Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 28



118 Ia 28

6. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
20. Mai 1992 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und
Kassationsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Verwertbarkeit von Zeugenaussagen
bei Drogensüchtigen unter Entzug).

    Das Abstellen auf eine belastende Zeugenaussage trotz schwerwiegender
medizinischer oder psychologischer Zweifel an der Einvernahmefähigkeit
des Zeugen kann gegen Art. 4 BV verstossen. Im vorliegenden Fall wurde
die Notwendigkeit weiterer Beweiserhebungen bejaht. Die drogensüchtige
Zeugin litt bei der untersuchungsrichterlichen Einvernahme nicht nur
unter akutem Drogenentzug, sie stand zusätzlich unter dem Einfluss von
starken Medikamenten.

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil der II. Abteilung des Bezirksgerichtes Zürich vom
28. März 1990 wurde B. der qualifizierten Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz, der Anstiftung zur Nötigung, der versuchten
Anstiftung zu falscher Zeugenaussage, des Verweisungsbruches sowie der
Widerhandlung gegen das ANAG schuldig gesprochen und mit vier Jahren
Zuchthaus bestraft, lebenslänglich des Landes verwiesen sowie verpflichtet,
den unrechtmässig erlangten Vermögensvorteil von Fr. 20'000.--
abzuliefern. Auf Berufung hin sprach ihn die II. Strafkammer des
Obergerichtes des Kantons Zürich am 5. Oktober 1990 von der Anklage
der Anstiftung zur Nötigung und der versuchten Anstiftung zu falscher
Zeugenaussage frei, während es das Urteil bezüglich der übrigen
Schuldsprüche und der Sanktionen bestätigte. Eine dagegen erhobene
kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht des Kantons
Zürich mit Urteil vom 24. Juni 1991 ab.

    Gegen das Urteil des Kassationsgerichtes gelangte B. mit
staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV und Art. 6
Ziff. 2 EMRK an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des
angefochtenen Urteils. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Die kantonalen Instanzen haben bei der Verurteilung des
Beschwerdeführers belastende Zeugenaussagen berücksichtigt, welche Frau
L. in Anwesenheit des Beschwerdeführers am 16. November 1989 zu Protokoll
gegeben hatte. Nachdem die Zeugin am gleichen Tag schon seit knapp drei
Stunden untersuchungsrichterlich befragt worden war, gab sie zu Protokoll,
es gehe ihr gesundheitlich schlecht, sie sei seit dem Morgen auf Entzug
und habe "bloss drei Seresta bekommen". Unbestritten ist, dass die schwer
drogensüchtige L. seit dem Morgen des 16. Novembers 1989 unter akutem
Drogenentzug litt, im Zeitpunkt der Einvernahme seit rund acht Stunden
nichts gegessen hatte und dass sie vom begleitenden Polizeibeamten
im Hinblick auf die Einvernahme drei Tabletten des Beruhigungsmittels
"Seresta" erhalten und diese eingenommen hatte. Ausserdem sei die Zeugin
bei der Einvernahme von demjenigen Polizeibeamten begleitet worden,
der die Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer geleitet hat.

    b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes verfällt eine Behörde in
Willkür, wenn sie ihrem Entscheid Tatsachenfeststellungen zugrunde legt,
die mit den Akten in klarem Widerspruch stehen (BGE 114 Ia 27 f. E. 3b,
218 E. 2a; 113 Ia 20 E. 3a mit Hinweisen). Im Bereich der Beweiswürdigung
besitzt der Richter allerdings einen weiten Ermessensspielraum. Das
Bundesgericht greift auf staatsrechtliche Beschwerde hin nur ein, wenn
die Beweiswürdigung offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen
Situation in klarem Widerspruch steht, auf einem offenkundigen Versehen
beruht oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft
(BGE 117 Ia 106 E. b, 139 E. c; 116 Ia 88 E. 2b; 116 II 29 E. 5; 114
Ia 27 f. E. 3b; 105 Ia 190 f.). Willkürlich ist insbesondere eine
Beweiswürdigung, welche einseitig einzelne Beweise berücksichtigt (BGE
112 Ia 371 E. 3 mit Hinweis), oder die Abweisung einer Klage mangels
Beweisen, obwohl die nicht bewiesenen Tatsachen aufgrund der Vorbringen
und des Verhaltens der Parteien eindeutig zugestanden sind (BGE 113 Ia
435 f. E. 4). Soweit mit Hinweis auf das Prinzip der Unschuldsvermutung
lediglich die richterliche Beweiswürdigung angefochten werden soll,
hat dieses Prinzip keine über Art. 4 BV hinausgehende Bedeutung. Der in
Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerte Grundsatz "in dubio pro reo" besagt in
diesem Zusammenhang lediglich, dass bis zum gesetzlichen Nachweis seiner
Schuld vermutet wird, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte
unschuldig ist (BGE 116 IV 39 E. 5a).

    c) Zeugenaussagen im Strafverfahren zählen nicht zu den zuverlässigsten
Beweismitteln. Auf ein Zeugnis darf nur abgestellt werden, wenn
feststeht, dass der Zeuge zur wahrheitsgemässen Darstellung sowohl
willens als auch fähig war (unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes
vom 21. Januar 1991 i.S. K. M., E. 3b, cc). Gerade die Aussagen von
Belastungszeugen sind mit Vorsicht zu würdigen (vgl. ROLF BENDER,
Die häufigsten Fehler bei der Beurteilung von Zeugenaussagen, SJZ 81
(1985) S. 53 f.). Wichtig für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines
Zeugen ist dessen geistige und körperliche Verfassung. Dabei sind auch
pathologische Zustände, Frische und Ermüdung, emotionale Affekte oder
psychische Einstellungen zu beachten. Nach der Praxis des Bundesgerichtes
gelten Menschen mit geistigen Störungen insoweit als zeugentüchtig,
als ihre Wahrnehmungsfähigkeit dadurch nicht beeinträchtigt wird
(unveröffentlichtes Urteil vom 25. April 1984 i.S. H. E., E. 2). Zu
den psycho-physischen Voraussetzungen der Zeugnisfähigkeit gehören
insbesondere die Erinnerungs- und Wiedergabefähigkeit im Zeitpunkt
der Aussage (vgl. ROBERT HAUSER, Der Zeugenbeweis im Strafprozess
mit Berücksichtigung des Zivilprozesses, Zürcher Schriften zum
Verfahrensrecht, Bd. 5, Zürich 1974, S. 64; RICHARD REBMANN, Die
Prüfung der Glaubwürdigkeit des Zeugen im schweizerischen Strafprozess,
Diss. BS 1981, S. 5 f., 91 f.). Beachtung gebührt gegebenenfalls dem
Einfluss von Drogen. Besondere Zurückhaltung ist angebracht gegenüber
Aussagen von Rauschgiftsüchtigen, die unter Entzugserscheinungen
leiden. "In diesem Stadium - das schon nach sehr langer Wartezeit im
Zeugenzimmer eintreten kann - leiden Wahrnehmungs-, Konzentrations- und
Wiedergabefähigkeit" (BENDER/RÖDER/NACK, Tatsachenfeststellung vor Gericht,
Bd. II Vernehmungslehre, München 1981, S. 183; vgl. auch REBMANN, aaO,
S. 98). Schliesslich sind nach herrschender Auffassung Einvernahmemethoden,
die das Bewusstsein des Zeugen ausschalten, wie etwa die Narkoanalyse,
ausgeschlossen (vgl. PETER NOLL, Strafprozessrecht, Zürich 1977, S. 66;
NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, Zürich 1989, N 625; NIKLAUS OBERHOLZER,
Grundzüge des st. gallischen Strafprozessrechts, St. Gallen 1988,
S. 145/135 f.; REBMANN, aaO, S. 17). Gemäss Ziff. 46.5 der Weisungen der
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich an die Bezirksanwaltschaften aus
dem Jahre 1983 ist auch die Verabreichung von Alkohol oder Medikamenten
bei Einvernahmen grundsätzlich unzulässig (vgl. SCHMID, aaO, N 625).

    Erscheint dem Richter die Glaubwürdigkeit einer wichtigen Zeugenaussage
aufgrund besonderer Umstände zweifelhaft, hat er weitere Beweise zu deren
Klärung zu erheben. Als zusätzliches Beweismittel bietet sich die Einholung
eines medizinischen oder psychologischen Sachverständigengutachtens
an (BGHSt 13, 297; vgl. HAUSER, aaO, S. 320 ff.; REBMANN, aaO, S. 44
ff.). Gemäss ROBERT HAUSER drängt sich die Mitwirkung von Sachverständigen
insbesondere auf bei Anzeichen ernsthafter geistiger Störungen, welche
die Aussageehrlichkeit des Zeugen beeinträchtigen könnten, oder falls
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Zeuge einer Beeinflussung durch
Drittpersonen ausgesetzt ist (vgl. a.a. O., S. 321). Das Abstellen auf
eine unglaubwürdige Zeugenaussage bzw. der Verzicht auf den gebotenen
Beizug einer Expertise zur Beurteilung schwerwiegender medizinischer
oder psychologischer Zweifel an der Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage
kann einen Verstoss gegen Art. 4 BV beinhalten (vgl. HAUSER, aaO, S. 322;
REBMANN, aaO, S. 44). Aufgabe des Richters bleibt es aber, die Schlüsse
des Experten kritisch zu prüfen und diese bei der Würdigung der fraglichen
Zeugenaussage und der übrigen Beweisergebnisse mitzuberücksichtigen.

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer macht geltend, angesichts der
Begleitumstände der Einvernahme vom 16. November 1989 und des damaligen
Gesundheitszustandes der Zeugin L. (insbesondere des akuten Drogenentzuges
und der gleichzeitigen Verabreichung von starken Beruhigungsmitteln
auf nüchternen Magen) hätten die betreffenden Aussagen nicht gegen ihn
verwertet werden dürfen. Da sich der gegen ihn gefällte Schuldspruch aber
auf diese Zeugenaussagen stütze, seien Art. 4 BV sowie Art. 6 Ziff. 2
EMRK (Willkürverbot, faires Verfahren, Unschuldsvermutung) verletzt. Der
angefochtene Entscheid erachtet es demgegenüber als zulässig, auf die
belastenden Aussagen der Zeugin L. vom 16. November 1989 abzustellen. Es
ergebe sich aus den Akten nämlich nicht, dass der fragliche Zustand der
Zeugin "dem befragenden Untersuchungsbeamten überhaupt bekannt war und in
diesem Sinne bei der Befragung ausgenützt werden konnte". Auch sei eine
Willensbeeinflussung oder eine wesentliche gesundheitliche Beeinträchtigung
der Zeugin, "soweit es sich aus dem Einvernahmeprotokoll ergibt", nicht
ersichtlich.

    b) Für die Frage, inwieweit das Gericht angesichts des
beeinträchtigten Gesundheitszustandes einer Belastungszeugin auf deren
Aussage abstellen darf, kann es weder allein auf die subjektive Sicht
des vernehmenden Untersuchungsbeamten ankommen, noch auf den Umstand,
ob sich die Einschränkung der Wahrnehmungs- oder Willensfreiheit aus
dem Einvernahmeprotokoll ergibt. Entscheidend für die Verlässlichkeit
und beweismässige Verwertbarkeit der Aussage ist vielmehr der damalige
objektive Gesundheitszustand und die tatsächliche Vernehmungsfähigkeit
der betreffenden Zeugin. Im vorliegenden Fall erheben sich in der
Tat schwerwiegende Zweifel, ob Frau L. am 16. November 1989 für eine
untersuchungsrichterliche Befragung als Zeugin einvernahmefähig war
bzw. ob ihre damalige Aussage als unbeeinflusst angesehen werden kann.

    Grundsätzlich ist es als bedenklich zu bezeichnen, wenn
drogenabhängigen Zeugen, die unter Entzugssymptomen leiden, vor der
Einvernahme Medikamente zur Beruhigung verabreicht werden. Solches liesse
sich allenfalls in dringenden Fällen und unter ärztlicher Aufsicht und
Kontrolle rechtfertigen. Falls hingegen davon ausgegangen werden muss,
dass ein Drogensüchtiger unter Entzug auch noch starke Medikamente
ohne ärztliche Aufsicht eingenommen hat, können seine in diesem Zustand
gemachten Aussagen, falls überhaupt, nur noch mit grosser Zurückhaltung
berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall kommt noch erschwerend
hinzu, dass der die Zeugin begleitende Polizist unbestrittenermassen
gleichzeitig mit Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer betraut war, was
die Gefahr einer Einflussnahme jedenfalls nicht ganz ausschliesst. Die
Erwägungen im angefochtenen Entscheid wären dahingehend zu präzisieren,
dass es sich nicht um irgendeinen begleitenden Polizeibeamten gehandelt
hat. Die vom gleichen Polizisten verabreichten Medikamente wurden
von der unter Entzugssymptomen leidenden Zeugin zudem auf nüchternen
Magen eingenommen. Gemäss Herstellerangaben ist die Dosierung von
Seresta "dem individuellen Ansprechen jedes einzelnen Patienten"
anzupassen. Drei Tabletten Seresta, enthaltend 45 mg Oxazepam, stellen
bereits eine relativ hohe Dosierung dar; 45-60 mg pro Tag wären nach
Herstellerangaben nämlich auf mehrere Einzeldosen zu verteilen. Sollten
gar drei Tabletten Seresta forte à je 50 mg Wirkstoff eingenommen worden
sein, läge darin gemäss Herstellerangaben bereits die zulässige tägliche
Höchstdosis, die indessen ebenfalls auf mehrere Einzeldosen verteilt
werden müsste. Bei Überempfindlichkeit gegenüber Benzodiazepinen wird
eine Kontraindikation von Seresta erwähnt. Schon für nicht zusätzlich
gesundheitlich beeinträchtigte Patienten wird ausserdem vor "Benommenheit
oder Schläfrigkeit" gewarnt; ebenso sind "Schwindel, Kopfschmerzen
und Ohnmachtsanfälle" möglich. Der Hersteller weist auch auf die
Gefahr weiterer unerwünschter Nebenwirkungen (wie "Teilnahmslosigkeit"
usw.) hin. Schliesslich wird noch ausdrücklich vor Interaktionen bei
gleichzeitiger Verabreichung von Seresta mit "Alkohol, Schlafmittel,
Tranquilizer, Antidepressiva etc." gewarnt, "da sich die hemmenden
zentralen Wirkungen gegenseitig verstärken können" (vgl. MORANT/RUPPANNER
(Hrsg.), Arzneimittel-Kompendium Schweiz 1991, S. 2103 f.).

    Schon aus der Sicht des medizinischen Laien liegt unter diesen
Umständen die Vermutung nahe, dass jedenfalls die kombinierte Wirkung
von Drogensucht, Entzugserscheinungen und einer starken Dosis von
Beruhigungsmitteln auf das Bewusstsein, die Wahrnehmungsfähigkeit und
die Willensbildung der Zeugin im vorliegenden Fall einen erheblichen
Einfluss gehabt haben könnte. Aus den Akten geht aber weder hervor,
welche Handelsform des Medikamentes Seresta ("Seresta", "Seresta
Expidet", "Seresta forte") der Zeugin verabreicht worden ist, noch wie
aus medizinischer Sicht das Risiko einer Bewusstseinstrübung bzw. einer
eingeschränkten Willensbildung beurteilt werden müsste.

    c) Nach dem Gesagten widerspricht es Art. 4 BV, auf die belastenden
Aussagen der Zeugin L. vom 16. November 1989 mit blossem Hinweis
darauf abzustellen, der Zustand der Zeugin sei dem einvernehmenden
Untersuchungsrichter nicht bekannt gewesen bzw. der Verdacht der fehlenden
Einvernahmefähigkeit sei nicht erstellt. Es wird im angefochtenen
Urteil auch eingeräumt, die Zeugin habe sich "in einem Zustand befunden
(...), der grundsätzlich geeignet ist, entsprechende Einschränkungen
zu bewirken". Falls die kantonalen Instanzen unter den vorliegenden
Umständen auf die betreffenden belastenden Aussagen abstellen wollten,
hätten sie vorgängig durch medizinische Expertise abzuklären, welchen
Einfluss die vom begleitenden Polizisten abgegebenen Tabletten auf die
Einvernahmefähigkeit der Zeugin im konkreten Fall hatten bzw. haben
konnten. Entsprechend dieser Beurteilung wären die Aussagen der Zeugin
neu zu würdigen, sofern sie überhaupt noch verwertbar erschienen. Bei
dieser Würdigung wäre auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der
gleiche Polizist die Zeugin anlässlich der Befragung vom 16. November
1989 begleitet hat, der auch mit Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer
betraut war. Nötigenfalls liesse sich auch prüfen, inwiefern neuerliche
ergänzende Einvernahmen möglich wären und angezeigt erschienen.