Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 510



118 Ia 510

67. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23.
Dezember 1992 i.S. Stadt Zürich gegen Karl Steiner AG, Sihl Zürcher
Papierfabrik, Baurekurskommission I des Kantons Zürich, Regierungsrat
des Kantons Zürich und Verwaltungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Intertemporalrechtliche Anwendung von § 234 des Zürcher Planungs-
und Baugesetzes.

    § 234 des Zürcher Planungs- und Baugesetzes (PBG) bewirkt eine
sog. negative Vorwirkung künftiger planerischer Festlegungen. Erst während
eines Rechtsmittelverfahrens bekannt werdenden künftigen planerischen
Festsetzungen eine Vorwirkung nach § 234 PBG nur zuzuerkennen, wenn
gewichtige öffentliche Interessen dies erfordern, ist weder willkürlich,
noch wird dadurch der Eigentumsgarantie eine zu weit gehende Bedeutung
gegeben (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Die Karl Steiner AG beabsichtigt, auf dem Grundstück
Kat.-Nr. 7588 der Sihl Papierfabrik in Zürich-Wiedikon einen Neubau
mit einer Bruttogeschossfläche von 97000 m2 für Industrie und Gewerbe
sowie mit einer Unterniveaugarage für 800 Personenwagen zu erstellen
(sog. Überbauung Utopark). Die Parzelle, auf der heute die Fabrikations-
und Bürogebäulichkeiten der Sihl Papierfabrik stehen, liegt nach der
Bauordnung der Stadt Zürich vom 12. Juni 1963 (BauO) in der Industriezone
J II. Am 23. Oktober 1991 wies der Gemeinderat bei bei Festsetzung
der neuen Bau- und Zonenordnung der Stadt Zürich das Baugrundstück
der sechsgeschossigen Wohnzone mit Dienstleistungsfunktion (W6D) zu,
wobei er einen Wohnanteil von 40% festsetzte. In der Volksabstimmung vom
17. Mai 1992 wurde die neue Bau- und Zonenordnung von den Stimmbürgern
angenommen. Die Karl Steiner AG und die Sihl Papierfabrik haben gegen die
Zuweisung der Parzelle zur W6D je einen Rekurs bei der Baurekurskommission
I des Kantons Zürich erhoben. Über diese Rechtsmittel ist zur Zeit noch
nicht entschieden.

    Die Bausektion II des Stadtrats von Zürich wies am 1. Juli 1988 -
nach zwei positiven Vorentscheiden über die zulässige Nutzung und die
zulässige Baumassenziffer - das Gesuch für die Überbauung Utopark ab. Gegen
die Verweigerung der Baubewilligung erhoben die Karl Steiner AG und die
Sihl Papierfabrik einen Rekurs bei der Baurekurskommission I. In der Folge
entspann sich ein Zuständigkeitskonflikt zwischen der Baurekurskommission
I und dem Regierungsrat. Am 25. September 1991 behandelte der Regierungsrat
die Rekurse und hiess sie im Sinne der Erwägungen und im überprüften Umfang
gut. Zugleich hob er den Beschluss der Bausektion II des Stadtrats vom
1. Juli 1988 insoweit auf, als er die Verweigerung der Baubewilligung
betrifft. Die Stadt Zürich focht den Entscheid des Regierungsrats vom
25. September 1991 beim Verwaltungsgericht des Kantons Zürich an, das
ihr Rechtsmittel am 3. April 1992 abwies.

    Die Stadt Zürich hat gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom
3. April 1992 eine staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der
Gemeindeautonomie eingereicht. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Bejahung der Autonomie der Zürcher Gemeinden bei der Anwendung
von § 234 des Gesetzes über die Raumplanung und das öffentliche Baurecht
vom 7. September 1975 [PBG]. Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts;
vgl. BGE 118 Ia 220.)

Erwägung 4

    4.- Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ist es willkürlich, das
Grundstück der Sihl Papierfabrik für die geplante Überbauung Utopark als
baureif im Sinne von § 234 PBG zu betrachten. Sie rügt weiter, dass der
angefochtene Entscheid in diesem Zusammenhang der Eigentumsgarantie (Art.
22ter BV) eine zu weit gehende Tragweite beimesse.

    a) Nach § 233 Abs. 1 PBG dürfen Bauten nur auf Grundstücken erstellt
werden, die baureif sind oder deren Baureife auf die Fertigstellung
oder, wo die Verhältnisse es erfordern, bereits auf den Baubeginn hin
gesichert ist. Baureif ist ein Grundstück nach der seit dem 1. Februar
1992 geltenden Fassung von § 234 PBG dann, wenn es erschlossen ist und
wenn durch die bauliche Massnahme keine noch fehlende planungsrechtliche
Festlegung nachteilig beeinflusst wird. Die Rechtsprechung geht davon
aus, dass die planungsrechtliche Baureife einem Bauvorhaben nicht nur bei
der erstmaligen Festsetzung eines Plans, sondern auch im Zusammenhang mit
späteren Änderungen entgegengehalten werden kann (BGE 116 Ia 453 E. 4a mit
Hinweisen auf die Rechtsprechung des Zürcher Verwaltungsgerichts). Als
planungsrechtliche Festlegung gilt jede hinlänglich klar umrissene
Erklärung über den Inhalt eines Raumplans, jedoch nicht eine kaum näher
konkretisierte Planabsicht (vgl. BGE 116 Ia 453 E. 4a; 110 Ia 165 E. 6a).

    b) Die Bauparzelle der Sihl Papierfabrik liegt nach der Bauordnung
der Stadt Zürich aus dem Jahre 1963 in der Industriezone J II. Es ist
unbestritten, dass die geplante Überbauung Utopark den Vorschriften dieser
Zone entspricht.

    Am 17. Mai 1992 nahmen die Stimmbürger der Stadt Zürich eine neue Bau-
und Zonenordnung an. Sie weist das Baugrundstück der sechsgeschossigen
Wohnzone mit Dienstleistungsfunktion (W6D) mit einem Wohnanteil von 40%
zu. Diese Festsetzung ist von den Beschwerdegegnerinnen angefochten worden
und somit nicht rechtskräftig. Da die Überbauung Utopark überhaupt keine
Wohnungen vorsieht, erfüllt sie unbestrittenermassen die Anforderungen
der neuen Bau- und Zonenordnung nicht.

    Im Zeitpunkt des Entscheids der Bausektion II über das Baugesuch am
1. Juli 1988 stand jedoch die künftige Zuweisung des Bauareals in die
Zone W6D mit der neuen Bau- und Zonenordnung noch nicht fest. Es bestand
keine hinreichend konkretisierte Planabsicht, die dem Bauprojekt gemäss §
234 PBG hätte entgegengehalten werden können. Hingegen war im Zeitpunkt
des Urteils des Verwaltungsgerichts am 3. April 1992 die neue Bau- und
Zonenordnung vom Gemeinderat der Stadt Zürich verabschiedet. Sie enthält,
mit der Zuteilung des Baugrundstücks zur Zone W6D eine Festsetzung,
welche dessen Baureife gemäss § 234 PBG aufhebt.

    Unter diesen Umständen kommt der Frage entscheidende Bedeutung zu,
ob künftige planungsrechtliche Festlegungen, die erst im Laufe eines
Rechtsmittelverfahrens konkrete Gestalt annehmen, gemäss § 234 PBG eine
Vorwirkung beanspruchen können. Wird auf den Zeitpunkt des Entscheids
der Bausektion II (1. Juli 1988) abgestellt, ist die Baureife des
Utoparkareals nach § 234 PBG zu bejahen. Erscheint demgegenüber der
Zeitpunkt des verwaltungsgerichtlichen Urteils (3. April 1992) als
massgebend, so fehlt dem Grundstück die Baureife.

    c) Das Verwaltungsgericht hält es nur für zulässig, den
Wegfall der planungsrechtlichen Baureife nach § 234 PBG während des
Rechtsmittelverfahrens zu berücksichtigen, wenn die Abwägung der auf dem
Spiele stehenden Interessen zugunsten des Gemeinwesens ausfalle. Änderungen
planungsrechtlicher Festlegungen könnten jedenfalls bei der Beurteilung
eines Baugesuchs dann nicht mehr in Betracht fallen, wenn sie während der
Dauer des Rechtsmittelverfahrens eigens zu dem Zweck unternommen würden,
dem Gesuch nachträglich die Rechtsgrundlage zu entziehen (vgl. des
Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 11. Juni 1985 in ZBl 87/1986 140 f.).

    Die Beschwerdeführerin beanstandet diese Praxis des Verwaltungsgerichts
nicht. Sie ist jedoch der Auffassung, dass der angefochtene Entscheid in
willkürlicher Weise annehme, im vorliegenden Fall gingen die privaten
Interessen der Beschwerdegegnerinnen ihrem Interesse auf Durchsetzung
der neuen Bau- und Zonenordnung vor. Zudem werde der Eigentumsgarantie
ein zu grosses Gewicht eingeräumt.

    d) Die Bestimmung von § 234 PBG bezweckt gleich wie die in Art. 27
RPG vorgesehene Planungszone die Sicherung der Entscheidungsfreiheit
der Planungsbehörden, indem sie Vorhaben einstweilen untersagt, welche
beabsichtigte neue planerische Festlegungen negativ beeinflussen. Künftigen
Planfestsetzungen wird auf diese Weise eine sog. negative Vorwirkung
zuerkannt, indem Bauten nur noch bewilligt werden, wenn sie die vorgesehene
planerische Neuordnung nicht beeinträchtigen. Diese Regelung dient
der Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Auftrags der Raumplanung
(Art. 22quater BV) und kann sich daher auf ein bedeutendes öffentliches
Interesse stützen. Die Plansicherungsmassnahmen bewirken jedoch zugleich
Eigentumsbeschränkungen, die nur bei Wahrung der Verhältnismässigkeit
zulässig sind (BGE 103 Ia 482 E. 8b; 100 Ia 151 f. E. 2b; 93 I 340 E. 4;
vgl. auch BGE 109 Ib 22 E. 4a). Im Blick darauf wird die zeitliche Dauer
der negativen Vorwirkung in § 235 PBG auf drei Jahre beschränkt. Sie
findet zudem nur Anwendung, wenn der Inhalt der künftigen planerischen
Festsetzung hinreichend konkretisiert ist.

    Bei der Beurteilung der intertemporalrechtlichen Anwendung von § 234
PBG muss die erwähnte Bedeutung der zeitlichen und sachlichen Beschränkung
der negativen Vorwirkung beachtet werden. Im vorliegenden Fall kam die
Verneinung der Baureife im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Entscheids am
1. Juli 1988 nicht in Frage, weil über die Festsetzungen der künftigen Bau-
und Zonenordnung noch keine Klarheit bestand. Die Berücksichtigung der
nachträglich eingetretenen fehlenden planungsrechtlichen Baureife hätte
für den Bauwilligen zur Folge, dass er hinterher Vorschriften unterworfen
würde, die bei Einreichung des Baugesuchs und noch im Zeitpunkt des
erstinstanzlichen Entscheids nicht einmal im Entwurf vorlagen. Auch wenn
der Grundeigentümer keinen Anspruch darauf hat, dass seine baulichen
Nutzungsmöglichkeiten dauernd bestehenbleiben (vgl. BGE 114 Ia 33 E. 6;
107 Ia 36 E. 3a), muss er doch bei der Ausarbeitung eines Bauprojekts auf
geltende und auf voraussehbare künftige planungsrechtliche Vorschriften
abstellen können. Das Verwaltungsgericht hat daher der Eigentumsgarantie
keine zu weit gehende Tragweite gegeben, noch ist es in Willkür verfallen,
wenn es in der vorliegenden Situation den privaten Interessen der
Beschwerdegegnerinnen von vornherein ein erhebliches Gewicht beimass,
das nur aufgewogen werden könnte, soweit besondere öffentliche Anliegen
in Frage stünden.

    e) Der angefochtene Entscheid durfte das Vorliegen solcher
qualifizierter öffentlicher Interessen ohne Willkür verneinen. Wieso an
einer Wohnnutzung auf dem von überaus stark befahrenen Strassenabschnitten,
Bahn- und Tramlinien umgebenen Utoparkareal ein besonderes
öffentliches Interesse bestehen sollte, vermag die Beschwerdeführerin
nicht darzulegen. Sie behauptet lediglich, bei einer zweckmässigen
architektonischen Anordnung der Wohnungen könnten auf dem Baugrundstück
die Grenzwerte der Lärmschutzverordnung eingehalten werden. Selbst wenn
man zusätzlich die gute verkehrsmässige Erschliessung und das von der
Stadt Zürich angeführte Ziel der Sicherstellung der Nutzungsvielfalt
mitberücksichtigt, erscheint die Festsetzung eines 40%igen Wohnanteils für
das Utoparkareal keineswegs als zwingend. Die tatsächlichen Verhältnisse
haben sich seit dem 12. Juni 1985 kaum wesentlich geändert, als der
Stadtrat von Zürich der Bauherrin mitteilte, er erachte das Utoparkareal
nach eingehenden Abklärungen und unter Berücksichtigung der topographischen
Lage nicht als geeignet für Wohnzwecke. Die seitherige Festsetzung
eines Wohnanteils für das Baugrundstück entspringt offensichtlich
allein dem inzwischen erfolgten Wandel der politischen Vorstellungen
über die künftige räumliche Entwicklung der Stadt Zürich. Das angeführte
öffentliche Interesse an der Sicherstellung der Nutzungsdurchmischung und
der Bereitstellung von zusätzlichem Wohnraum ist allgemeiner Natur und
nicht einzig auf das Utoparkareal bezogen. Es wird durch die Verwirklichung
der geplanten Überbauung auch nicht ernsthaft in Frage gestellt. Das
Verwaltungsgericht konnte bei dieser Sachlage ohne Willkür ein vorrangiges
öffentliches Interesse an der Beachtung der Vorwirkung der neuen Bau-
und Zonenordnung verneinen. Eine Verletzung der Gemeindeautonomie der
Beschwerdeführerin liegt daher nicht vor.