Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 331



118 Ia 331

45. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10.
September 1992 i.S. Ehegatten S. und Mitb. gegen Einwohnergemeinde
Niederried und Regierungsrat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK; kantonale Organisations- und Verfahrenshoheit.

    Das Recht des Einzelnen auf einen unabhängigen Richter, der
Nutzungspläne, soweit sie einen Enteignungstitel schaffen, umfassend auf
ihre Rechtmässigkeit überprüfen kann, ist bundesrechtlich verbindlich
und rechtfertigt einen Eingriff in die kantonale Organisations- und
Verfahrenshoheit durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtes selbst dann,
wenn es die Stimmberechtigten des Kantons im Rahmen einer Gesetzesrevision
abgelehnt haben, die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen solche
Pläne zuzulassen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Vom 21. November bis 23. Dezember 1988 lag in der Gemeinde
Niederried eine Uferschutzplanung öffentlich auf. Das Planwerk
besteht aus dem Uferschutzplan, Überbauungsvorschriften und einem
Realisierungsprogramm. Die Uferschutzplanung stützt sich auf das kantonale
Gesetz über See- und Flussufer vom 6. Juni 1982 (See- und Flussufergesetz,
SFG) und legt Uferschutzzonen, Baubeschränkungen und allgemein benützbare
Freiflächen fest. Weiter ist der Bau eines Uferweges geplant. Gegen dieses
Werk erhoben mehrere betroffene Eigentümer Einsprache. Am 14. April 1989
beschloss die Gemeindeversammlung von Niederried die Uferschutzplanung,
welche von der Baudirektion des Kantons Bern mit Beschluss vom 14. Mai
1990 unter Vornahme einzelner Änderungen genehmigt wurde. Die gegen diesen
Genehmigungsbeschluss geführten Beschwerden wies der Regierungsrat des
Kantons Bern am 16. Oktober 1991 ab.

    Mit staatsrechtlichen Beschwerden verlangen die Einsprecher die
Aufhebung des regierungsrätlichen Entscheides vom 16. Oktober 1991. Sie
berufen sich namentlich auf eine Verletzung von Art. 4 und 22ter BV. Sodann
rügen sie, Art. 6 Ziff. 1 EMRK werde verletzt, und sie führen an, mit
der umstrittenen Uferschutzplanung werde der Gemeinde Niederried das
Enteignungsrecht erteilt; sie hätten einen Anspruch darauf, dass ihre
Sache von einem Richter gehört werde, dem eine umfassende Rechtskontrolle
zustehe.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) (Vereinigung sämtlicher Beschwerden; vgl. Art. 40 OG in
Verbindung im Art. 24 BZP; BGE 113 Ia 394 E. 1.)

    b) (Keine Verletzung des Anspruches auf rechtliches Gehör nach
Art. 4 BV, wenn einer Partei die Einsicht in Akten eines abgeschlossenen
Verfahrens verweigert wird, sofern die umfassende Wahrung der Rechte
eines Bürgers eine Akteneinsicht nicht gebietet; vgl. BGE 113 Ia 4 E. 4a
mit Hinweisen.)

Erwägung 2

    2.- (Letztinstanzlichkeit. Rechtsmittel im Kanton Bern, Überweisung
an das Berner Verwaltungsgericht (dazu eingehend BGE 118 Ia 214).)

Erwägung 3

    3.- a) Die Beschwerdeführer H. wenden in ihrer Vernehmlassung vom
24. August 1992 gegen dieses Vorgehen ein, im Rahmen der in den Jahren
1988 und 1989 beratenen und beschlossenen Revision des bernischen
Verwaltungsrechtspflegegesetzes sei nicht zuletzt mit Blick auf BGE
114 Ia 114 betreffend Schiessanlage "Grafeschüre" in Burgdorf die
Frage diskutiert worden, ob die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde
gegen Pläne, mit deren Genehmigung dem Gemeinwesen das Enteignungsrecht
erteilt wird, zugelassen werden solle. Der bernische Grosse Rat habe
dies in zwei Lesungen ausdrücklich abgelehnt. Daraus folge, dass das
Verwaltungsrechtspflegegesetz zu dieser Frage eine bewusste Lücke
aufweise. Es liege ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers vor,
welches nicht durch Richterrecht gebrochen werden dürfe. Ein Urteil des
Verwaltungsgerichtes über eine Beschwerde gegen einen Plan, mit dessen
Genehmigung das Enteignungsrecht erteilt werde, sei demzufolge nichtig.

    Weiter sei zu beachten, dass eine Rückweisung der vorliegenden Sache
an das Verwaltungsgericht viele Fragen offen lasse. Einerseits könne nicht
gesagt werden, dass der bernische Gesetzgeber - könnte er frei entscheiden
- Beschwerden gegen die erwähnten Pläne dem Verwaltungsgericht zuweisen
würde; er könne auch ein Spezialgericht schaffen. Anderseits schaffe
eine Rückweisung an das Verwaltungsgericht das Problem, dass nach Art. 6
Ziff. 1 EMRK die richterliche Überprüfung nur im Enteignungspunkt, nicht
aber betreffend den umstrittenen Plan generell vorgeschrieben sei, was
für das Verwaltungsgericht unhaltbare Abgrenzungsprobleme biete. Offen
sei die Frage der Überprüfung von Enteignungstiteln in umfassenden
Ortsplanungen. Einer eingehenden Regelung bedürfe sodann die Überprüfung in
Plänen nach der Unterscheidung materieller und formeller Enteignung. Die
Rüge der Unangemessenheit könne vor Verwaltungsgericht nicht vorgebracht
werden (Art. 80 VRPG). Auch fehlten klare Bestimmungen über das Verfahren
vor dem Verwaltungsgericht. Die Beschwerdeführer wüssten nicht, welche
Rügen sie erheben dürfen und welche nicht.

    Schliesslich müssten nicht nur das Verwaltungsrechtspflegegesetz,
sondern namentlich auch das kantonale Baugesetz und das
Enteignungsgesetz geändert werden. Die Einführung der kantonalen
Verwaltungsgerichtsbeschwerde bedinge eine formelle Gesetzesänderung,
die nur dem Stimmvolk zustehe. Ein Urteil des Verwaltungsgerichtes in der
hier vorliegenden Streitsache würde demgemäss die politischen Rechte der
Beschwerdeführer verletzen.

    b) Diese Einwendungen sind unbegründet. Es trifft zwar zu, dass
die Anwendung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK zur Folge haben kann, dass
in die kantonale Organisations- und Verfahrensautonomie eingegriffen
wird. Doch ist diese Autonomie nicht unbeschränkt. Wie das Bundesgericht
im bereits mehrfach erwähnten BGE 118 Ia 214 in Erw. 1c ausführte, zählt
der von Art. 6 Ziff. 1 EMRK verlangte gerichtliche Rechtsschutz zu den
verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bundesrechts, denen die Kantone
Rechnung zu tragen haben. Es gilt insoweit grundsätzlich nichts anderes
als etwa mit Bezug auf die Anforderungen an das kantonale Verfahren,
soweit diese aus Art. 4 und 58 BV abgeleitet werden (PETER SALADIN in
Kommentar BV, Art. 3, Rz. 245). Das Recht auf einen unabhängigen Richter,
der Pläne, soweit sie einen Enteignungstitel schaffen, umfassend auf
ihre Rechtmässigkeit überprüfen kann, ist hoch zu werten, zumal es für
den Betroffenen zu einer klaren Verbesserung des Rechtsschutzes führt,
was einen Eingriff in die Organisationshoheit der Kantone rechtfertigt
(vgl. PETER SALADIN, aaO, Rz. 105). Unter diesen Umständen hat sich das
Verwaltungsgericht zu Recht bereit erklärt, die vorliegenden Beschwerden
an die Hand zu nehmen. Allein deshalb kann somit nicht gesagt werden,
sein Urteil werde nichtig sein, wie dies die Beschwerdeführer H. meinen.

    Der Bundesgesetzgeber hat verschiedentlich im Bereich des
Verfahrensrechtes in die Souveränitätsrechte der Kantone eingegriffen. Zu
denken ist etwa an Art. 98a Abs. 1 OG gemäss Änderung des Bundesgesetzes
über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 4. Oktober 1991,
nach welcher Bestimmung die Kantone richterliche Behörden als letzte
kantonale Instanzen bestellen, soweit gegen deren Entscheide unmittelbar
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig ist. Sodann ist insbesondere
auf Art. 33 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979
(Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700) hinzuweisen. In einem den Kanton Luzern
betreffenden Fall hat das Bundesgericht in Anwendung von Art. 33 RPG das
Verwaltungsgericht mangels einer anderen in Frage kommenden unabhängigen
Beschwerdebehörde im Sinne von Art. 33 RPG direkt verpflichtet, auf
Beschwerden gegen vom Regierungsrat festgesetzte Nutzungspläne einzutreten,
obwohl die Luzerner Baugesetzgebung Planungen von der Kontrolle durch
das Verwaltungsgericht ausdrücklich ausnimmt (nicht veröffentlichtes
Urteil des Bundesgerichtes vom 31. Oktober 1990 i.S. Z. und Mitb. gegen
Regierungsrat des Kantons Luzern, E. 3d).

    Es ist richtig, dass Eingriffe in die Organisationshoheit der
Kantone seitens des Bundes grundsätzlich den kantonalen Stimmbürger
binden. Doch wird dadurch seine Mitwirkung trotzdem nicht völlig
ausgeschaltet (vgl. dazu etwa Art. 98a Abs. 2 OG in der Fassung vom
4. Oktober 1991). Es ist namentlich denkbar, dass der Kanton Bern für
die Überprüfung von Plänen, die das Enteignungsrecht erteilen, ein
besonderes Gericht schafft und dafür die nötigen Verfahrensbestimmungen
erlässt. Auch hat der Kanton Bern zu prüfen, ob einzelne Bestimmungen der
Bau-, Enteignungs- und Verfahrensgesetzgebung entsprechend der neueren
Rechtsprechung des Bundesgerichtes anzupassen sind. Die Beschlussfassung
über die entsprechenden Änderungen steht im Rahmen des die politischen
Rechte regelnden kantonalen (Verfassungs-)Rechts dem Stimmbürger
zu. Dies steht einer Entgegennahme der vorliegenden Beschwerden durch
das Verwaltungsgericht gestützt auf die bundesrechtliche Norm des Art. 6
Ziff. 1 EMRK ebensowenig entgegen wie im vorerwähnten, den Kanton Luzern
betreffenden Fall, in welchem es um die Anwendung des Art. 33 RPG ging,
zumal sich der Regierungsrat des Kantons Bern mit diesem Vorgehen - wie
erwähnt - im Interesse einer Verbesserung des Rechtsschutzes der Privaten
ausdrücklich einverstanden erklärt hat.

    Auch den weiteren geäusserten Bedenken ist nicht zu folgen. Entgegen
der Auffassung der Beschwerdeführer bestehen klare Regeln für das
Verfahren vor dem Verwaltungsgericht; soweit diese verletzt werden, steht
den Beschwerdeführern der Rechtsschutz zu. Was die Frage der zulässigen
Rügen betrifft, kann auf die vorstehende Erw. 2d und auf die nachstehende
Erw. 4 verwiesen werden. Abgrenzungsprobleme bei der Überprüfung der
umstrittenen Planung sind nicht zu sehen. Das Verwaltungsgericht hat
entsprechende Befürchtungen zu Recht auch nicht geäussert. Dieses hat
die Planung entsprechend den Einwendungen der Beschwerdeführer einer
umfassenden Rechtskontrolle zu unterziehen und dabei namentlich zu prüfen,
ob die für den Eigentumseingriff geltend gemachten öffentlichen Interessen
die privaten überwiegen.