Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 V 408



117 V 408

55. Auszug aus dem Urteil vom 24. September 1991 i.S. B. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des
Kantons Zürich Regeste

    Art. 4 BV, Art. 105 Abs. 1 UVG. Im Einspracheverfahren gemäss Art. 105
Abs. 1 UVG besteht ein unmittelbar aus Art. 4 BV fliessender Anspruch
auf unentgeltliche Verbeiständung. Dabei gelten sinngemäss die in BGE
114 V 228 für das Anhörungsverfahren in der Invalidenversicherung als
massgebend bezeichneten sachlichen und zeitlichen Voraussetzungen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- Streitig ist schliesslich, ob der Beschwerdeführer für das
Einspracheverfahren Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung hat.

    a) In dem in BGE 114 V 228 veröffentlichten Urteil B. vom
29. Dezember 1988 hat das Eidg. Versicherungsgericht gestützt auf
Art. 4 BV unter engen sachlichen und zeitlichen Voraussetzungen
einen Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im nichtstreitigen
Verwaltungsverfahren der Invalidenversicherung anerkannt, weil auch in
diesem Verfahren heikle Rechts- oder Abklärungsfragen oder schwierige
Verfahrenssituationen denkbar sind, die es erfordern können, dass
der unbemittelte Versicherte gegenüber der Verwaltung durch einen
Anwalt verbeiständet ist. Dabei ist es allerdings mit den sachlichen
Voraussetzungen (Bedürftigkeit, fehlende Aussichtslosigkeit, erhebliche
Tragweite der Sache, Schwierigkeit der aufgeworfenen Fragen, mangelnde
Rechtskenntnisse des Versicherten) strengzunehmen. Ein strenger Massstab
ist insbesondere an die Notwendigkeit der Verbeiständung zu legen.
Eine anwaltliche Verbeiständung drängt sich nur in Ausnahmefällen auf,
in denen ein Rechtsanwalt beigezogen wird, weil schwierige rechtliche
oder tatsächliche Fragen dies als notwendig erscheinen lassen und eine
Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und
Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt. Zusätzlich
zu diesen engen sachlichen Voraussetzungen muss auch in zeitlicher
Hinsicht eine Limitierung eines aus Art. 4 BV abzuleitenden Anspruches auf
unentgeltliche Verbeiständung erfolgen. Bei Eingang des Leistungsgesuches
bzw. bei Beginn des Abklärungsverfahrens ist in der Regel noch völlig
ungewiss, welche Leistungen überhaupt in Betracht fallen. Es können
somit in diesem Verfahrensstadium regelmässig noch keine Prozess- bzw.
Verfahrensaussichten festgestellt werden. Zeitliche Grenze für den Anspruch
auf unentgeltliche Verbeiständung hat daher der Erlass des Vorbescheides
nach Art. 73bis IVV zu bilden. In diesem Anhörungsverfahren, das unter
Umständen schon Elemente eines streitigen Verfahrens aufweist, kann
es unter den erwähnten sachlichen Voraussetzungen verfassungsrechtlich
geboten sein, dem Leistungsansprecher die unentgeltliche Verbeiständung zu
bewilligen. Damit ist dem Versicherten auf der Stufe des nichtstreitigen
Verwaltungsverfahrens und im Stadium des unmittelbar bevorstehenden
Verfügungserlasses der verfassungsrechtliche Minimalanspruch auf
unentgeltliche Verbeiständung gewahrt (BGE 114 V 235 Erw. 5b).

    b) Bisher nicht zu entscheiden hatte das Eidg. Versicherungsgericht
die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen ein
Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im Einspracheverfahren gemäss
Art. 105 Abs. 1 UVG besteht. Es sind indessen keine stichhaltigen Gründe
ersichtlich, welche einer analogen Anwendung der nach BGE 114 V 228 für das
nichtstreitige Verwaltungsverfahren der Invalidenversicherung geltenden
Praxis entgegenstehen würden. Im Gegensatz zum Anhörungsverfahren nach
Art. 73bis IVV, welches vor Erlass einer formellen Verfügung erfolgt,
schliesst das Einspracheverfahren nach Art. 105 UVG an den Erlass einer
Verfügung an und endet mit dem Einspracheentscheid. Das Einspracheverfahren
gehört zwar nicht zur streitigen Verwaltungsrechtspflege im eigentlichen
Sinne (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 33); die
Einsprache bildet jedoch ein dem Verwaltungsjustizverfahren vorgeschaltetes
Rechtsmittel (MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht,
S. 610). Weist schon das Anhörungsverfahren der Invalidenversicherung
Elemente eines streitigen Verfahrens auf, falls der Versicherte
Einwendungen vorbringt oder vorbringen lässt, gilt dies in noch vermehrtem
Masse für das Einspracheverfahren in der Unfallversicherung. Umso mehr
rechtfertigt es sich, einen Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung
auch im Einspracheverfahren nach Art. 105 Abs. 1 UVG anzuerkennen. Dabei
sind grundsätzlich die gleichen Einschränkungen zu beachten, wie sie
das Eidg. Versicherungsgericht in BGE 114 V 228 mit Bezug auf den
Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im Anhörungsverfahren der
Invalidenversicherung als massgebend bezeichnet hat. Dementsprechend
haben die dort genannten sachlichen Einschränkungen, insbesondere der
strenge Massstab beim Kriterium der Notwendigkeit der anwaltlichen
Verbeiständung, auch im Einspracheverfahren der Unfallversicherung zu
gelten. Die zeitlichen Schranken für den Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung sind dann eingehalten, wenn der Anspruch frühestens ab
Beginn des Einspracheverfahrens geltend gemacht wird.

    Einer Übertragung der Rechtsprechung gemäss BGE 114 V 228 auf das
Einspracheverfahren gemäss Art. 105 Abs. 1 UVG steht nicht entgegen,
dass Art. 130 Abs. 2 Satz 2 UVV einen Anspruch auf Parteientschädigung
im Einspracheverfahren ausschliesst. Wie das Eidg. Versicherungsgericht
mit Urteil vom heutigen Tag in Sachen G. (BGE 117 V 401) diesbezüglich
festgestellt hat, handelt es sich beim Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung und demjenigen auf Parteientschädigung bei Obsiegen
um zwei verschiedene Rechtsinstitute, deren unterschiedliche
Behandlung verfassungsrechtlich vertretbar ist. Das Verfassungsrecht
gewährleistet nur, dass nötigenfalls auch der Unbemittelte zur
Wahrnehmung seiner Interessen die Dienste eines Rechtsverständigen in
Anspruch nehmen kann. Eine im Lichte von Art. 4 BV zu beanstandende
Ungleichbehandlung entsteht nicht, wenn dem im Prozess Obsiegenden, der
die Voraussetzungen für die unentgeltliche Verbeiständung nicht erfüllt,
ein Anspruch auf Ersatz der Parteikosten verweigert wird. Dabei hat
das Gericht offengelassen, ob nicht ein Vorbehalt mit Bezug auf den
Entschädigungsanspruch desjenigen Rechtsuchenden anzubringen ist,
welcher die Voraussetzungen für die unentgeltliche Verbeiständung
erfüllt, im Prozess jedoch obsiegt. Umso weniger besteht ein Grund,
dem im Einspracheverfahren nicht obsiegenden bedürftigen Versicherten
den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung abzusprechen.