Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 17



118 Ia 17

4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 5. Mai
1992 i.S. L. gegen Generalprokurator und Obergericht des Kantons Bern
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; rechtliches Gehör.

    Es ist mit dem aus Art. 4 BV folgenden Gehörsanspruch nicht vereinbar,
wenn an einer Appellationsverhandlung, an der ein Angeschuldigter nach
dem kantonalen Recht nicht teilnehmen muss, ohne dessen Wissen ein
Beweisergänzungsverfahren durchgeführt wird.

Sachverhalt

    A.- Der Gerichtspräsident von Frutigen verurteilte mit Urteil vom
6. Mai 1991 L. wegen Überschreitens der signalisierten und gesetzlichen
Höchstgeschwindigkeit und wegen Überholens, obschon der nötige Raum dazu
nicht frei war, beides begangen am 29. Juni 1990, zu einer Busse von
Fr. 700.-- und zu den Verfahrenskosten.

    L. erklärte gegen dieses Urteil die Appellation. Die 1. Strafkammer
des Obergerichts des Kantons Bern erklärte mit Urteil vom 5. September
1991 L. des Überschreitens der signalisierten und gesetzlichen
Höchstgeschwindigkeit, fortgesetzt begangen am 29. Juni 1990 auf der
Strecke Kandergrund-Reichenbach, sowie des Überholens, obschon der nötige
Raum nicht frei war und mit mangelnder Rücksichtnahme auf die überholten
Strassenbenützer, begangen am 29. Juni 1990 in Frutigen, schuldig und
verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 700.-- und zu den Verfahrenskosten
beider Instanzen.

    L. führt gegen dieses Urteil der 1. Strafkammer des Obergerichts des
Kantons Bern staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
BV (willkürliche Beweiswürdigung, willkürliche Anwendung kantonalen
Prozessrechts und Verweigerung des rechtlichen Gehörs) und Art. 6 Ziff. 2
EMRK. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer hat, wie es nach Art. 318 Abs. 3 des
Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern vom 20. Mai 1928
(StrV) zulässig ist, an der Verhandlung vor der 1. Strafkammer des
Obergerichts des Kantons Bern vom 5. September 1991 nicht teilgenommen
und sich auf die Einreichung eines schriftlichen Parteivortrages vom
30. August 1991 beschränkt. In der Verhandlung vom 5. September 1991
beantragte der Generalprokurator-Stellvertreter, einen Telefax des Pol
Gfr X. vom gleichen Tag mit den von diesem nach dem Vorfall erstellten
Handnotizen zu den Akten zu erkennen. Die Strafkammer gab diesem Antrag
statt. Im angefochtenen Urteil führte sie zur Zeugenaussage X. aus, diese
seien widerspruchsfrei und würden mit den unmittelbar nach der Kontrolle
erstellten Handnotizen übereinstimmen.

    Der Beschwerdeführer macht geltend, die Strafkammer hätte ihn über die
Einholung dieses weiteren Beweismittels informieren und ihm Gelegenheit
zur Stellungnahme geben müssen. Diese Unterlassung beanstandet er als
Verweigerung des rechtlichen Gehörs, da er nicht mit neuen Beweismitteln,
über die er nicht informiert würde, rechnen müsse.

    a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Seine
Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der
Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 117 Ia 7
E. 1a, 115 Ia 10 E. 2a mit Hinweisen). Die vom Beschwerdeführer geltend
gemachte Verletzung des rechtlichen Gehörs ist deshalb vorweg zu prüfen.

    b) Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird zunächst durch
die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben, deren Auslegung und
Anwendung das Bundesgericht unter dem Gesichtswinkel der Willkür prüft. Wo
sich dieser kantonale Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die
unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Verfahrensregeln zur Sicherung
des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger in allen Streitsachen ein
bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten gewährleisten (BGE 117 Ia
7 E. 1a, 116 Ia 98 E. 3a mit Hinweisen).

    Der Beschwerdeführer macht keine Verletzung kantonaler
Verfahrensvorschriften in einer den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1
lit. b OG genügenden Weise geltend. Daher ist einzig und zwar mit freier
Kognition zu prüfen (BGE 117 Ia 7 E. 1a mit Hinweis), ob unmittelbar aus
Art. 4 BV folgende Regeln missachtet wurden.

    c) Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung,
andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht
beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des
Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen,
sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur
Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten
zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der
Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest
zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid
zu beeinflussen (BGE 116 Ia 99 E. 3b, 115 Ia 11 E. 2b mit Hinweisen).

    d) Es ist unbestritten, dass die durch Telefax übermittelten
Handnotizen des Pol Gfr X. dem Beschwerdeführer nicht unterbreitet wurden,
und dass der Beschwerdeführer insoweit auch keine Gelegenheit gehabt hatte,
sich zu diesen Handnotizen zu äussern. Trotzdem hat die 1. Strafkammer
in ihrem angefochtenen Entscheid zur Erhärtung der Glaubwürdigkeit der
Aussagen des Pol Gfr X. auf dessen Handnotizen verwiesen, was mit dem
aus Art. 4 BV folgenden Gehörsanspruch nicht vereinbar ist. Daran ändert
nichts, dass der Beschwerdeführer freiwillig an der Appellationsverhandlung
vom 5. September 1991 nicht teilgenommen hat. Gemäss Art. 318 Abs. 2
und 3 StrV hat der Angeschuldigte die Möglichkeit, persönlich vor der
Strafkammer zu erscheinen, sich von einem Anwalt vertreten zu lassen oder
einen schriftlichen Parteivortrag einzureichen. Durch seinen Verzicht an
der Verhandlung teilzunehmen, verzichtete der Beschwerdeführer nicht auf
das Recht, zu neuen Beweisen angehört zu werden. Nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts darf ein Verzicht nicht leichthin angenommen werden
und würde eine genügende Orientierung durch die Behörden voraussetzen
(vgl. BGE 101 Ia 313 E. 2b). Die bernische Appellationsinstanz führt in
der Regel kein vor sich abspielendes Beweisverfahren mehr durch, sondern
überprüft vielmehr anhand der Akten das Beweisverfahren, das vor der
Vorinstanz stattfand (JÜRG AESCHLIMANN, Das Bernische Strafverfahren,
1988, Bd. 3, Besonderer Teil II, Seite 72). Nach Art. 316 Abs. 1 StrV
haben die Parteien allfällige Beweisergänzungsanträge 10 Tage vor dem
Verhandlungstag der Strafkammer schriftlich einzureichen, wobei diese Frist
als Ordnungsfrist gilt (JÜRG AESCHLIMANN, aaO, Seite 72). Die Gegenpartei
kann deshalb damit rechnen, dass ihr solche Anträge jedenfalls dann zur
Kenntnis gebracht werden, wenn dem Beweisergänzungsantrag stattgegeben
wird und die neuen Beweise im Urteil berücksichtigt werden. Wenn die
Appellationsinstanz von Amtes wegen oder auf Antrag hin Beweismassnahmen
anordnet, gelten dafür gemäss Art. 317 Abs. 5 StrV die Vorschriften der
Hauptverhandlung. Danach haben die Parteien etwa ein Fragerecht gegenüber
abgehörten Personen (Art. 247 Abs. 1 StrV). Im vorliegenden Fall hat die
Staatsanwaltschaft ihr Beweisergänzungsgesuch verspätet, nämlich erst in
der Verhandlung selbst gestellt. Mit einem solchen Vorgehen musste der
Beschwerdeführer jedoch nicht rechnen, zumal ja, wie bereits ausgeführt,
ein Beweisergänzungsverfahren nicht unbedingt die Regel bildet.

    Unhaltbar ist die vom Generalprokurator in seiner
Beschwerdevernehmlassung vertretene Auffassung, wonach eine
Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht vorliege, da im bernischen
Strafverfahren der Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsgrundsatz erheblich
eingeschränkt sei. Diese Grundsätze und auch der in ZBJV 119/1983 S. 509
f. wiedergegebene Bundesgerichtsentscheid berühren den hier in Frage
stehenden Gehörsanspruch nicht und vermöchten ihn, soweit er durch die
Bundesverfassung garantiert ist, ohnehin nicht einzuschränken.