Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 V 354



117 V 354

49. Auszug aus dem Urteil vom 17. September 1991 i.S. "Zürich"
Versicherungsgesellschaft gegen M. und Versicherungsgericht des Kantons
Basel-Landschaft Regeste

    Art. 9 Abs. 1 und 2 UVG, Art. 68 Abs. 1 KUVG. Die Verschlimmerung
einer vorbestandenen Krankheit durch Listenstoffe/Listenarbeiten (Art. 9
Abs. 1 UVG) oder durch die berufliche Tätigkeit (Art. 9 Abs. 2 UVG;
Generalklausel) wird der dadurch bewirkten Verursachung gleichgestellt. Die
zu Art. 68 Abs. 1 KUVG ergangene Rechtsprechung ist auch unter der
Herrschaft des UVG anwendbar.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 9 Abs. 1 UVG gelten Krankheiten, die bei
der beruflichen Tätigkeit ausschliesslich oder vorwiegend durch
schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten verursacht worden sind, als
Berufskrankheiten. Der Bundesrat erstellt die Liste dieser Stoffe und
Arbeiten sowie der arbeitsbedingten Erkrankungen. Gestützt auf diese
Delegationsnorm und Art. 14 UVV hat er im Anhang 1 zur UVV eine Liste
der schädigenden Stoffe und der arbeitsbedingten Erkrankungen erstellt.

    Nach der Rechtsprechung ist eine "vorwiegende" Verursachung von
Krankheiten durch schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten nur
dann gegeben, wenn diese mehr wiegen als alle andern mitbeteiligten
Ursachen, mithin im gesamten Ursachenspektrum mehr als 50%
ausmachen. "Ausschliessliche" Verursachung hingegen meint praktisch 100%
des ursächlichen Anteils der schädigenden Stoffe oder bestimmten Arbeiten
an der Berufskrankheit (BGE 114 V 111 Erw. 3c mit Hinweisen).

    b) Als Berufskrankheiten gelten auch andere Krankheiten, von denen
nachgewiesen wird, dass sie ausschliesslich oder stark überwiegend durch
berufliche Tätigkeit verursacht worden sind (Art. 9 Abs. 2 UVG). Diese
Generalklausel bezweckt, allfällige Lücken zu schliessen, die dadurch
entstehen könnten, dass die bundesrätliche Liste gemäss Anhang 1 zur UVV
entweder einen schädigenden Stoff, der eine Krankheit verursachte, oder
eine Krankheit nicht auf führt, die durch die Arbeit verursacht wurde
(BGE 116 V 141 Erw. 5a, 114 V 110 Erw. 2b mit Hinweisen).

    Nach der Rechtsprechung ist die Voraussetzung des "ausschliesslichen
oder stark überwiegenden" Zusammenhangs gemäss Art. 9 Abs. 2 UVG erfüllt,
wenn die Berufskrankheit mindestens zu 75% durch die berufliche Tätigkeit
verursacht worden ist (BGE 114 V 109 mit Hinweisen).

Erwägung 4

    4.- Es ist unter den Verfahrensbeteiligten - zu Recht - unbestritten,
dass der Beschwerdegegner keine Ansprüche aus Berufskrankheit im Sinne
von Art. 9 Abs. 1 UVG ableiten kann, da weder schädigende Stoffe noch
arbeitsbedingte Erkrankungen gemäss Anhang 1 UVV in Frage stehen. Streitig
und zu prüfen ist hingegen, ob eine Berufskrankheit nach Art. 9 Abs. 2
UVG vorliegt.

    a) Die Vorinstanz hat ihren Entscheid damit begründet, "in
einem in Anwendung von Art. 9 Abs. 1 UVG (recte: Art. 68 Abs. 1 KUVG)
gefällten Entscheid (stelle) das Eidgenössische Versicherungsgericht die
berufsspezifische Verschlimmerung einer Krankheit deren Verursachung
gleich (BGE 108 V 160)". Dies erscheine richtig und solle auch im
Rahmen von Art. 9 Abs. 2 UVG berücksichtigt werden, sei doch kein
vernünftiger Grund ersichtlich, der eine Ungleichbehandlung der beiden
Fälle rechtfertige. Gestützt auf die Aussage des Dr. med. H., welcher
in seinem Bericht vom 28. Juni 1989 die vorbestandenen Veränderungen
mit einem Viertel ansetzte, folgerte das kantonale Gericht sodann,
die berufsbedingte Verschlimmerung betrage "unausgesprochen" 75%, womit
rechtsgenüglich dargetan sei, dass der Verursachungsanteil der beruflichen
Tätigkeit an der Krankheit mindestens drei Viertel betrage und demzufolge
die Voraussetzungen für die Bejahung einer Berufskrankheit erfüllt seien.

    b) Wie bereits im erstinstanzlichen Verfahren stellt sich die
Beschwerdeführerin auf den Standpunkt, die berufsbedingte Verschlimmerung
eines vorbestandenen Gesundheitsschadens genüge für die Anerkennung
von Art. 9 Abs. 2 UVG nicht. Analog zu BGE 108 V 160 könne allenfalls
unter der Geltung des UVG für Berufskrankheiten nach Abs. 1 von Art. 9
UVG entschieden werden, nicht aber auch für die "anderen" Krankheiten
gemäss Abs. 2 dieser Bestimmung. Diese Ungleichbehandlung sei um so mehr
am Platz, als letzterer Absatz nach dem klaren Willen des Gesetzgebers ein
Auffangstatbestand sei, laut BGE 114 V 109 die Trennung zwischen Krankheit
und Berufskrankheit klar zutage liegen müsse und Lehre wie Rechtsprechung
an den Nachweis einer Berufskrankheit im Sinne der Generalklausel strenge
Anforderungen stellten.

    c) Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. In BGE 108 V 158,
in dem es um die Verschlimmerung einer vorbestandenen Krankheit durch
einen Listenstoff nach altem Recht (Art. 68 Abs. 1 KUVG in Verbindung
mit Art. 1 der Verordnung über Berufskrankheiten) ging, hat das
Eidg. Versicherungsgericht in Änderung der Rechtsprechung erkannt,
die Unfallversicherung habe wesentlich den Zweck, die Arbeitnehmer vor
den wirtschaftlichen Folgen unfall- bzw. berufskrankheitsbedingter
Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit zu schützen. Unter diesem
Gesichtspunkt sei es unerheblich, ob eine bestimmte Verminderung
der Erwerbsfähigkeit bei einem bisher Gesunden eintrete oder auf
einer Verschlimmerung eines vorbestandenen Leidens beruhe. Die sich
daraus ergebenden wirtschaftlichen Folgen seien für die Betroffenen
in beiden Fällen grundsätzlich die gleichen. Es lasse sich daher nicht
rechtfertigen, die ausschliesslich oder vorwiegend durch die Einwirkung
eines Listenstoffes verursachte Verschlimmerung einer bereits bestehenden
Krankheit rechtlich anders zu behandeln als eine Krankheit, die als
solche ausschliesslich oder vorwiegend durch einen Listenstoff verursacht
worden ist.

    Diese Überlegungen behalten auch unter der Herrschaft des neuen Rechts
ihre volle Gültigkeit, und zwar im Rahmen von Abs. 1 wie Abs. 2 des Art. 9
UVG. Denn wie die Vorinstanz richtig erkannt hat, lässt sich sachlich in
der Tat kein vernünftiger Grund ausmachen, der eine unterschiedliche
Behandlung der Verschlimmerung von Berufskrankheiten nach der
Enumerationsmethode (Listenstoffe oder Listenkrankheiten) und denjenigen
nach der Generalklausel als gerechtfertigt erscheinen liesse. Sodann
entspricht das Krankheitsverzeichnis des Anhangs 1 UVV, von wenigen
redaktionellen Abänderungen abgesehen, weitgehend der früheren Verordnung
über Berufskrankheiten vom 17. Dezember 1973, so dass die zum alten Recht
ergangene Rechtsprechung im Bereich des UVG nach wie vor anwendbar ist.
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin vermögen die von ihr ins
Feld geführten Argumente eine Ungleichbehandlung der Verschlimmerung
von Berufskrankheiten nach dem ersten Absatz einerseits und dem zweiten
Absatz anderseits nicht zu untermauern. Zutreffend ist zwar, dass es
sich bei der Generalklausel um einen Auffangstatbestand handelt. Daraus
kann aber mit Bezug auf die Verschlimmerung einer Krankheit ebensowenig
etwas abgeleitet werden wie aus dem Umstand, dass die Anerkennung solcher
Berufskrankheiten an einen strengen Massstab geknüpft ist, indem für
deren Nachweis das Erfordernis des qualifizierten Kausalzusammenhanges
("stark überwiegende Ursache") erfüllt sein muss. Die beiden Bestimmungen
unterscheiden sich darin, dass Art. 9 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Anhang
1 UVV die für Berufskrankheiten verantwortlichen schädigenden Stoffe
(Listenstoffe) sowie die Krankheiten (Listenkrankheiten) und Arbeiten,
die als Ursache für die jeweils aufgeführten Krankheiten zugelassen
sind, abschliessend aufzählt (RKUV 1988 Nr. U 61 S. 449 Erw. 1a).
Dieses Verzeichnis beinhaltet grundsätzlich jene Krankheiten, von denen
man aus der Erfahrung weiss, dass sie durch krankmachende Stoffe oder
durch den Beruf erworben worden sind (vgl. dazu MORGER, Berufskrankheiten,
in: Schweizerischer Versicherungskurier, 1988, S. 120; vgl. auch MAURER,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 222 am Ende). In dem Sinne
handelt es sich dabei um bekannte, nicht aber notwendigerweise auch
typische Krankheitsbilder, wobei es in diesem Zusammenhang freilich
zu präzisieren gilt, dass die Listenarbeiten und arbeitsbedingten
Erkrankungen gemäss der Doppelliste stets mit bestimmten Krankheitsbildern
korrespondieren, während die Anerkennung als Berufskrankheit im Rahmen
der einfachen Liste des Stoffverzeichnisses kein bestimmtes, typisches
Krankheitsbild voraussetzt (RKUV 1988 Nr. U 61 S. 449 f. Erw. 1; vgl. auch
EVGE 1963 S. 6). Demgegenüber dient Art. 9 Abs. 2 UVG als Auffangbecken
für alle durch die berufliche Tätigkeit verursachten Krankheiten, die in
der bundesrätlichen Verordnung nicht figurieren, zumal das ihr zugrunde
liegende Listensystem die Gefahr von Unvollständigkeit und Lücken in sich
birgt. Davon erfasst sind nicht nur jene Krankheiten, die zum typischen
Berufsrisiko des Betroffenen gehören (vgl. RKUV 1987 Nr. U 28 S. 401),
sondern auch solche, die durch die Berufsarbeit verursacht werden,
aber eben nicht typisch sind oder zwar typisch sind, aus irgend einem
Grunde aber auf der Liste fehlen. Die Generalklausel bildet insoweit
nichts anderes als das Auffangnetz für neue Erkenntnisse im Bereich der
krankmachenden Arbeiten oder krankmachenden Stoffe (MORGER, aaO, S. 120);
falls neue schädigende Stoffe oder neue beruflich bedingte Erkrankungen
mit ausreichender Zuverlässigkeit festgestellt werden sollten, dürfte in
der Regel der Anhang 1 UVV über die Berufskrankheiten zu ergänzen sein
(MAURER, aaO, S. 222). Die neue Regelung von Art. 9 Abs. 2 UVG trat an die
Stelle der bisherigen "freiwilligen Leistungen", welche die SUVA unter dem
Regime des KUVG zur Schliessung von Lücken des Listensystems ausrichtete
(Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung,
BBl 1976 III 166).

    Nach dem klaren Wortlaut von Art. 9 Abs. 2 UVG findet keine
Beschränkung der gefährdenden Stoffe oder bestimmter Krankheiten
statt. Grundsätzlich ist jede Einwirkung am Arbeitsplatz als Ursache für
eine Berufskrankheit anerkannt, unter der Bedingung, der ursächliche
Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und der Krankheit sei
"stark überwiegend", was im Verhältnis zum ersten Absatz von Art. 9 UVG
("vorwiegend") eine zusätzliche Quantifizierung bedeutet und nach der
Rechtsprechung einen berufsbedingten Verursachungsanteil von mindestens 75%
voraussetzt (BGE 114 V 109; vgl. dazu auch SCHLEGEL/GILG, Kausalitätsfragen
bei der Beurteilung von Unfällen und Berufskrankheiten, in: Mitteilungen
der medizinischen Abteilung der SUVA, Heft Nr. 57, November 1984, S. 15
f.). Daraus erhellt, dass kein Ansatzpunkt vorhanden ist, bezüglich
der listenmässig erfassten und der "anderen" Berufskrankheiten einen
Unterschied darin zu machen, dass bei jenen die Verschlimmerung des Leidens
der Verursachung gleichgesetzt wird, bei den übrigen aber nicht. Die
unterschiedliche Behandlung wäre im Gegenteil mit dem Sinn und Zweck
der Generalklausel nicht zu vereinbaren und würde deren Grundgedanken
zuwiderlaufen. So wie das Wort "verursacht" in Art. 9 Abs. 1 UVG die
Verschlimmerung der bestehenden Krankheit durch die berufliche Tätigkeit
miteinschliesst, kommt diesem Wort in Abs. 2 von Art. 9 UVG die gleiche
Bedeutung zu. Sämtliche in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen
Einwände vermögen hieran nichts zu ändern.