folgender Umstand zu
berücksichtigen: Wie die kantonalen Instanzen selber einräumen,
hätte Bezirksanwalt B. die Haft nicht anordnen dürfen, da er später
unbestrittenermassen Anklagefunktionen ausgeübt hat. Rückblickend war die
Anordnung der Haft im Lichte der neueren Strassburger Praxis mit Art. 5
Ziff. 3 EMRK nicht vereinbar. Im Zeitpunkt der Haftanordnung im Juni
1989 konnte die Beschwerdeführerin jedoch die entsprechende Rüge nicht
erheben, da sie damals gar nicht wissen konnte, dass der haftanordnende
Bezirksanwalt im September 1991 auch die Anklage erheben würde. Unter
diesen Umständen würden aber die Garantien von Art. 5 Ziff. 3 EMRK
vollständig unterlaufen werden, sofern die entsprechende Rüge in einem
späteren Verfahrensstadium, nach Bekanntwerden der Verletzung, nicht mehr
erhoben werden könnte.

    Im angefochtenen Entscheid wird demgegenüber die Auffassung vertreten,
eine konventionswidrige Haftanordnung liesse sich im Stadium der
Anklagezulassung nicht mehr korrigieren. Dies hätte indessen zur Folge,
dass der Grundrechtsanspruch von Art. 5 Ziff. 3 EMRK dadurch faktisch
ausser Kraft gesetzt werden könnte, dass ihn die Behörden schlichtweg
missachten. In dem den Parteien bekannten Urteil vom 10. September
1991 i.S. M. S. (BGE 117 Ia 199 ff.) hat das Bundesgericht in einem
ähnlich gelagerten Fall entschieden, dass die Rüge der Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK auch noch nach Rechtskraft der Haftanordnung, wenn
der Angeschuldigte vom Mangel Kenntnis erhalten hat, erhoben werden
könne. Andernfalls liesse sich die von Art. 5 Ziff. 3 EMRK geforderte
Trennung von haftanordnendem Richter und Anklagevertreter gar nicht
durchsetzen (BGE 117 Ia 202). Im dort zu beurteilenden Fall war die
Anklage durch einen ausserordentlichen Staatsanwalt erhoben worden,
der zuvor in der Funktion als Bezirksanwalt Untersuchungshaft gegen den
Angeschuldigten angeordnet hatte. Obwohl der haftanordnende Bezirksanwalt
nicht mit Sicherheit voraussehen konnte, dass er in der Folge zum
ausserordentlichen Staatsanwalt gewählt werden und im gleichen Fall Anklage
erheben würde, stellte das Bundesgericht ausdrücklich eine Verletzung
von Art. 5 Ziff. 3 EMRK fest. Das Bundesgericht präzisierte zwar, dass
die Konventionswidrigkeit "nicht unmittelbar" in der Anklagetätigkeit des
betreffenden Beamten lag und die konventionswidrige Haftanordnung nicht
mehr anfechtbar war. Es erachtete die Rüge der Verletzung von Art. 5
Ziff. 3 EMRK aber auch noch im späteren Verfahrensstadium als begründet
(BGE 117 Ia 201 E. 4c).

    d) Auch im vorliegenden Fall verlangt die Durchsetzung der
Konventionsgarantien und die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes,
dass die Rüge der Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK noch im Stadium
des Anklagezulassungsverfahrens erhoben werden kann. Die Tatsache,
dass im Kanton Zürich mit Kreisschreiben der Verwaltungskommission
des Obergerichtes sowie der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich vom
17. Februar 1989 ein richterliches Haftprüfungsverfahren provisorisch
eingeführt worden ist, ändert an dieser Betrachtungsweise nichts. Mit der
Einführung des Haftrichters wurde den Anforderungen von Art. 5 Ziff. 4
EMRK Rechnung getragen. Unabhängig davon verlangt Art. 5 Ziff. 3 EMRK im
dargelegten Sinne aber auch noch die wirksame Trennung von haftanordnendem
Richter und Anklagebehörden. Das erwähnte Urteil des Europäischen
Gerichtshofes i.S. Huber datiert vom 23. Oktober 1990. Es wurde noch im
gleichen Jahr in der EuGRZ veröffentlicht. Die staatsrechtliche Beschwerde
i.S. M. S. wurde Anfang Juni 1991 eingereicht und Mitte Juni 1991 den
zuständigen zürcherischen Behörden förmlich mitgeteilt. Hinzuweisen
ist ausserdem auf ein einschlägiges publiziertes Urteil des Zürcher
Kassationsgerichtes Nr. 89/259 vom 3. Dezember 1990 i.S. B., welches der
neueren Praxis zu Art. 5 Ziff. 3 EMRK Rechnung trägt. Das Urteil wurde
veröffentlicht in ZR 89/1990 Nr. 97. Bei dieser Sachlage fragt es sich,
weshalb im vorliegenden Fall nicht vorsorglich ein anderer Bezirksanwalt
mit der Anklageerhebung betraut worden ist.

    e) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass vorliegend Art. 5 Ziff. 3 EMRK
verletzt worden ist, indem der gleiche Bezirksanwalt am 25. Juni 1989
die Untersuchungshaft angeordnet hat, der am 9. September 1991 auch
die Anklage beim erkennenden Gericht verfasste. Es fragt sich, welche
prozessuale Rechtsfolge im vorliegenden Fall an die Konventionsverletzung
zu knüpfen ist.

    Die Beschwerdeführerin befindet sich bereits seit über zweieinhalb
Jahren in Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Gemäss ihren eigenen
Ausführungen drängt sie auf eine Beschleunigung des Verfahrens, bzw. sie
beklagt sich über eine angeblich bereits überlange Haftdauer. Die
Beschwerdeführerin räumt selber ein, dass sich bei einer neuen
Anklageerhebung weitere zeitliche Verzögerungen ergeben müssten. Eine
neue Anklageerhebung durch einen anderen Anklagevertreter liegt daher
im vorliegenden Fall nicht im Interesse der Beschwerdeführerin. Es ist
weiter zu beachten, dass die Beschwerdeführerin nicht selbständig gegen die
Anklageerhebung vorgegangen ist. Anders als im erwähnten Beschwerdefall
i.S. M. S. hat die Beschwerdeführerin nicht von sich aus ein sofortiges
Ausstandsbegehren gegen den Verfasser der Anklageschrift erhoben. Nach
eigenen Angaben hat sie damit vielmehr zugewartet bis Mitte November 1991.

    Es kann aber auch nicht Rechtsfolge der festgestellten Verletzung von
Art. 5 Ziff. 3 EMRK sein, dass die Anklage definitiv nicht zugelassen
wird, wie dies laut Beschwerdeanträgen dem eigentlichen Ziel der
Beschwerdeführerin entspricht. Wie dargelegt, gibt Art. 5 Ziff. 3
EMRK dem Angeschuldigten keinen Anspruch auf einen mit "richterlicher
Unabhängigkeit" ausgestatteten Anklagevertreter. Eine Korrektur
der festgestellten Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK müsste sich
somit in einer neuen Anklageerhebung erschöpfen. Die damit verbundene
Verzögerung des Verfahrens widerspricht aber nicht nur den Interessen
der Beschwerdeführerin, sie rechtfertigt sich auch aus objektiven Gründen
nicht. Die Beschwerdeführerin legt nämlich nicht dar, inwiefern sich der
festgestellte Fehler, der das Untersuchungsverfahren betraf, in sachlichen
Mängeln der Anklage ausgewirkt haben sollte. Solche sind auch nicht aus
den Akten ersichtlich. Da die Anklageerhebung selber nicht fehlerhaft ist,
gebietet sich die Aufhebung des angefochtenen Entscheides im vorliegenden
Fall nicht. Anders als im zitierten Urteil des Bundesgerichtes
i.S. M. S. ist hier auch nicht die Aufhebung des angefochtenen
Entscheides wegen selbständigen formellen Verfahrensfehlern, etwa wegen
Verweigerung des rechtlichen Gehörs, geboten (vgl. unveröffentlichte
E. 3 des Urteils vom 10. September 1991). Aus diesen Gründen führt die
festgestellte Grundrechtsverletzung im vorliegenden konkreten Fall nicht
zur Notwendigkeit einer neuen Anklageerhebung und damit auch nicht zur
Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Ob und inwieweit die Verletzung
von Art. 5 Ziff. 3 EMRK zu Schadenersatzansprüchen im Sinne von Art. 5
Ziff. 5 EMRK und Art. 7 KV/ZH führen könnte, hat das Bundesgericht hier
nicht zu beurteilen.

    f) Da den Anträgen der Beschwerdeführerin nicht stattgegeben werden
kann, ist die staatsrechtliche Beschwerde im Sinne der Erwägungen
abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. ...