Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 V 282



117 V 282

38. Auszug aus dem Urteil vom 6. Dezember 1991 i.S. W. gegen
Ausgleichskasse des Schreiner-, Möbel- und Holzgewerbes und
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 4 BV, Art. 69 Abs. 2 Satz 2 IVV, Art. 12 lit. c VwVG,
Art. 49 BZP in Verbindung mit Art. 19 VwVG: Grundsätze über die
Beweisaufnahme, insbesondere bei der Einholung von Auskünften durch die
Invalidenversicherungs-Kommission.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungs- und
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz
beherrscht. Danach haben Verwaltung und Sozialversicherungsrichter von
sich aus für die richtige und vollständige Abklärung des Sachverhaltes
zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt indessen nicht uneingeschränkt. Die
behördliche und richterliche Abklärungspflicht umfasst nicht unbesehen
alles, was von einer Partei behauptet oder verlangt wird. Vielmehr
bezieht sie sich nur auf den im Rahmen des streitigen Rechtsverhältnisses
(Streitgegenstand) rechtserheblichen Sachverhalt. Rechtserheblich sind alle
Tatsachen, von deren Vorliegen es abhängt, ob über den streitigen Anspruch
so oder anders zu entscheiden ist (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege,
2. Aufl., S. 43 und 273). In diesem Rahmen haben Verwaltungsbehörden und
Sozialversicherungsrichter zusätzliche Abklärungen stets vorzunehmen oder
zu veranlassen, wenn hiezu aufgrund der Parteivorbringen oder anderer
sich aus den Akten ergebenden Anhaltspunkte hinreichender Anlass besteht
(BGE 110 V 52 f. Erw. 4a mit Hinweisen).

    Der Untersuchungsgrundsatz als an Verwaltungsbehörden und
Sozialversicherungsrichter gerichteter Verfahrensgrundsatz wird ergänzt
durch die im Anspruch auf rechtliches Gehör enthaltenen Parteirechte
auf Teilnahme am Verfahren und auf Einflussnahme auf den Prozess der
Entscheidfindung. Der aus Art. 4 Abs. 1 BV fliessende Anspruch auf
rechtliches Gehör umfasst auch das Recht, an der Erhebung wesentlicher
Beweise mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern,
wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 115 Ia 11
Erw. 2b und 96 Erw. 1b, 114 Ia 99 Erw. 2a, 111 Ia 103 Erw. 2b, 109 Ia 233
Erw. 5b; GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. 1, S. 385; MÜLLER,
in Kommentar zu Art. 4 BV, N. 106; REINHARDT, Das rechtliche Gehör in
Verwaltungssachen, Diss. Zürich 1968, S. 215 f.). Im Verwaltungsverfahren
gilt dieses Mitwirkungs- oder Äusserungsrecht des Betroffenen namentlich
im Zusammenhang mit der Durchführung eines Augenscheins (BGE 113 Ia 82
Erw. 3a, 112 Ia 5 Erw. 2c), der Befragung von Zeugen (BGE 92 I 260 f.;
HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, S. 141 f.) sowie
bezüglich eines Expertengutachtens (BGE 101 Ia 311 f. Erw. 1b und Erw. 2a,
99 Ia 46). Auf diese Beweismittel darf im Verwaltungsverfahren bei der
Entscheidung nicht abgestellt werden, ohne dem Betroffenen Gelegenheit
zu geben, an der Beweisabnahme mitzuwirken oder wenigstens nachträglich
zum Beweisergebnis Stellung zu nehmen.

    b) Das Verfahren vor der Invalidenversicherungs-Kommission
hat der Bundesrat in den Bestimmungen der Art. 69 bis 77 IVV
geregelt. Gemäss Art. 69 Abs. 2 Satz 2 IVV kann das Sekretariat der
Invalidenversicherungs-Kommission zwecks Abklärung des rechtserheblichen
Sachverhaltes Berichte und Auskünfte einverlangen, Gutachten einholen
und Abklärungen an Ort und Stelle treffen. Diese Bestimmung enthält im
Gegensatz zur Beweisordnung des - vorliegend nicht direkt anwendbaren -
VwVG keine Formerfordernisse u.a. für die Einholung von Auskünften. Das
VwVG sieht diesbezüglich in Art. 12 lit. c namentlich Auskünfte von
Drittpersonen zwar vor, verweist zudem aber ergänzend auf das Beweisrecht
des Bundesgesetzes über den Bundeszivilprozess (Art. 19 VwVG); danach
können als Auskünfte von Privat- bzw. Drittpersonen nur schriftliche
Auskünfte gelten, die unter Umständen der Bekräftigung durch gerichtliches
Zeugnis bedürfen (Art. 49 BZP). Das Eidg. Versicherungsgericht
hat deshalb in sinngemässer Anwendung dieser Regelung auch für
sozialversicherungsrechtliche Verwaltungsverfahren, bei denen das VwVG
nicht direkt anwendbar ist, die Zulässigkeit und Beweistauglichkeit von
schriftlichen Auskünften grundsätzlich anerkannt. Zugleich hat es aber
festgehalten, dass Auskunftspersonen nötigenfalls durch den Richter der
förmlichen Zeugenbefragung zu unterstellen sind, wenn die Richtigkeit ihrer
schriftlichen Auskünfte vom Betroffenen bestritten wird (unveröffentlichtes
Urteil M. vom 23. Juni 1989).

    c) Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich weitergehend die Frage nach
der Zulässigkeit und Beweistauglichkeit bloss mündlich bzw. telefonisch
eingeholter Auskünfte. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat
dazu in Rz. 2054 des Kreisschreibens über das Verfahren in der
Invalidenversicherung (KSVI) vom 1. Juli 1987 angeordnet, dass
mündlich oder telefonisch eingeholte Auskünfte in den Akten festzuhalten
sind. Diese Verwaltungsweisung ist für den Sozialversicherungsrichter
nicht verbindlich. Er soll sie bei seiner Entscheidung mit berücksichtigen,
sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung
der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulässt. Er weicht anderseits
insoweit von einer solchen Verwaltungsweisung ab, als sie sich nicht als
gesetzes- oder verfassungskonform erweist (BGE 115 V 6 Erw. 1b in fine
und 328 Erw. 2a, je mit Hinweisen).

    Eine verfassungskonforme Auslegung der Bestimmung von Art. 69
Abs. 2 Satz 2 IVV kann nicht dahin gehen, dass neben schriftlichen
Berichten mündliche bzw. telefonische Auskünfte unbeschränkt zulässig
und beweistauglich wären, sofern sie nur in einer Aktennotiz festgehalten
werden (vgl. die zitierte Rz. 2054 des KSVI). Einer solchen Auslegung
stehen einerseits die aus dem verfassungsrechtlichen Gehörsanspruch
fliessenden minimalen Verfahrensgarantien entgegen, die eine Beweisabnahme
über einen für die Entscheidung wesentlichen Punkt ohne jede Einfluss-
und Mitwirkungsmöglichkeit des Betroffenen verbieten, mag sich diese
je nach den im Einzelfall auf dem Spiele stehenden Interessen auch auf
eine nachträgliche Stellungnahme beschränken. Zum gleichen Schluss
führt eine Auslegung von Art. 69 Abs. 1 IVV unter sinngemässer
Berücksichtigung der Beweisordnung des VwVG, die nur schriftliche
Auskünfte als zulässige Beweismittel anerkennt. Denn es ist zu beachten,
dass für den Betroffenen nicht überprüfbar ist, welche Fragen und
Sachverhaltsangaben einer Auskunftsperson unterbreitet worden sind, wenn
deren mündliche oder telefonische Auskunft lediglich in einer Aktennotiz
festgehalten wird. Ebensowenig hat er die Möglichkeit, der Auskunftsperson
Ergänzungsfragen zu stellen und allenfalls unrichtige oder unvollständige
Sachverhaltsangaben zu korrigieren oder zu ergänzen. Bei telefonischen
Auskünften kann die Verwaltung überdies keinen persönlichen Eindruck
von der Auskunftsperson gewinnen, ohne welchen die Unbefangenheit des
Befragten und die Glaubwürdigkeit seiner Auskünfte nur schwer zu beurteilen
sind. Schliesslich ist es unerlässlich, dass Auskunftspersonen, die als
Sachverständige mündlich befragt werden, vorgängig Einblick in die Akten
gegeben wird, damit sie sich vom gesamten rechtserheblichen Sachverhalt
ein Bild machen können (BGE 101 Ib 276; vgl. auch ZAK 1986 S. 62 Erw. 3).

    Eine formlos eingeholte und in einer Aktennotiz festgehaltene
mündliche bzw. telefonische Auskunft stellt deshalb nur insoweit ein
zulässiges und taugliches Beweismittel dar, als damit blosse Nebenpunkte,
namentlich Indizien oder Hilfstatsachen, festgestellt werden. Sind aber
Auskünfte zu wesentlichen Punkten des rechtserheblichen Sachverhaltes
einzuholen, kommt grundsätzlich nur die Form einer schriftlichen Anfrage
und Auskunft in Betracht (BGE 99 Ib 109 Erw. 4). Werden Auskunftspersonen
zu wichtigen tatbeständlichen Punkten dennoch mündlich befragt, ist eine
Einvernahme durchzuführen und darüber ein Protokoll aufzunehmen (vgl. KÖLZ,
Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, § 7,
N. 22). In der Regel ist dem Betroffenen überdies Gelegenheit zu geben,
der Einvernahme beizuwohnen (TINNER, Das rechtliche Gehör, ZSR 83/1964 II
S. 352). Soweit Sachverständige nicht mit einem schriftlichen Gutachten
beauftragt, sondern als Auskunftspersonen mündlich befragt werden, ist
ihnen vorgängig Einblick in die Akten zu gewähren und die Einvernahme
in der Regel ebenfalls in Anwesenheit des Betroffenen durchzuführen,
damit dieser Ergänzungsfragen stellen und Einwendungen erheben kann
(BGE 101 Ib 276; KÖLZ, aaO, § 7, N. 22).

Erwägung 5

    5.- a) Im vorliegenden Fall hat die Verwaltung in Befolgung des
Untersuchungsgrundsatzes zu Recht ergänzende Abklärungen über den Anteil
der betriebsleitenden Funktionen des Beschwerdeführers für notwendig
befunden. Die dabei vorgenommenen Beweiserhebungen betrafen somit
einen wesentlichen Punkt bei der Feststellung des rechtserheblichen
Sachverhaltes, und die Invalidenversicherungs-Kommission hat denn auch
entscheidend auf die entsprechende Auskunft des Präsidenten des Kantonalen
Schreinermeister-Verbandes vom 23. März 1989 abgestellt. Indessen
hätte die Verwaltung nach Massgabe der dargelegten Grundsätze über die
Beweiserhebungen (Erw. 4c in fine) vorgehen müssen. Es ging angesichts
der entscheidenden Bedeutung dieser abzuklärenden Punkte nicht an, dass
man es insofern bei bloss mündlichen Auskünften bewenden liess, die zudem
lediglich telefonisch eingeholt wurden. Vielmehr wäre nur die Form einer
schriftlichen Anfrage und Antwort oder - wenn die Verwaltung von einer
schriftlichen Erkundigung absehen wollte - einer förmlichen Einvernahme
des als Sachverständigen zu qualifizierenden Verbandspräsidenten
unter vorgängiger Gewährung der Akteneinsicht in Betracht gekommen,
wobei diesfalls dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Teilnahme an der
Beweiserhebung hätte gegeben werden müssen. Stichhaltige Gründe, die
einem solchen Vorgehen entgegenstünden, lagen nicht vor.

    b) Der angefochtenen Verfügung und dem vorinstanzlichen Entscheid
liegt somit eine Sachverhaltsfeststellung in einem wesentlichen Punkt
zugrunde, die mittels einer unzulässigen Beweisabnahme erfolgt ist. Die
angefochtene Verfügung und der kantonale Entscheid sind deshalb aufzuheben,
ohne dass es darauf ankäme, ob Aussicht besteht, dass nach einem korrekt
durchgeführten Beweisverfahren und nach Anhörung des Beschwerdeführers
anders entschieden würde (BGE 112 Ia 7 Erw. 2c in fine und 105 Ia 51
Erw. 2c in fine; vgl. auch BGE 116 V 185 Erw. 1b, je mit Hinweisen).