Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 369



118 Ia 369

51. Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. November 1992 i.S. G. gegen
Appellationshof des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 152 OG; Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege.

    Bei der Abklärung, ob der Rechtsuchende im Sinne von Art. 152 OG
bedürftig sei, ist nicht nur sein den Zwangsbedarf übersteigendes
Einkommen, sondern auch allfälliges Vermögen angemessen zu
berücksichtigen. Dies setzt aber voraus, dass das Vermögen im Zeitpunkt
der Anhängigmachung des Prozesses oder mindestens bei der Gesuchstellung
bereits vorhanden resp. verfügbar ist und nicht erst nach Abschluss des
Prozesses realisiert werden kann (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Zwischen den Eheleuten K. und I. G.-F. ist ein Scheidungsprozess
hängig. Am 1. April 1992 reichte die Ehefrau ein Gesuch um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege ein, das vom Zivilamtsgericht Biel am
29. Juni 1992 abgewiesen wurde.

    Diesen Entscheid zog I. G.-F. an den Appellationshof des Kantons Bern
weiter, welcher den Rekurs am 5. August 1992 abwies.

    I. G.-F. legt beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde ein
und beantragt, der Entscheid des Appellationshofs sei aufzuheben, die
Vollstreckung der ihr auferlegten Gerichtskosten sei bis zum Entscheid
über die Beschwerde zu sistieren und es sei ihr für das Verfahren vor
Bundesgericht die unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen, wobei ihr
Fürsprecherin X. Z. als unentgeltlicher Rechtsbeistand zu bestellen sei.

    Der Appellationshof hat auf Gegenbemerkungen und auf einen Antrag
zur staatsrechtlichen Beschwerde verzichtet.

    Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut und hebt
den angefochtenen Entscheid auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts hat eine
bedürftige Person in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess
unmittelbar aufgrund von Art. 4 BV Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege
und auf Ernennung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, sofern sie
eines solchen zur gehörigen Wahrung ihrer Interessen bedarf (BGE 111 Ia 7
mit Hinweis; 112 Ia 15 mit Hinweisen; 115 Ia 194 mit Hinweisen). Mit der
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege soll auch einem bedürftigen
Rechtsuchenden der Zugang zum Gericht, allenfalls mit dem Beistand
einer rechtskundigen Person, ermöglicht werden (vgl. MESSMER/IMBODEN,
Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, S. 211). Indem der
Appellationshof die Prozessarmut der Beschwerdeführerin verneint, verstösst
er in verschiedener Hinsicht gegen diesen Grundsatz.

    a) Der Appellationshof geht an sich vom zutreffenden Grundsatz aus,
dass das Einkommen dem zivilprozessualen Zwangsbedarf gegenüberzustellen
und allfälliges Vermögen angemessen zu berücksichtigen sei. Indessen
unterlässt er es, festzustellen, dass ein den Zwangsbedarf ausreichend
übersteigendes Einkommen der Beschwerdeführerin gar nicht vorhanden
ist. Die erste kantonale Instanz hat festgestellt, dass bei Anrechnung
eines Teils der Kinderalimente für die Wohnkosten nur gerade Fr. 150.--
über dem Existenzbedarf verbleiben - ein offensichtlich ungenügender
Betrag, um Gerichts- und Anwaltskostenvorschüsse innert angemessener
Frist bezahlen zu können.

    b) Auch die Berücksichtigung von Vermögen setzt voraus, dass solches
im Zeitpunkt der Anhängigmachung des Prozesses oder im Zeitpunkt des
Gesuchs überhaupt vorhanden ist. Das trifft im vorliegenden Fall ganz
offensichtlich nicht zu, sagt doch der Appellationshof selbst, die
Beschwerdeführerin habe aus Güterrecht Fr. 42'750.-- zugute, und ergibt
sich aus der Konvention, dass jedenfalls die Fr. 30'000.-- Eigengut
erst per Scheidungstermin zurückzuzahlen sein werden. Nun ist aber der
Scheidungsprozess erst anhängig gemacht und ist noch nicht abzusehen, wann
der Güterrechtsanspruch überhaupt fällig wird. Nachdem sich weder aus den
Akten noch aus den Entscheiden der beiden kantonalen Instanzen ergibt,
dass auf allfällige sofort zu bezahlende Vorschüsse von Gerichtskosten
zugunsten einer späteren Nachforderung verzichtet worden wäre, wird der
Beschwerdeführerin der von Art. 4 BV gewährleistete Zugang zum Gericht
erschwert oder gar verunmöglicht. Bereits unter diesem Gesichtspunkt
erweist sich die Berücksichtigung des Betrags von Fr. 30'000.-- jedenfalls
im jetzigen Zeitpunkt als unhaltbar. Es braucht deshalb nicht geprüft
zu werden, ob dieser Betrag - wie die Beschwerdeführerin geltend macht -
als eine Art "gebundenes" Vermögen zu betrachten wäre, das für die Alters-
und Invaliditätsvorsorge reserviert zu bleiben hätte.

    c) Soweit der Appellationshof auf zusätzliche Fr. 12'750.--
abgestellt hat, ist nicht ersichtlich, woher dieser Betrag stammen
soll. Aus Ziff. 7 der Ehescheidungskonvention ergibt sich lediglich ein
interner Anrechnungswert von Fr. 320'000.-- für den hälftigen Anteil
der Beschwerdeführerin an der ehelichen Liegenschaft. Es ist aber im
gegenwärtigen Zeitpunkt völlig offen, ob und wann die Ehefrau ihren Anteil
an der stark verschuldeten ehelichen Liegenschaft und in welchem Betrag
überhaupt je zu realisieren vermag. Auf diesen Vermögenswert bereits heute
abzustellen und mit seiner Berücksichtigung das Armenrecht zu verweigern,
ist völlig unbegreiflich.

    d) Der Appellationshof hat auch noch auf Ziff. 7 Abs. 1 der Konvention
hingewiesen. Dort verpflichtet sich der Ehemann, seiner Frau bezüglich
der Aufteilung des Mobiliars, des Autowerts sowie der Weinsammlung bis
spätestens zum Hauptverhandlungstermin noch Fr. 5'200.-- zu bezahlen. Es
wäre dies demnach ein grundsätzlich sofort zu realisierender Vermögenswert,
der "angemessen" berücksichtigt werden könnte. Die Beschwerdeführerin
hält diesem Argument jedoch entgegen, sie habe dieses Geld für die
Anschaffung von nötigen Möbeln bereits aufgewendet. Diese neue Behauptung
muss zugelassen werden, ist doch von diesem Geldbetrag erstmals im
angefochtenen Entscheid die Rede und hatte die Beschwerdeführerin somit
keinen Anlass, dazu allenfalls im kantonalen Rekursverfahren Stellung zu
nehmen. Wäre es aber zutreffend, dass dieser Betrag bereits aufgebraucht
ist - was erfahrungsgemäss wohl stimmen dürfte, aber zumindest hätte
abgeklärt werden müssen -, so liesse er sich nicht mehr für Gerichts- und
Anwaltskosten verwenden. Ausserdem ist der Ehemann lediglich verpflichtet,
diesen Betrag bis zum Hauptverhandlungstermin zu bezahlen. Auch unter
diesem Gesichtspunkt erweist sich daher die Beschwerde als begründet.