Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 271



118 Ia 271

37. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 15.
Oktober 1992 i.S. X. gegen Gemeinde Marthalen und Regierungsrat des
Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 85 lit. a und Art. 89 OG; Fristwahrung bei der Anfechtung von
Vorbereitungshandlungen zu Wahlen oder Abstimmungen.

    Stimmrechtsbeschwerden wegen Mängeln bei der Vorbereitung von Wahlen
und Abstimmungen müssen nur dann sofort im Anschluss an die entsprechende
Anordnung erhoben werden, wenn mangels zur Verfügung stehender kantonaler
Rechtsmittel direkt das Bundesgericht angerufen wird. Beurteilt die letzte
kantonale Instanz auch Mängel von Vorbereitungshandlungen, die nicht sofort
im Anschluss an die entsprechenden Anordnungen geltend gemacht wurden,
so können diese auch noch mit einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen
diesen Entscheid gerügt werden (E. 1; Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die "Zürcher Planungsgruppe Weinland" (ZPW) ist ein Zweckverband
der Gemeinden des Zürcher Weinlands. Sie erfüllt Aufgaben im Rahmen
der regionalen Richtplanung. Im Frühjahr 1990 waren in der Gemeinde
Marthalen die drei Delegierten in der ZPW für die Wahlperiode 1990-1994
zu wählen. Der Gemeinderat Marthalen entschied am 12. März 1990, dieses
Wahlgeschäft der Gemeindeversammlung vom 11. Mai 1990 vorzulegen, und
liess eine entsprechende Publikation in den amtlichen Anschlagkästen
der Gemeinde anbringen. Er gab darin ebenfalls bekannt, dass sich die
bisherigen Delegierten A. und B. einer Wiederwahl stellten, während der
Delegierte des Gemeinderats wegen des Rücktritts von C. neu bestellt werden
müsse. Der Gemeinderat werde einen Wahlvorschlag unterbreiten. Zugleich
wurde erwähnt, dass A. wiederum für den Vorstand des ZPW kandidieren
und dass er für den Fall seiner Wahl in den Vorstand als Delegierter
der Gemeinde Marthalen ausscheiden werde. Für diesen Fall stelle sich
D. erneut als Ersatzmann zur Verfügung. Schliesslich erfolgte ein
Hinweis darauf, dass weitere Wahlvorschläge, die bis zum 6. April 1990
beim Gemeinderat Marthalen eingingen, zusammen mit den bereits genannten
Namen der bisherigen Amtsträger und dem Kandidaten des Gemeinderats in der
Weisung an die Gemeindeversammlung aufgeführt würden. Innert Frist wurden
keine weiteren Wahlvorschläge eingereicht. Die Weisung vom 3. Mai 1990 an
die Gemeindeversammlung vom 11. Mai 1990 stimmte daher inhaltlich mit der
Publikation vom 12. März 1990 überein. Zusätzlich wurde E. als Vertreter
des Gemeinderats zur Wahl in die ZPW vorgeschlagen. Wie bereits in der
Wahlpublikation stand auch in der Weisung, dass an der Gemeindeversammlung
weitere Wahlvorschläge eingebracht werden könnten. Die Gemeindeversammlung
von Marthalen wählte am 11. Mai 1990 A., B. und E. als Delegierte der
Gemeinde Marthalen in der ZPW sowie D. als Ersatzdelegierten. X. hatte der
Gemeindeversammlung F. zur Wahl vorgeschlagen. Auf ihn entfielen aber nur
vereinzelte Stimmen. A. wurde am 27. Juni 1990 erneut in den Vorstand der
ZPW gewählt und schied damit als Delegierter der Gemeinde Marthalen aus.

    X. reichte gegen den Wahlbeschluss der Gemeindeversammlung Marthalen
eine Beschwerde beim Bezirksrat Andelfingen ein, mit welcher er das
Vorgehen des Gemeinderates Marthalen bei der Vorbereitung der Wahl der
Gemeindedelegierten rügte. Der Bezirksrat wies sein Rechtsmittel am
19. Juni 1990 ab. Der Regierungsrat des Kantons Zürich wies am 4. März
1991 eine Beschwerde gegen den Entscheid des Bezirksrats Andelfingen
ebenfalls ab.

    X. hat gegen den Entscheid des Regierungsrats vom 4. März 1992 eine
staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Er beantragt
die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und macht eine Verletzung der
politischen Rechte gemäss Art. 85 lit. a OG geltend.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gegenstand des angefochtenen Entscheids bildet die Frage, ob die
Wahl der Delegierten in die ZPW durch die Gemeindeversammlung Marthalen
die politischen Rechte des Beschwerdeführers verletze.

    a) Nach Art. 85 lit. a OG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden
betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend
kantonale Wahlen und Abstimmungen. Als kantonal gelten auch die Wahlen und
Abstimmungen in den Gemeinden (BGE 110 Ia 186 E. 3c; 108 Ia 39 E. 2; 105
Ia 369 E. 2). Die mit der vorliegenden Beschwerde beanstandete kommunale
Wahl kann daher mit einer Stimmrechtsbeschwerde nach Art. 85 lit. a OG
angefochten werden.

    b) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts ist jeder
stimmberechtigte Einwohner des eine Wahl oder Abstimmung durchführenden
Gemeinwesens legitimiert, eine Stimmrechtsbeschwerde zu erheben (BGE 116
Ia 364 E. 3a, 479 E. 1a; 114 Ia 264 E. 1b, 399). Der Beschwerdeführer ist
in der Gemeinde Marthalen stimmberechtigt. Er ist deshalb zur Erhebung
einer Stimmrechtsbeschwerde legitimiert.

    c) Nach Art. 89 Abs. 1 OG sind staatsrechtliche Beschwerden innert
dreissig Tagen seit der nach kantonalem Recht massgebenden Eröffnung oder
Mitteilung beim Bundesgericht zu erheben. Der Beschwerdeführer hat unter
Wahrung dieser Frist den Entscheid des Regierungsrats vom 4. März 1992
mit Stimmrechtsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten.

    Der Beschwerdeführer erhebt in seiner Stimmrechtsbeschwerde zwei
Vorwürfe. Einerseits hält er es für unzulässig, dass der Gemeinderat
Marthalen in der Wahlanordnung vom 12. März 1990 und der Weisung an die
Gemeindeversammlung vom 3. Mai 1990 die Namen von Kandidaten für die Wahl
der Delegierten in die ZPW genannt habe. Wahlvorschläge hätten nach seiner
Ansicht gemäss § 68 Ziff. 1 des Gesetzes über die Wahlen und Abstimmungen
vom 4. September 1983 (WG) nur an der Gemeindeversammlung vom 11. Mai
1990 selber gemacht werden dürfen. Anderseits beanstandet er die Wahl
von D. als Ersatzdelegierten durch die gleiche Gemeindeversammlung.

    Die beiden vom Beschwerdeführer kritisierten Punkte finden ihre
Grundlage in der Wahlanordnung des Gemeinderats vom 12. März 1990. Diese
wurde durch Anschlag an den dafür vorgesehenen Orten öffentlich
bekanntgemacht. Die in der Folge gegenüber der Delegiertenwahl erhobenen
Rügen sind nichts anderes als eine Konsequenz aus der Wahlanordnung vom
12. März 1990. Der Beschwerdeführer hat gleichwohl nur die Wahl selber
und nicht bereits die Wahlanordnung, welche als Vorbereitungshandlung
anzusehen ist (vgl. BGE 113 Ia 49 f.), angefochten. Es fragt sich, ob die
erst gegenüber dem Wahlergebnis erhobene Beschwerde nicht verspätet sei.

    d) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts beginnt die Frist
nach Art. 89 Abs. 1 OG bei Stimmrechtsbeschwerden, die sich gegen
Vorbereitungshandlungen zu einer Wahl oder Abstimmung richten, mit der
Eröffnung oder Mitteilung der entsprechenden Anordnung zu laufen. Diese
letztere bildet in einem solchen Fall das Anfechtungsobjekt der Beschwerde,
während die Wahl oder Abstimmung selber nur als Vollzugsakt der früheren,
mangelhaften Anordnung erscheint. Stimmrechtsbeschwerden, die sich
gegen Mängel bei der Vorbereitung von Wahlen oder Abstimmungen wenden,
müssen daher direkt im Anschluss an die Vorbereitungshandlung innert der
dreissigtägigen Frist gemäss Art. 89 Abs. 1 OG eingereicht werden. Der
Stimmberechtigte, der dies unterlässt, kann allfällige Mängel im Vorfeld
einer Wahl oder Abstimmung nicht mehr im Anschluss an deren Ergebnis
geltend machen (BGE 113 Ia 50 E. 1c; 110 Ia 178 E. 2a; 106 Ia 198 E. 2c).

    Diese Praxis bezweckt, dass Mängel möglichst noch vor der Wahl
oder Abstimmung behoben werden können und diese nicht wiederholt zu
werden braucht. Eine Pflicht zur sofortigen Anfechtung der beanstandeten
Vorbereitungshandlung rechtfertigt sich zudem deshalb, weil es mit Treu
und Glauben nicht zu vereinbaren wäre, wenn ein Beschwerdeführer wegen
eines Mangels, den er zunächst widerspruchslos hingenommen hat, hinterher
die Wahl oder Abstimmung anfechten könnte, wenn deren Ergebnis seinen
Erwartungen nicht entspricht (BGE 110 Ia 179 f.; vgl. auch CHRISTOPH
HILLER, Die Stimmrechtsbeschwerde, Diss. Zürich, 1990, S. 323 f.).

    e) Diese Grundsätze betreffen allein die Frage, wann die Frist nach
Art. 89 Abs. 1 OG zur Anfechtung eines letztinstanzlichen kantonalen
Akts mit einer Stimmrechtsbeschwerde beim Bundesgericht gewahrt
ist. Dagegen regelt das kantonale Recht, ob und innert welchen Fristen
gegen Vorbereitungshandlungen von Wahlen oder Abstimmungen kantonale
Rechtsmittel erhoben werden können. So ist es den Kantonen nicht verwehrt,
die Rüge von Mängeln bei der Vorbereitung von Wahlen oder Abstimmungen
auch noch mit einem Rechtsmittel gegen deren Ergebnis zuzulassen. Immerhin
fragt sich, ob aus der dargestellten Rechtsprechung nicht zu folgern ist,
dass auch derjenige das Recht zur Anfechtung der Wahl oder Abstimmung
mit Stimmrechtsbeschwerde nach Art. 85 lit. a OG beim Bundesgericht
verwirkt, der mögliche kantonale Rechtsmittel nicht im Anschluss an
Vorbereitungshandlungen ergreift, sondern erst gegen das Wahl- oder
Abstimmungsergebnis Beschwerde führt.

    In seiner veröffentlichten Praxis hat das Bundesgericht zu dieser
Frage noch nie Stellung genommen. Es finden sich in den publizierten
Entscheiden lediglich wenige Hinweise zu diesem Problemkreis (vgl. die
Zusammenstellung bei HILLER, aaO, S. 332 f.). In der nicht veröffentlichten
Erwägung 1b von BGE 112 Ia 233 ff. ging das Bundesgericht ohne nähere
Begründung davon aus, dass die zu Art. 89 Abs. 1 OG entwickelten Grundsätze
auch mit Bezug auf das kantonale Verfahren gelten würden. Es betrachtete
daher eine Stimmrechtsbeschwerde gegen einen Wahlbeschluss als verspätet,
weil die damit gerügte Verkürzung des Wahlrechts eine Konsequenz einer
vorangegangenen Wahlanordnung gewesen war, der Beschwerdeführer diese aber
nicht angefochten hatte. Es mass dabei der Tatsache keine entscheidende
Bedeutung zu, dass das kantonale Recht dem Bürger ein Rechtsmittel
zur Verfügung stellte, mit dem alle Mängel noch im Anschluss an das
Wahlergebnis geltend gemacht werden konnten. Die - soweit ersichtlich
- einzige Äusserung in der Literatur nimmt im gleichen Sinne Stellung
(HILLER, aaO, S. 334).

    Die Gründe, aus denen die Pflicht zur sofortigen Anfechtung
von Vorbereitungshandlungen zu Wahlen oder Abstimmungen mit
Stimmrechtsbeschwerde beim Bundesgericht folgt, können an sich auch für
das kantonale Rechtsmittelverfahren Geltung beanspruchen. Doch sind die
Kantone gestützt auf ihre Organisationsautonomie frei, anderen Erwägungen
- wie namentlich einem leicht zugänglichen Rechtsschutz im Bereich der
politischen Rechte - einen höheren Stellenwert zuzumessen. Soweit kantonale
Instanzen im Anschluss an das Wahl- oder Abstimmungsergebnis auch noch
Mängel von Vorbereitungshandlungen überprüfen, spielt auch keine Rolle,
dass der Wahlakt im Blick auf die vorangegangene Vorbereitungshandlung
unter Umständen lediglich einen Vollzugsakt darstellt. Streitgegenstand vor
der letzten kantonalen Instanz bilden in einem solchen Fall nämlich alle
Mängel im Zusammenhang mit der angefochtenen Wahl oder Abstimmung. Wie das
Bundesgericht bereits im Zusammenhang mit der Frage, ob eine Verletzung
von Art. 58 BV rechtzeitig gerügt worden sei, entschieden hat, ist auf
eine staatsrechtliche Beschwerde gegen einen letztinstanzlichen kantonalen
Entscheid einzutreten, der Rügen materiell behandelt, die nach den für
das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren geltenden Grundsätzen verspätet
wären (BGE 117 Ia 159 E. 1b).

    Aus diesen Erwägungen rechtfertigt es sich, die Rechtsprechung, nach
der Stimmrechtsbeschwerden wegen Mängeln bei der Vorbereitung von Wahlen
oder Abstimmungen sofort im Anschluss an die entsprechende Anordnung zu
erheben sind, nur dann anzuwenden, wenn mangels zur Verfügung stehender
kantonaler Rechtsmittel direkt das Bundesgericht angerufen wird. Wenn
dagegen zunächst der kantonale Rechtsmittelzug auszuschöpfen ist
(vgl. Art. 86 Abs. 1 OG), kann eine Stimmrechtsbeschwerde stets innert
dreissig Tagen gegen den letztinstanzlichen kantonalen Entscheid erhoben
werden. In diesem Fall spielt es für die Zulässigkeit der Beschwerdeführung
vor dem Bundesgericht keine Rolle, dass der Beschwerdeführer Mängel
bei der Vorbereitung von Wahlen oder Abstimmungen nicht sofort geltend
macht. Soweit die letzte kantonale Instanz entsprechende Rügen trotzdem
materiell prüft, können diese im Anschluss an deren Entscheid mit
Stimmrechtsbeschwerde auch vor Bundesgericht erhoben werden.

    Im vorliegenden Fall hat der Regierungsrat die vom Beschwerdeführer
beanstandeten Unregelmässigkeiten bei der Vorbereitung der Delegiertenwahl
materiell beurteilt. Dass der Beschwerdeführer mit der Wahlbeschwerde
gemäss § 123 lit. a WG bereits die Wahlanordnung vom 12. März 1990 als
Vorbereitungshandlung hätte anfechten können (vgl. ZBl 83/1982 346
f.), ist nach der dargelegten Präzisierung der Rechtsprechung nicht
entscheidend. Auf die Stimmrechtsbeschwerde ist einzutreten.