Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 218



118 Ia 218

29. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 8. Mai 1992 i.S. Gemeinde X. gegen Z. und Erziehungs-, Kultur-
und Umweltschutzdepartement sowie Regierung des Kantons Graubünden
(staatsrechtliche Beschwerden). Regeste

    Gemeindeautonomie bei vorzeitiger Einschulung im Kanton Graubünden.

    1. Voraussetzungen, unter denen ein Entscheidungsspielraum, den das
kantonale Recht einer Gemeinde einräumt, relativ erheblich ist und deshalb
Autonomie zu begründen vermag (E. 3a und E. 3d).

    2. Im Kanton Graubünden besteht bei der vorzeitigen Einschulung keine
Gemeindeautonomie (E. 3e).

Sachverhalt

    A.- Der Schulrat der Gemeinde X. lehnte am 3. Juli 1991 ein Gesuch von
Z. ab, ihren Sohn vorzeitig einzuschulen. Dessen kognitive Leistung und
sozio-emotionale Entwicklung seien zwar fortgeschritten, doch beherrsche
er das Romanische nicht genügend, um dem in dieser Sprache erteilten
Unterricht bereits folgen zu können.

    Am 22. August 1991 hiess das Erziehungs-, Kultur- und
Umweltschutzdepartement des Kantons Graubünden eine von Z. hiergegen
eingereichte Beschwerde gut und gestattete die vorzeitige Einschulung.

    Die Gemeinde X. erhob gegen diesen Entscheid am 6. September 1991
Verwaltungsbeschwerde bei der Regierung des Kantons Graubünden; am 19.
September 1991 reichte sie zudem wegen Verletzung ihrer Gemeindeautonomie
sowie von Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht
ein. Zugleich beantragte sie, bis zum Entscheid über ihr kantonales
Rechtsmittel das bundesgerichtliche Verfahren zu sistieren. Noch bevor
dieses Gesuch beurteilt werden konnte, verneinte die Regierung des Kantons
Graubünden am 30. September 1991 die Beschwerdelegitimation der Gemeinde
X. und trat auf ihre Eingabe nicht ein; in einer Eventualerwägung führte
sie aus, dass die Beschwerde materiell abzuweisen wäre.

    Gegen diesen Entscheid erhob die Gemeinde X. am 1. November 1991 erneut
staatsrechtliche Beschwerde. Sie macht darin geltend, die Regierung des
Kantons Graubünden sei zu Unrecht auf ihr Rechtsmittel nicht eingetreten,
materiell habe sie, "indem sie die gesetzlichen Voraussetzungen für die
vorzeitige Einschulung nicht beachtete", willkürlich gehandelt und den
"geschützten Autonomiebereich der Gemeinde verletzt".

    Das Bundesgericht weist die staatsrechtlichen Beschwerden, soweit es
darauf eintritt, ab

Auszug aus den Erwägungen:

                aus den folgenden Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Eine Gemeinde ist in einem Sachbereich autonom, wenn das
kantonale Recht diesen Bereich nicht abschliessend ordnet, sondern ihn
ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei
eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt (BGE 117 Ia 355
E. 4a mit Hinweisen). Ob und wieweit eine Gemeinde in einem bestimmten
Bereich autonom ist, richtet sich nach dem kantonalen Verfassungs- und
Gesetzesrecht. Ein geschützter kommunaler Autonomiebereich kann auch bei
der Anwendung kantonalen Rechtes vorliegen, wenn dieses der Gemeinde
eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit belässt (BGE 115 Ia 44
E. 3, 110 Ia 199 E. 2a, 103 Ia 488 E. 2; ULRICH ZIMMERLI, Die neuere
bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Gemeindeautonomie, in: ZBl 73/1972
S. 269 ff.). Der Schutz der Autonomie setzt eine solche nicht in einem
ganzen Aufgabengebiet, sondern lediglich im streitigen Bereich voraus;
ihr Vorliegen ist von Fall zu Fall differenzierend zu prüfen (BGE 115 Ia
44 E. 3 mit Hinweisen).

    Besteht in diesem Sinn Autonomie, kann sich die Gemeinde mit
staatsrechtlicher Beschwerde dagegen zur Wehr setzen, dass eine kantonale
Behörde im Rechtsmittelverfahren ihre Prüfungsbefugnis überschreitet oder
die den betreffenden Sachbereich ordnenden kommunalen, kantonalen oder
bundesrechtlichen Normen falsch anwendet. Soweit nicht die Handhabung von
eidgenössischem oder kantonalem Verfassungsrecht in Frage steht, prüft
das Bundesgericht den Entscheid der kantonalen Behörde aber nur unter
dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 115 Ia 46 E. 3c, 114 Ia 372 E. 2a,
je mit Hinweisen).

    b) Gemäss Art. 40 der Verfassung vom 2. Oktober 1892 für den
Kanton Graubünden (KV; SR 131.226) steht jeder Gemeinde das Recht zur
"selbständigen Gemeindeverwaltung" zu (Abs. 2), sie hat "für gute
Verwaltung ihrer Gemeindeangelegenheiten, namentlich auch für das
Schulwesen und die Sozialhilfe zu sorgen, soweit diese nicht Sache der
Bürgergemeinde und des Kantons ist" (Abs. 3).

    Art. 4 des Gemeindegesetzes nennt die "Schule" ausdrücklich (lit. a)
als ein Gebiet der öffentlichen Verwaltung, das unter Vorbehalt der
Zuständigkeit des Bundes und des Kantons zum Aufgabenbereich der Gemeinde
gehört. Art. 2 des Gesetzes für die Volksschulen des Kantons Graubünden
vom 19. November 1961 (SchG; BR 421.000) bezeichnet die Gemeinden oder
Gemeindeverbände als Träger der öffentlichen Volksschulen; sie haben
einen Schulrat zu bestellen, dem die Leitung und Beaufsichtigung der
Schule obliegt (Art. 61 SchG). Jedes im Kanton wohnhafte bildungsfähige
Kind, das bis zum 31. Dezember das siebte Altersjahr erfüllt haben wird,
ist mit Beginn des Schuljahres zum Besuch der Primarschule verpflichtet
(Art. 7 Abs. 1 SchG). Art. 7 Abs. 2 und 3 des Schulgesetzes regeln die
Einschulung wie folgt:

    "Der Schulrat kann, unter schriftlicher Mitteilung an das

    Erziehungsdepartement, Kinder vorzeitig zum Schulbesuch zulassen
oder in
   der Schulpflicht zurückstellen.

    Voraussetzungen und Verfahren regelt die Vollziehungsverordnung."

    Die vom Grossen Rat am 31. Mai 1961 erlassene Vollziehungsverordnung
zum Schulgesetz (VVO; BR 421.010) führt diese Regelung, was den vorzeitigen
Schuleintritt betrifft, in Art. 2 näher aus:

    "Der Schulrat kann die Bewilligung zum vorzeitigen Schuleintritt auf

    Gesuch hin erteilen, wenn ein ärztliches oder ein schulpsychologisches

    Gutachten bescheinigen, dass das Kind körperlich und geistig gut
   entwickelt ist und gegen seine Zulassung zur Schule keine Bedenken
   bestehen."

    c) Die Beschwerdeführerin beruft sich auf dem Hintergrund von
Art. 40 KV und Art. 4 lit. a des Gemeindegesetzes auf die beiden
wiedergegebenen Bestimmungen des Schulgesetzes sowie der dazugehörigen
Verordnung und erblickt im Ermessensspielraum, der dem Schulrat nach
diesen Vorschriften beim Entscheid über die vorzeitige Einschulung
offenstehe, einen geschützten Bereich kommunaler Autonomie. Indem das
Erziehungsdepartement als Beschwerdeinstanz die vorzeitige Einschulung
entgegen der Auffassung des kommunalen Schulrates bewilligt habe, habe
es die Gemeinde in ihrer Autonomie verletzt, zumal der Entscheid der
Schulbehörde vertretbar gewesen sei. Der Beschluss des Departementes
sei sachlich unhaltbar und willkürlich. Er berücksichtige völlig
einseitig die Interessen des Kindes und lasse die besonderen Probleme
ausser acht, welche die Einschulung deutschsprachiger Kinder in die
in romanischer Sprache geführte Primarschule der Gemeinde X. mit sich
bringe. Die Gemeinde unternehme grosse Anstrengungen zur Erhaltung des
Romanischen und führe u.a. einen Sprachförderungsunterricht für Kinder im
Vorschulalter. Bei einem vorzeitigen Schuleintritt deutschsprachiger Kinder
sei der erforderliche Einzelförderungsunterricht wegen der Überlastung
der Primarschul-Lehrkräfte nicht mehr gewährleistet; die übrigen Schüler
würden in ihrem schulischen Fortkommen behindert.

    d) Diese Einwendungen der Gemeinde haben sachlich ein gewisses
Gewicht, wie auch die Regierung in ihrem Entscheid zugesteht, wenn
sie ausführt, dass entgegen der Ansicht des Erziehungs-, Kultur-
und Umweltschutzdepartementes "Sprachprobleme dem Grundsatze nach
sehr wohl Bedenken gegen eine vorzeitige Einschulung auslösen, gehört
doch die sprachliche Verständigung zur Grundvoraussetzung für eine
einwandfreie Vermittlung des Lernstoffes in einer normalen Grundschule";
jedenfalls könne nicht völlig ausgeschlossen werden, "dass mangelhafte
Romanischkenntnisse in einer romanisch geführten Schule zu schulischen
Problemen" führten.

    Für eine materielle Überprüfung der angefochtenen kantonalen Entscheide
durch das Bundesgericht besteht nach dem Gesagten jedoch erst Raum, wenn
diese die Gemeinde in einem geschützten Autonomiebereich treffen. Nicht
jede Entscheidungsfreiheit begründet zugunsten der Gemeinde schutzwürdige
Autonomie. Ob die der Gemeinde gewährte Freiheit in einem bestimmten
Bereich "relativ erheblich" ist, ergibt sich aus ihrer Bedeutung
für den Sinn der kommunalen Selbständigkeit, d.h. daraus, ob nach der
kantonalen Gesetzgebung durch die kommunale Gestaltung unter anderem mehr
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie eine bessere und sinnvollere
Aufgabenerfüllung auf lokaler Ebene ermöglicht werden sollen (vgl. BGE
116 Ia 287 E. 3a; nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom
13. Juni 1989 i.S. Politische Gemeinde Altstätten u. Mitb. c. Grossen Rat
des Kantons St. Gallen, E. 2b; THOMAS PFISTERER, Die neuere Entwicklung der
Gemeindeautonomie, insbesondere im Kanton Aargau, in: ZBJV 125/1989 S. 18
ff.; THOMAS PFISTERER, Die verfassungsrechtliche Stellung der aargauischen
Gemeinden bei der Erfüllung der öffentlichen Aufgaben, St. Gallen 1983,
S. 249 ff., insbes. 255-257; vgl. auch BGE 115 Ib 305 E. 4). Enthält ein
kantonales Gesetz, das in erster Instanz von der Gemeindebehörde anzuwenden
ist, einen unbestimmten Rechtsbegriff, so genügt dies allein noch nicht
für die Annahme, dass die Gemeinde bei der Anwendung dieses Begriffes
auch autonom sei (BGE 100 Ia 275 E. 6).

    e) Den Bündner Gemeinden steht im Schulbereich Autonomie nur
in den Schranken der kantonalen Gesetzgebung zu (Art. 40 Abs. 3 KV);
diese regelt den vorzeitigen Schuleintritt abschliessend. Zwar lassen das
Schulgesetz und die dazugehörige Verordnung der erstinstanzlich zuständigen
kommunalen Schulbehörde einen gewissen Entscheidungsspielraum, indem der
Schulrat einen vorzeitigen Schuleintritt erlauben kann und die hierbei
zu beachtenden Voraussetzungen als unbestimmte Rechtsbegriffe formuliert
sind, doch tun sie dies, was sich aus der Natur der genannten Kriterien
ergibt, nicht in erster Linie, um einer allfälligen Verschiedenheit
der Bedürfnisse und Verhältnisse in den einzelnen Gemeinden und damit
lokalen oder organisatorischen Anliegen Rechnung zu tragen, sondern um
allgemein in jedem Einzelfall eine pädagogisch sachgerechte Entscheidung zu
ermöglichen. Das in der Bündner Schulgesetzgebung dem kommunalen Schulrat
eingeräumte Ermessen ist damit nicht "gemeindefreiheitsbezogen"(vgl. zu
diesem Begriff: THOMAS PFISTERER, aaO, in: ZBJV 125/1989 S. 19) und stellt
deshalb qualitativ keinen autonomiebegründenden Spielraum dar.

    Wenn der Schulrat gemäss Art. 2 VVO neben den im Vordergrund
stehenden "kindbezogenen" Voraussetzungen (körperliche und geistige
Entwicklung) auch berücksichtigen kann, ob gegen die "Zulassung zur Schule
(...) Bedenken bestehen", und somit gewisse organisatorische oder sonstige
äussere Gegebenheiten, welche einer erfolgreichen Einschulung allenfalls
entgegenstehen, den Bewilligungsentscheid beeinflussen können, vermag
dieser indirekte Zusammenhang mit den örtlichen Verhältnissen für sich
allein doch noch keinen geschützten Autonomiebereich zu begründen. Der
Gemeinde ist zuzugeben, dass sie durch Entscheide kantonaler
Rechtsmittelinstanzen, welche Gesuche um vorzeitige Einschulung in
Verletzung der massgebenden kantonalen Vorschriften bewilligen, wegen
der unter Umständen damit verbundenen Störung oder Erschwerung des
Schulbetriebes in ihren eigenen kommunalen Interessen beeinträchtigt wird.
Solche Konflikte können indessen überall auftreten, wo die Gemeinde der
Entscheidungsgewalt von übergeordneten Instanzen unterworfen ist. Der
Schutz der Autonomie greift aber erst dann Platz, wenn die beanstandete
kantonale Anordnung die Gemeinde in einem Bereich trifft, wo ihr das
kantonale Recht einen im Hinblick auf ihre Rolle im Gemeinwesen und
den damit verbundenen Zweck der Gemeindeautonomie erheblichen Spielraum
selbständiger Gestaltung einräumt; dies ist nach dem Gesagten hier nicht
der Fall.