Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 118 IA 14



118 Ia 14

3. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
22. April 1992 i.S. M. und M. gegen den Einzelrichter in Strafsachen am
Bezirksgericht Zürich und Obergericht (Verwaltungskommission) des Kantons
Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Zulassung als Geschädigter gemäss §§ 9 und 10 des zürcherischen
Gesetzes vom 4. Mai 1919 betreffend den Strafprozess (Strafprozessordnung;
StPO).

    1. Überspitzter Formalismus bei der Anwendung kantonaler
Verfahrensvorschriften (E. 2a).

    2. Voraussetzungen der Geschädigtenstellung nach zürcherischem
Strafprozessrecht in einem Fall von nächtlicher Ruhestörung (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- Herr und Frau M. wohnen im gleichen Haus wie Frau S. in der
Stadt Zürich. Die Eheleute M. verzeigten Frau S. wegen fortgesetzter
Lärmbelästigung. In der Folge wurde Frau S. durch den Polizeirichter
der Stadt Zürich unter anderem wegen Ruhestörung im Sinne von § 9 des
zürcherischen Gesetzes vom 30. Juni 1974 über das kantonale Strafrecht und
den Vollzug von Strafen und Massnahmen (StVG) gebüsst. Frau S. verlangte
hierauf gerichtliche Beurteilung. Der Einzelrichter in Strafsachen des
Bezirksgerichtes Zürich sprach sie frei. Dieses Urteil wurde Frau S. und
dem Polizeirichteramt der Stadt Zürich, nicht jedoch den Eheleuten M.
zugestellt.

    Die Eheleute M. verlangten sowohl im Verfahren vor dem Polizeirichter
als auch in demjenigen vor dem Einzelrichter des Bezirksgerichtes
Zürich, es seien ihnen Akteneinsicht und Parteirechte als Geschädigte zu
gewähren. In beiden Verfahren wurde ihnen dies verweigert, weshalb sie
bei der Verwaltungskommission des Obergerichtes Beschwerde führten. Die
Verwaltungskommission des Obergerichtes wies die Beschwerde ab, soweit
sie darauf eintrat.

    Herr und Frau M. beantragen mit staatsrechtlicher Beschwerde, der
Entscheid der Verwaltungskommission sei aufzuheben. Das Bundesgericht
heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Überspitzter Formalismus ist eine besondere Form der
Rechtsverweigerung und liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose
Formvorschriften aufgestellt werden, wenn die Behörde formelle Vorschriften
mit übertriebener Schärfe handhabt, wenn sie an Rechtsschriften überspannte
Anforderungen stellt oder wenn dem Bürger der Rechtsweg in unzulässiger
Weise versperrt wird (BGE 115 Ia 17 E. b; 114 Ia 23; 112 Ia 308 E. 2a, je
mit Hinweisen). Letzteres ist hier der Fall. Wenn die Verwaltungskommission
des Obergerichtes ausführt, im Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde nach
§§ 108 ff. des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 13. Juni
1976 (GVG) hätte der Entscheid des Einzelrichters mit prozessualen Mitteln
überprüft werden können und müssen, so steht diese Argumentation mit Art. 4
BV in Widerspruch, da den Beschwerdeführern dieses Urteil weder zugestellt
noch sonstwie zur Kenntnis gebracht worden und ihnen auch nie förmlich ein
Rechtsmittel (kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ans Obergericht) eröffnet
worden war. Den Beschwerdeführern stand somit im betreffenden Zeitpunkt
lediglich die Rechtsverweigerungsbeschwerde an die Verwaltungskommission
des Obergerichtes zur Verfügung. Die staatsrechtliche Beschwerde erweist
sich schon aus diesem Grunde als begründet.

    b) Die Verwaltungskommission des Obergerichtes handelte sodann
willkürlich, als sie in ihrer Eventualbegründung die kantonale
Beschwerde trotzdem materiell behandelte, die Geschädigtenstellung der
Beschwerdeführer aber verneinte. Unmittelbar Geschädigter ist zwar nur
der Träger des durch die Strafdrohung geschützten Rechtsgutes, gegen das
sich die Straftat ihrem Begriffe nach richtet (CLAUDE BAUMANN, Die Stellung
des Geschädigten im schweizerischen Strafprozess, Diss. Zürich 1958, S. 21
f.; ROBERT HAUSER, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechtes,
2. Auflage, S. 82 f.). Gemäss § 9 StVG wird mit Busse oder mit Haft
bestraft, wer durch Lärm oder Geschrei die Nachtruhe in grober Weise
stört. Das Bundesgericht hat derartige Bestimmungen stets als sowohl im
öffentlichen als auch im privaten Interesse liegend betrachtet. Neben
der öffentlichen Ruhe und Ordnung ist auch der private Rechtsanspruch
auf Unterbleiben einer Ruhestörung geschütztes Rechtsgut. Analog wie bei
Immissionsbestimmungen im allgemeinen nimmt ein verzeigender Anwohner neben
dem öffentlichen auch ein eigenes rechtlich geschütztes Interesse wahr.
Derartige Strafbestimmungen schützen die Interessen von Nachbarn und
insbesondere - wie hier - Wohnungsnachbarn neben dem öffentlichen Interesse
an Ruhe und Ordnung nicht nur mittelbar, sondern unmittelbar. Gerade aus
den vorliegenden Akten geht deutlich hervor, dass die Beschwerdeführer
geltend machen, ihnen sei unmittelbar ein Schaden zugefügt worden oder
habe ihnen zumindest zu erwachsen gedroht; diese Umstände begründen im
Kanton Zürich die Geschädigtenstellung (NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht,
N 502; vgl. auch JÖRG REHBERG, in Festschrift Max Keller, Zürich, 1989,
S. 630 und 631). Die Geschädigtenrechte gemäss §§ 9 und 10 StPO gelten
im Kanton Zürich grundsätzlich auch im Verfahren bei Übertretungen. Für
gerichtliche Übertretungsstrafverfahren werden nämlich gemäss § 363 StPO
die Vorschriften über das Hauptverfahren vor Bezirksgericht sinngemäss
angewandt. Dabei geht beispielsweise aus § 280 Abs. 2 und § 283 Abs. 2
und 3 StPO hervor, dass der Geschädigte ein Recht auf Teilnahme an der
bezirksgerichtlichen Hauptverhandlung hat und dass er auch zum Schuld-
und Strafpunkt Ausführungen machen kann. Indem die Verwaltungskommission
den Beschwerdeführern dies verweigerte, verletzte sie Art. 4 BV.