Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 457



118 Ia 457

61. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 14.
August 1992 i.S. X. gegen Gemeinderat Biberstein und Bezirksgericht Aarau
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK (Recht des Angeschuldigten auf
Befragung von anonymen Gewährspersonen).

    Der Angeschuldigte hat grundsätzlich das Recht, Anzeiger, auf deren
schriftliche Aussagen der Strafrichter abstellen will, ergänzend zu
befragen und auch deren Identität zu erfahren. Ein Abstellen auf belastende
Aussagen unter Wahrung der Anonymität der Gewährspersonen kann allenfalls
in begründeten Ausnahmefällen und zur Wahrung überwiegender schutzwürdiger
Interessen zulässig erscheinen. Im vorliegenden Fall wurden überwiegende
schutzwürdige Interessen der Anzeiger an einer vollständigen Anonymisierung
des Beweisverfahrens verneint.

Sachverhalt

    A.- Mit Beschluss des Gemeinderates Biberstein vom 19. Juni 1989
wurde das Ehepaar X. wegen vorschriftswidriger Hundehaltung verwarnt. Am
19. August 1991 büsste der Gemeinderat Biberstein die Eheleute X. in
Anwendung des Allgemeinen Polizeireglementes mit Fr. 200.--. Es
wurde den Gebüssten erneut eine ordnungswidrige störende Hundehaltung
vorgeworfen. Nachdem das Ehepaar X. gegen den Strafbefehl Einsprache
erhoben hatte, erliess der Gemeinderat Biberstein am 25. November 1991
einen Einspracheentscheid, in welchem die ausgefällte Busse bestätigt
wurde.

    Den Einspracheentscheid focht das Ehepaar X. mit Beschwerde an
das Bezirksgericht Aarau an. Dieses wies die Beschwerde mit Urteil
vom 11. März 1992 ab. Die Verurteilung stützte sich zur Hauptsache
auf drei belastende Anzeigen von Anwohnern. Den Angeschuldigten war
zwar der Wortlaut dieser Schreiben bekanntgemacht worden, nicht aber
die Identität der Anzeiger. Zudem lehnte das Bezirksgericht Aarau
den Antrag der Verteidigung auf Befragung der Anzeiger als Zeugen an
der Hauptverhandlung ab. Gegen das Urteil des Bezirksgerichtes Aarau
gelangten die Verurteilten mit staatsrechtlicher Beschwerde an das
Bundesgericht. Sie rügen eine Verletzung ihrer von Art. 4 BV und Art. 6
EMRK gewährleisteten Verfahrensrechte und beantragen die Aufhebung des
angefochtenen Entscheides. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das angefochtene Strafurteil stützt sich im wesentlichen auf
drei schriftliche belastende Aussagen von Anzeigern, welche entgegen den
Beweisanträgen der Verteidigung nicht als Zeugen einvernommen worden sind
und deren Identität den Beschwerdeführern nicht bekanntgegeben worden
ist. Die Beschwerdeführer sehen darin insbesondere einen Verstoss gegen
das rechtliche Gehör und gegen das Recht auf Befragung von Belastungszeugen
(Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK).

    b) Gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat der Angeschuldigte im
Strafverfahren das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen und die
Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen
wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Derselbe Anspruch ergibt sich
schon aus Art. 4 BV (BGE 116 Ia 291 E. 3; 114 Ia 181). Nach der Praxis
des Bundesgerichtes, welche mit derjenigen der Rechtsprechungsorgane
der Europäischen Menschenrechtskonvention übereinstimmt, ist eine Busse
von mehreren hundert Franken, welche im Falle der Nichtbezahlung in Haft
umgewandelt werden kann, als strafrechtliche Sanktion zu betrachten. Dies
um so mehr, wenn sich die Strafdrohung an die Allgemeinheit der Bürger
richtet (vgl. BGE 117 Ia 188 f. E. 4a; EGMR vom 22. Mai 1990 i.S.
Franz Weber c. CH, Série A, vol. 177). Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK ist
somit auf den vorliegenden Fall anwendbar.

    aa) Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung genügt es
grundsätzlich, wenn der Angeschuldigte im Verlaufe des Strafverfahrens
wenigstens einmal Gelegenheit erhält, den ihn belastenden Personen
Ergänzungsfragen zu stellen (BGE 116 Ia 291 E. 3a; 113 Ia 422
E. 3c mit Hinweisen). Indessen kann es unter besonderen Umständen
ungenügend erscheinen, wenn dem Angeschuldigten diese Möglichkeit nur
im Ermittlungsverfahren und nicht auch noch an der Hauptverhandlung vor
Gericht eingeräumt wird. Insbesondere kann eine ergänzende Befragung
vor Gericht dann notwendig erscheinen, wenn dem Angeschuldigten bei den
Konfrontationseinvernahmen im Ermittlungsverfahren noch kein Verteidiger
zur Seite stand (BGE 116 Ia 293 f. E. c mit Hinweisen). Das Befragungsrecht
gilt grundsätzlich auch gegenüber belastenden Aussagen von anonymen
Gewährspersonen (BGE 118 Ia 330 f.).

    bb) Nach der Praxis der Rechtsprechungsorgane der Europäischen
Menschenrechtskonvention ist das Abstellen auf belastende polizeilich
protokollierte Aussagen aus der Voruntersuchung zwar zulässig,
der Angeschuldigte muss jedoch die Möglichkeit haben, die Aussagen
spätestens an der öffentlichen und kontradiktorischen Gerichtsverhandlung
zu bestreiten und die Belastungszeugen ergänzend zu befragen (vgl. Urteile
des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 27. September 1990
i.S. Windisch c. A, EGMR Série A, vol. 186, Ziff. 26, vom 26. April 1991
i.S. Asch c. A, EGMR Série A, vol. 203, Ziff. 27, sowie vom 19. Dezember
1990 i.S. Delta c. F, EGMR Série A, vol. 191). In einem die Schweiz
betreffenden Urteil vom 15. Juni 1992 i.S. Lüdi hat sich der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte mit der Problematik des Abstellens auf
belastende Aussagen anonymer Drogenfahnder, sogenannter "V-Männer",
befasst. Der Gerichtshof hält fest, dass ein anonymer Gewährsmann, auf
dessen Aussagen der Strafrichter abstellt, grundsätzlich wie ein Zeuge
zu behandeln sei, auch wenn er seine Aussagen nicht als förmlicher Zeuge
an den Schranken des Gerichts gemacht hat. Dem Angeschuldigten müsse
daher ausreichend Gelegenheit gegeben werden, die belastenden Aussagen
des anonymen Informanten zu bestreiten und ihn ergänzend zu befragen
(EGMR Série A, vol. 238, Ziff. 44, 47; s. auch Bericht der Kommission,
VPB 1991 Nr. 53). Da im Fall Lüdi weder dem Angeschuldigten noch seinem
Verteidiger Gelegenheit eingeräumt worden war, den Gewährsmann ergänzend zu
befragen und die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen anzuzweifeln, wurde eine
Verletzung von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK bejaht (entgegen BGE 112 Ia 24
E. 5). Dabei vertrat der Gerichtshof die Auffassung, es hätte möglich
sein müssen, den "V-Mann" in der Weise befragen zu lassen, dass die
schutzwürdigen Interessen der Strafverfolgungsbehörden an der Wahrung
der Anonymität des Informanten gewahrt geblieben wären (EGMR Série A,
vol. 238, Ziff. 49). Der Gerichtshof hat sich damit nicht gegen die
Anonymität des Gewährsmannes, sondern ausschliesslich gegen die fehlende
Befragungsmöglichkeit ausgesprochen (vgl. auch BGE 118 Ia 330 f.).

Erwägung 3

    3.- a) Das Bezirksgericht begründet die Nichtbekanntgabe der
Identität der Anzeiger bzw. den Verzicht auf deren Befragung als Zeugen
mit schutzwürdigen Interessen an der Wahrung ihrer Anonymität. So seien
die Anzeiger bei Bekanntgabe ihrer Identität möglichen Repressalien
von seiten der Beschwerdeführer ausgesetzt. Es finden sich zwar in den
Verfahrensakten entsprechende Hinweise und Befürchtungen von Vertretern des
Gemeinderates, die durchaus nicht leicht zu nehmen sind. Hingegen erscheint
die Formulierung, es sei "aktenkundig, dass Anzeiger in der Vergangenheit
durch die Beschwerdeführer massiv belästigt und eingeschüchtert worden
sind", auf Grund der vorliegenden Akten übertrieben. Allerdings wird
die Auffassung, wonach schutzwürdige Interessen an der Wahrung der
Anonymität der Anzeiger vorgelegen hätten, jedenfalls nachträglich durch
den Eindruck eines Flugblattes bekräftigt, welches bei den Akten liegt. In
diesem Flugblatt geben die Beschwerdeführer nicht nur ihrer Auffassung
zum vorliegenden Fall Ausdruck, sondern sie meinen, auch noch Namen und
Adressen der ihnen inzwischen bekannt gewordenen Anzeiger öffentlich
bekanntmachen zu müssen. Dabei wird unter anderem festgehalten, dass
es sich bei den Anzeigern um "protektionierte Neuzuzüger" handle und
dass die Anzeigen "die erbärmliche Grundlage für derartige behördliche
Schikanen" ergäben.

    Es fragt sich, ob die vom Bezirksgericht befürchteten Repressalien
einen Verzicht auf Zeugenbefragung bzw. ein Abstellen auf schriftliche
anonymisierte Aussagen im Strafurteil rechtfertigen können.

    b) Den kantonalen Instanzen ist insoweit zuzustimmen, als
es grundsätzlich möglich sein muss, die Anonymität von Zeugen,
Auskunftspersonen, Anzeigern und anderen Gewährspersonen im Falle
von überwiegenden schutzwürdigen Interessen zu wahren. Es ist dabei
insbesondere an die Problematik von Prozessen im Umfeld des organisierten
Verbrechens und des Terrorismus, an den sachgerechten Einsatz von Methoden
der verdeckten Fahndung ("V-Männer") oder an die Persönlichkeitsrechte
der Opfer von Sittlichkeitsverbrechen zu denken (vgl. GÜNTER HEINE, Der
Schutz des gefährdeten Zeugen im schweizerischen Strafverfahren, ZStrR 109
[1992] 53 ff.; HANS BAUMGARTNER, Zum V-Mann-Einsatz, Diss. ZH 1990; ERNST
R. GNÄGI, Der V-Mann-Einsatz im Betäubungsmittelbereich, Bern 1992; ANDREAS
DONATSCH, Die Anonymität des Tatzeugen und der Zeuge vom Hörensagen, ZStrR
104 [1987] 397 ff.; MARC FORSTER, Die Verwertbarkeit der Zeugenaussagen
von Drogensüchtigen, AJP 1992/8, S. 987 ff.; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge
des st. gallischen Strafprozessrechts, St. Gallen 1988, S. 147; NIKLAUS
SCHMID, Strafprozessrecht, Zürich 1989, N 632; vgl. auch BGE 112 Ia 24
E. 5). Die Respektierung solcher schutzwürdiger Interessen darf indessen
nicht zu einer rechtsstaatlich untragbaren Schmälerung elementarer
Verfahrensrechte des Angeschuldigten führen. Wenn sich die Behörden der
Strafjustiz beweisrechtlich auf schriftliche Aussagen von Anzeigern oder
anderen Gewährspersonen stützen, muss es dem Angeschuldigten ermöglicht
bleiben, seine Verteidigungsrechte wirksam wahrzunehmen. Insbesondere
muss er in der Lage sein, die Glaubwürdigkeit der betreffenden Anzeiger
prüfen und nötigenfalls in Frage stellen zu können (EGMR vom 15. Juni
1992 i.S. Lüdi c. CH, Série A, vol. 238, Ziff. 47; vgl. auch ZR 85 [1986]
Nr. 55 sowie BGE 116 Ia 88 f. E. 3b).

    c) Falls Anzeiger als Zeugen befragt werden, hat der Angeschuldigte
das Recht, Ergänzungsfragen an die Belastungszeugen zu stellen
und allenfalls die Überzeugungskraft ihrer Aussagen zu erschüttern
(vgl. E. 2b). Grundsätzlich muss es dem Angeschuldigten auch möglich
sein, die Identität eines Zeugen zu erfahren, um dessen persönliche
Glaubwürdigkeit sowie allfällige Zeugenausschluss- und Ablehnungsgründe
(insbesondere Verwandtschaftsverhältnisse, persönliche Beziehungen
usw.) überprüfen zu können. Ein Abstellen auf Zeugenaussagen unter
Wahrung der Anonymität könnte allenfalls in besonderen begründeten
Ausnahmefällen und zur Wahrung überwiegender schutzwürdiger Interessen
möglich erscheinen. Aber auch anonymen Gewährspersonen gegenüber
muss der Angeschuldigte nach der Praxis des Bundesgerichtes und
der Rechtsprechungsorgane der Europäischen Menschenrechtskonvention
grundsätzlich sein Fragerecht ausüben können (EGMR vom 15. Juni 1992
i.S. Lüdi c. CH, Série A, vol. 238, Ziff. 47; EGMR vom 27. September
1990 i.S. Windisch c. A, Série A, vol. 186, Ziff. 26; unveröffentlichtes
Urteil des Bundesgerichtes vom 25. Juni 1990 i.S. E. P., E. 4a; vgl. auch
BGE 116 Ia 88 f. E. 3b). Falls der Strafrichter jedoch entgegen dem
Beweisantrag des Angeschuldigten auf eine Einvernahme von Anzeigern als
Belastungszeugen verzichtet und trotzdem auf deren schriftliche belastende
Aussagen abstellt, wird dem Angeschuldigten das Recht abgeschnitten,
entsprechende Ergänzungsfragen zu stellen und sich damit möglicherweise
zu entlasten. Vorliegend wurde den Angeschuldigten zudem auch noch die
Identität der Anzeiger vorenthalten. Überwiegende schutzwürdige Gründe
für eine derartige vollständige Anonymisierung des Beweisverfahrens
sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Die Anzeiger hatten gemäss
Akten auch keinerlei Geheimhaltung ihrer Identität beantragt. Überdies
muss sich der Richter gerade bei freier - und kritischer - Würdigung
der Beweise im klaren sein, dass formlose schriftliche Behauptungen
als Hauptbeweismittel eine äusserst schwache Basis für ein Strafurteil
darstellen (vgl. OBERHOLZER, aaO, S. 147).