Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 241



118 Ia 241

34. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Juli 1992 i.S. M.
gegen M.-G. und Bezirksgerichtsausschuss X. (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 4 BV, überspitzter Formalismus, Nichteinhaltung der
Rechtsmittelfrist.

    Einer kantonalen gerichtlichen Behörde ist überspitzter Formalismus
vorzuwerfen, wenn sie eine Beschwerde, die rechtzeitig bei ihrem
Vizepräsidenten eingereicht worden ist, als verspätet betrachtet, weil
sie nicht mehr innert Frist an die zuständige Behörde weitergeleitet
werden konnte.

Sachverhalt

    A.- Am 29. April 1991 erliess der Präsident des Bezirksgerichts
X. gestützt auf das Gesuch von Beatrice M.-G. um Erlass vorsorglicher
Massnahmen im Sinne von Art. 145 ZGB eine Verfügung, in welcher er Franco
M. u.a. verpflichtete, während der Dauer des Scheidungsverfahrens an den
Unterhalt seiner Ehefrau und seiner beiden Kinder monatlich Fr. 2'000.-- zu
bezahlen. In diesem Verfahren hatte sich Franco M. nicht vernehmen lassen.

    Mit Eingabe vom 24. Juni 1991 ersuchte Franco M. um Herabsetzung
der Unterhaltsbeiträge für seine Familie auf höchstens Fr. 1'000.--
bis Fr. 1'200.-- monatlich mit der Begründung, er sei überschuldet
und folglich zu Mehrleistungen nicht in der Lage. Der Präsident des
Bezirksgerichts X. wies das Abänderungsgesuch von Franco M. mit Verfügung
vom 10. September 1991 ab. Diese Verfügung blieb unangefochten.

    Am 1. Oktober 1991 ersuchte Beatrice M.-G. das Bezirksgerichtspräsidium
X., den Arbeitgeber ihres Ehemannes anzuweisen, von dessen Lohn
Fr. 2'000.-- abzuziehen und ihr direkt zu überweisen. Diesem Gesuch wurde
mit Verfügung vom 11. Oktober 1991 entsprochen.

    B.- Mit Schreiben vom 31. Oktober 1991 beantragte Franco M. dem
Bezirksgerichtspräsidium, die Abänderungsverfügung vom 11. Oktober 1991
aufzuheben und die Anweisung an seinen Arbeitgeber auf maximal Fr. 1'660.--
pro Monat zu beschränken. Er verwies darauf, dass er die Beschwerdefrist
gemäss Art. 237 der Zivilprozessordnung des Kantons Graubünden (ZPO)
eingehalten habe, und ersuchte den Bezirksgerichtspräsidenten für den Fall,
dass dieser als für die Anordnung vorsorglicher Massnahmen zuständiger
Richter dem Abänderungsantrag nicht stattgeben wollte, das vorliegende
Schreiben im Sinne einer Beschwerde an den Bezirksgerichtsausschuss
weiterzuleiten.

    Der Bezirksgerichtsausschuss X. nahm zwar die Eingabe von Franco
M. vom 31. Oktober 1991 als Beschwerde entgegen, trat auf diese aber
wegen Verspätung mit Entscheid vom 31. Januar 1992 nicht ein.

    C.- Franco M. legt beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde
ein mit dem Antrag, der Entscheid des Bezirksgerichtsausschusses X. vom
31. Januar 1992 sei aufzuheben.

    Die Beschwerdegegnerin und der Vizepräsident des
Bezirksgerichtsausschusses X. schliessen auf Abweisung der
staatsrechtlichen Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- b) Der Bezirksgerichtsausschuss hat geprüft, ob der
Bezirksgerichtsvizepräsident, der unbestrittenermassen sachlich
unzuständig war, verpflichtet gewesen wäre, die Streitsache an die
zuständige Stelle, d.h. den Bezirksgerichtsausschuss weiterzuleiten. Er
hat festgehalten, dass das kantonale Recht keine ausdrückliche Regelung
zur Weiterleitungspflicht enthalte, ausgenommen Art. 22 Abs. 3, 79 und
93 ZPO, die in eng umrissenem Rahmen die Weiterleitung bei sachlicher
Unzuständigkeit des angerufenen Richters vorsähen. Die kantonale Praxis
habe aber eine solche Weiterleitungspflicht im Zivilprozess bezüglich
Rechtsmitteleingaben bejaht, die fälschlicherweise bei einer unzuständigen
Behörde eingereicht worden seien. Der Bezirksgerichtsausschuss verweist
auch auf die neuere Bundesgesetzgebung, die vorsehe, Eingaben und
Rechtsmittel, welche innert Frist bei einer unzuständigen Behörde
eingereicht werden, als rechtzeitig anzusehen und von Amtes wegen an die
zuständige Behörde weiterzuleiten.

    Dieser bis zum 15. Februar 1992 nur in den Art. 107 Abs. 2 OG und
Art. 21 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 VwVG enthaltene Grundsatz
ist vom Bundesgericht im Zusammenhang mit der staatsrechtlichen Beschwerde
nur insoweit übernommen worden, als die Rechtzeitigkeit dann bejaht
worden ist, wenn dieses Rechtsmittel vor Ablauf der Beschwerdefrist beim
Bundesgericht eingelangt oder von der kantonalen Behörde wenigstens
vor Ablauf der Frist der Post übergeben worden war (BGE 103 Ia 54
mit Hinweisen; vgl. auch BGE 112 II 368 E. 2). Diese Rechtsprechung
stützte sich auf Art. 32 Abs. 3 OG in der alten Fassung, die keine
andere Interpretation zuliess. Unter diesem Gesichtspunkt könnte dem
Bezirksgerichtsausschuss, der ähnlich argumentiert, zumindest nicht
leichthin willkürliche Anwendung kantonalen Rechts oder willkürliche
Beachtung der kantonalen Praxis vorgeworfen werden.

    c) Nun hat aber auch das Bundesgericht in dem vom Beschwerdeführer
zitierten Entscheid, BGE 103 Ia 55, darauf hingewiesen, dass die
genannte Regel des Bundesrechts nicht mehr zeitgemässer Auffassung
entspreche. Dieses Urteil hat denn auch Anlass zur Revision von
Art. 32 Abs. 3 OG gegeben, der nach Ansicht des Bundesgerichts kaum mehr
befriedigte. Im neuen Absatz 4 dieser Bestimmung wird nunmehr vorgesehen,
dass - unter Vorbehalt einer anderen gesetzlichen Regelung - die Frist
auch dann gewahrt ist, wenn eine beim Bundesgericht einzulegende Eingabe
rechtzeitig bei einer anderen Bundesbehörde oder bei der kantonalen
Behörde, welche den Entscheid gefällt hat, eingereicht worden ist.
Es kommt somit nicht mehr darauf an, ob die sachlich unzuständige Behörde
die Eingabe mindestens noch innert Frist der Post zu übergeben vermag. Die
Rechtsmittelfrist soll der beschwerdeführenden Partei vielmehr voll zur
Verfügung stehen, und sie darf nicht mehr benachteiligt werden, wenn
sie ihre Eingabe am letzten Tag der Frist einer unzuständigen Behörde
einreicht. Die neue gesetzliche Ordnung konkretisiert einen seit langem im
Bereich der Rechtsmittelfristen vorherrschenden Gedanken, dass nämlich der
Rechtsuchende nicht ohne Not um die Beurteilung seines Rechtsbegehrens
durch die zuständige Instanz gebracht werden soll (BGE 103 Ia 55 mit
Hinweis). Dabei handelt es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz,
der sich auf die gesamte Rechtsordnung bezieht und jedenfalls dort, wo
keine klare anderslautende Gesetzgebung besteht, auch in den Kantonen zu
gelten hat.

Erwägung 4

    4.- Wird dieser Rechtsgrundsatz auf den vorliegenden Sachverhalt
angewendet, so zeigt sich, dass dem Bezirksgerichtsausschuss ein
überspitzter Formalismus vorzuwerfen ist. Der Beschwerdeführer weist
mit Recht darauf hin, dass die Beschwerde beim Vizepräsidenten desselben
Gerichts eingereicht worden ist, dessen Ausschuss für deren Behandlung
zuständig war. Die Beschwerde musste demnach nicht einmal - weder
mit der Post noch auf anderem Wege - weitergeleitet werden. Wenn unter
diesen Voraussetzungen angenommen wird, die Frist sei nicht gewahrt,
weil der Bezirksgerichtsvizepräsident nicht in der Lage gewesen sei,
die Eingabe innert der Rechtsmittelfrist der zuständigen Amtsstelle zu
übermitteln, so ist darin ein Verstoss gegen Art. 4 BV zu erblicken. Dem
Bürger wird dadurch der Rechtsweg versperrt, ohne dass die angewandte
Strenge unter den gegebenen Verhältnissen sachlich gerechtfertigt wäre;
auch ist diese durch keine schutzwürdigen Interessen geboten (BGE
112 Ia 308 E. 2a und 113 Ia 87 E. 3a sowie 96 E. 2). Es werden denn
auch weder vom Bezirksgerichtsausschuss noch von der Beschwerdegegnerin
derartige Interessen geltend gemacht. Dieser wurde vielmehr die Eingabe vom
31. Oktober bereits am 1. November 1991 zur Vernehmlassung zugestellt. Das
Vorgehen des Beschwerdeführers beeinträchtigte daher das Verfahren in
keiner Weise.

    Die vom Beschwerdeführer erhobene Rüge des überspitzten Formalismus
und damit der Rüge der Verletzung von Art. 4 BV erweist sich nach
dem Ausgeführten als begründet. Die staatsrechtliche Beschwerde ist
daher gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Der
Bezirksgerichtsausschuss wird infolgedessen auf die Beschwerde vom
31. Oktober 1991 einzutreten haben.