Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 V 275



117 V 275

37. Auszug aus dem Urteil vom 28. August 1991 i.S. R. gegen Ausgleichskasse
Schreiner und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden Regeste

    Art. 22, 23 und 24 IVG, Art. 18 und 21 IVV: Eingliederungstaggeld,
Betriebszulage.

    - Auch im Rahmen von Art. 18 Abs. 1 IVV bezieht sich das Erfordernis
der Arbeitsunfähigkeit von mindestens 50 Prozent auf die vom Versicherten
bis zum Eintritt des Gesundheitsschadens ausgeübte Erwerbstätigkeit
(Erw. 2a).

    - Der Umstand, dass ein in seiner gewohnten Tätigkeit zu mindestens
50 Prozent arbeitsunfähiger Versicherter während der Zeit, in der
sich Umschulungsmöglichkeiten abzuzeichnen beginnen, in Erfüllung der
Schadenminderungspflicht eine Erwerbstätigkeit ausübt, schliesst den
Anspruch auf Wartetaggeld grundsätzlich nicht aus (Erw. 2b).

    - Die Regeln für die Bemessung des Eingliederungstaggeldes gemäss
Art. 21 IVV sind für die Bemessung des Wartetaggeldes sinngemäss anwendbar
(Erw. 3a).

    - Der Zweck der Betriebszulage im Rahmen des Taggeldes der
Invalidenversicherung besteht darin, die aus selbständiger Erwerbstätigkeit
während der Eingliederung weiterhin anfallenden Betriebskosten teilweise
zu decken (Erw. 4a).

    - Der Anspruch auf eine Betriebszulage setzt voraus,
dass der Versicherte vor Eintritt des Gesundheitsschadens
selbständigerwerbender Betriebsinhaber und in dieser Zeit nicht etwa
überwiegend unselbständigerwerbend war und dass er während der Warte-
und Eingliederungszeit weiterhin mit anfallenden Betriebskosten belastet
ist, welche er infolge gesundheitsbedingter Aufgabe der selbständigen
Erwerbstätigkeit nicht mehr decken kann (Erw. 4b).

    - Auch für die Betriebszulagenberechtigung ist es grundsätzlich
unerheblich, dass der Versicherte während der Wartezeit eine unselbständige
Erwerbstätigkeit ausübt. Dies ist nur masslich von Bedeutung, indem das
Taggeld einschliesslich der Betriebszulage zu kürzen ist und allenfalls,
je nach den massgeblichen Verdienstverhältnissen, infolge gänzlicher
Kürzung entfallen kann (Erw. 4b).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Versicherte hat während der Eingliederung Anspruch auf
ein Taggeld, wenn er an wenigstens drei aufeinanderfolgenden Tagen wegen
der Eingliederung verhindert ist, einer Arbeit nachzugehen, oder in
seiner gewohnten Tätigkeit zu mindestens 50 Prozent arbeitsunfähig ist
(Art. 22 Abs. 1 erster Satz IVG). Der Bundesrat bestimmt, unter welchen
Voraussetzungen Taggelder u.a. für Wartezeiten gewährt werden können
(Art. 22 Abs. 3 IVG). Gestützt auf diese Ermächtigung hat er Art. 18
IVV mit dem Randtitel "Wartezeiten im allgemeinen" erlassen. Nach dessen
Abs. 1 hat der Versicherte, der zu mindestens 50 Prozent arbeitsunfähig
ist und auf den Beginn bevorstehender Eingliederungsmassnahmen warten
muss, für die Wartezeit Anspruch auf ein Taggeld. Der Anspruch beginnt im
Zeitpunkt, in welchem die Kommission aufgrund ihrer Abklärungen feststellt,
dass Eingliederungsmassnahmen angezeigt sind, spätestens aber vier Monate
nach Eingang der Anmeldung (Abs. 2).

    Zumindest 50 Prozent arbeitsunfähig im Sinne von Art. 22 Abs. 1 IVG
ist der Versicherte, wenn er die gewohnte Erwerbstätigkeit zur Hälfte nicht
mehr ausüben kann (BGE 112 V 16 Erw. 2b). Auch im Rahmen von Art. 18 Abs. 1
IVV bezieht sich das Erfordernis der Arbeitsunfähigkeit von mindestens 50
Prozent auf die vom Versicherten bis zum Eintritt des Gesundheitsschadens
ausgeübte Erwerbstätigkeit.

    Der Anspruch auf Taggeld während der Wartezeit setzt weiter
voraus, dass subjektiv und objektiv Eingliederungs- und nicht bloss
Abklärungsmassnahmen angezeigt sind (ZAK 1991 S. 178). Der Anspruch
auf Wartetaggeld nach Ablauf von vier Monaten seit Eingang der Anmeldung
(Art. 18 Abs. 2 IVV) verlangt anderseits nicht, dass die Kommission bereits
die Durchführung der Eingliederungsmassnahmen beschlossen hat, sondern es
genügt, dass diese ernsthaft in Frage kommen (unveröffentlichtes Urteil
V. vom 16. Juli 1990).

    b) Die Vorinstanz hat den Anspruch auf Wartetaggeld ab 11. Mai 1989,
dem ersten Tag nach Ablauf der Frist von vier Monaten seit Eingang
der Anmeldung zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung am
10. Januar 1989, mit der Begründung verneint, das "nach der Aufgabe des
eigenen Schreinereibetriebes" (Verkauf des Geschäftes vom 31. März 1989)
"erzielte Einkommen (liege) jedenfalls nicht unter demjenigen, welches
(der Beschwerdeführer) als selbständigerwerbender Schreiner" erreicht habe.

    Dieser Argumentation kann nicht beigepflichtet werden. Der
Umstand, dass ein in seiner gewohnten Tätigkeit zu mindestens 50
Prozent arbeitsunfähiger Versicherter während der Zeit, in der sich
Umschulungsmöglichkeiten erst abzuzeichnen beginnen, in Erfüllung der
generell in der Sozialversicherung geltenden Schadenminderungspflicht
(vgl. BGE 115 V 53, 114 V 285 Erw. 3, 347 Erw. 2b; MAURER,
Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. II, S. 377; MEYER-BLASER, Zum
Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern
1985, S. 131) eine Erwerbstätigkeit ausübt, schliesst den Anspruch auf
Wartetaggeld grundsätzlich nicht aus. In einem solchen Fall kann weder von
selbstverschuldeter Herbeiführung einer Wartezeit (BGE 114 V 141 Erw. 2b)
noch von selbstverschuldeter Hinauszögerung der Eingliederungsmassnahmen
und damit verbundener Verlängerung der Wartezeit (EVGE 1963 S. 152 Erw. 2)
gesprochen werden. Vielmehr sind vorliegend sämtliche Voraussetzungen für
die Ausrichtung eines Wartetaggeldes (andauernde, mindestens 50 Prozent
betragende Arbeitsunfähigkeit; subjektive Eingliederungsbereitschaft und
objektive Eingliederungsfähigkeit) erfüllt, weshalb der diesbezügliche
Anspruch ab 11. Mai 1989 im Grundsatz nicht verneint werden kann.

Erwägung 3

    3.- Eine andere Frage ist, ob der für die Wartezeit ab 11.  Mai 1989
bis zum Beginn der Eingliederungsmassnahme (5. Februar 1990) grundsätzlich
in Betracht fallende Anspruch auf Wartetaggeld berechnungsmässig entfällt.

    a) Für Taggelder gelten die gleichen Ansätze, Bemessungsregeln und
Höchstgrenzen wie für die entsprechenden Entschädigungen und Zulagen
gemäss Bundesgesetz vom 25. September 1952 über die Erwerbsersatzordnung
für Dienstleistende in Armee und Zivilschutz (Art. 24 Abs. 1 IVG).
Bemessungsgrundlage der Taggelder für Erwerbstätige bildet das
Erwerbseinkommen, das der Versicherte durch die zuletzt voll ausgeübte
Tätigkeit erzielt hat (Art. 24 Abs. 2 IVG). Der Bundesrat erlässt
ergänzende Vorschriften über die Bemessung der Taggelder und lässt durch
das zuständige Bundesamt verbindliche Tabellen mit aufgerundeten Beträgen
aufstellen. Er kann für bestimmte Verhältnisse Kürzungen vorsehen (Art. 24
Abs. 3 IVG).

    Der Bundesrat hat von der an ihn delegierten Kompetenz Gebrauch gemacht
und in Art. 21 IVV folgendes bestimmt: Für die Bemessung der Taggelder sind
unter Vorbehalt von u.a. Art. 24 Abs. 2 IVG die Bestimmungen der Verordnung
vom 24. Dezember 1959 zur Erwerbsersatzordnung (EOV) sinngemäss anwendbar
(Abs. 1). Liegt die vom Versicherten zuletzt voll ausgeübte Tätigkeit
mehr als zwei Jahre zurück, so ist auf das Erwerbseinkommen abzustellen,
das der Versicherte, wenn er nicht invalid geworden wäre, durch die gleiche
Tätigkeit unmittelbar vor der Eingliederung erzielt hätte (Abs. 2). Mit
dieser Verordnungsbestimmung wird der in Art. 24 Abs. 2 IVG enthaltene
Grundsatz präzisiert (nicht veröffentlichtes Urteil S. vom 17. Juli
1990). Übt ein Versicherter während der Eingliederung eine Erwerbstätigkeit
aus, so wird das Taggeld einschliesslich Eingliederungszuschlag gekürzt,
soweit es zusammen mit dem aus dieser Tätigkeit erzielten Einkommen das
gemäss den Abs. 1 und 2 massgebende Erwerbseinkommen übersteigt (Abs. 3).

    Diese Regeln finden auf die Bemessung des Wartetaggeldes sinngemäss
Anwendung.

    b) Während der Beschwerdeführer eine Erwerbseinbusse geltend macht,
verneinte die Vorinstanz eine solche, indem sie den Monatslohn von
Fr. 3'800.-- als Verkaufs- und Technischer Berater bei der Firma G. vom
28. März bis 31. August 1989 und den Stundenlohn von Fr. 18.-- bei der
Firma M. M. vom Herbst bis zum 8. Dezember 1989 mit dem als selbständiger
Schreiner seinerzeit erzielten Einkommen verglich. Massgebende
Vergleichsbasis gemäss Art. 21 Abs. 3 IVV bildet aber im Falle des
Beschwerdeführers, dessen zuletzt voll ausgeübte Tätigkeit als Schreiner
mehr als zwei Jahre zurückliegt (Art. 24 Abs. 2 IVG in Verbindung mit
Art. 21 Abs. 2 IVV), nicht der effektiv zuletzt erzielte Verdienst,
sondern dasjenige Einkommen, welches er bei voller Leistungsfähigkeit im
angestammten Beruf unmittelbar vor der Eingliederung, d.h. hier während
der Wartezeit, hätte verdienen können.

    Wie hoch dieses hypothetische Erwerbseinkommen ist, welches
auch der Berechnung des ab 11. Mai 1989 grundsätzlich in Betracht
fallenden Wartetaggeldes zugrunde zu legen ist, und in welchem Masse
das Wartetaggeld wegen der während der Wartezeit 1989 erzielten Löhne
gestützt auf Art. 24 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 21 Abs. 3 IVV -
teilweise oder gänzlich - gekürzt werden muss, lässt sich aufgrund der
bestehenden Aktenlage nicht schlüssig beurteilen. Die Sache ist daher,
entgegen der vorinstanzlichen Verfahrensweise, auch in diesem Punkt an
die Ausgleichskasse zurückzuweisen, damit sie, nach erfolgter Abklärung
der massgebenden Verdienstverhältnisse, über den Wartetaggeldanspruch ab
11. Mai 1989 neu verfüge.

Erwägung 4

    4.- Im weiteren streitig und zu prüfen ist, ob in den Taggeldanspruch
eine Betriebszulage miteinzubeziehen ist, wie der Beschwerdeführer
beantragt.

    a) Nach Art. 23 Abs. 1 IVG werden die Taggelder als
Haushaltungsentschädigungen, Entschädigungen für Alleinstehende, Kinder-,
Unterstützungs- und Betriebszulagen ausgerichtet. Für die einzelnen
Taggeldarten gelten die gleichen Anspruchsvoraussetzungen wie für die
entsprechenden Entschädigungen und Zulagen gemäss Bundesgesetz vom 25.
September 1952 über die Erwerbsersatzordnung für Dienstleistende in Armee
und Zivilschutz (Art. 23 Abs. 2 IVG).

    Nach dem bereits in Erw. 3a dargelegten Art. 24 Abs. 1 IVG gelten
für Taggelder die gleichen Ansätze, Bemessungsregeln und Höchstgrenzen
wie für die entsprechenden Entschädigungen und Zulagen gemäss EOG. Damit
verweist das IVG u.a. auf Art. 8 Abs. 1 EOG, der wie folgt lautet: Anspruch
auf Betriebszulagen haben die Dienstleistenden, die als Eigentümer,
Pächter oder Nutzniesser einen Betrieb führen oder als Teilhaber
einer Kollektivgesellschaft, als unbeschränkt haftender Teilhaber
einer Kommanditgesellschaft oder als Teilhaber einer andern auf einen
Erwerbszweck gerichteten Personengesamtheit ohne juristische Persönlichkeit
an der Führung eines Betriebes aktiv beteiligt sind, sofern sie nicht
aus unselbständiger Erwerbstätigkeit ein höheres Einkommen erzielen.

    Der Versicherte, der grundsätzlich - wenn auch mit
invaliditätsbedingter Behinderung - die Voraussetzungen eines
Betriebsführers nach Art. 8 Abs. 1 EOG erfüllt und sich einer
Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung unterzieht, hat
Anspruch auf eine Betriebszulage, solange er Taggelder bezieht und
wegen der Durchführung dieser Massnahme seine Betriebsleiterfunktionen
nicht erfüllen kann (ZAK 1973 S. 201). Der Zweck der Betriebszulage
im Rahmen des Taggeldes der Invalidenversicherung besteht darin, die
aus selbständiger Erwerbstätigkeit während der Eingliederung weiterhin
anfallenden Betriebskosten teilweise zu decken (BGE 96 V 130; EVGE 1954
S. 312). Der Betriebsinhaber, der überwiegend unselbständig erwerbstätig
ist, kann demgegenüber nach Art. 8 Abs. 1 in fine EOG keine Betriebszulage
beanspruchen, weil er für den dienstlichen Erwerbsausfall bereits
durch die Entschädigungsarten der Art. 4 ff. EOG, bemessen nach dem
durchschnittlichen vordienstlichen Erwerbseinkommen aus unselbständiger
Erwerbstätigkeit (Art. 9 Abs. 1 und 2 EOG), entschädigt wird (BGE 115 V
322 Erw. 2d).

    b) Entgegen der Auffassung von Vorinstanz und Verwaltung ist
es aufgrund der dargestellten Rechtslage für den Anspruch auf eine
Betriebszulage im Grundsatz unerheblich, dass der Beschwerdeführer während
der Wartezeit eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat. Dieser
Gesichtspunkt ist auch im vorliegenden Zusammenhang nur masslich insofern
von Bedeutung, als das während der Wartezeit grundsätzlich auszurichtende
Taggeld einschliesslich der Betriebszulage zu kürzen ist (BGE 96 V
129) und, wie dargelegt, je nach dem Ergebnis der noch zu treffenden
Abklärungen gestützt auf Art. 24 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 21
Abs. 3 IVV zufolge einer allfälligen 100%igen Kürzung entfallen könnte.

    Materiellrechtlich ist für die Frage der Betriebszulagenberechtigung
vielmehr entscheidend, ob der Beschwerdeführer tatsächlich vor Eintritt
des Gesundheitsschadens selbständigerwerbender Betriebsinhaber und in
dieser Zeit nicht etwa überwiegend unselbständigerwerbend war; ferner,
ob er während der Warte- und Eingliederungszeit weiterhin mit anfallenden
Betriebskosten belastet war, welche er infolge gesundheitsbedingter
Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit nicht mehr decken kann.

    Der Beschwerdeführer verabgabte vor Eintritt des Gesundheitsschadens
ein Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit von bis zu
Fr. 45'062.--). Sodann war er auch nach Eintritt des Gesundheitsschadens
ab 1. April 1989 der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden als
Selbständigerwerbender angeschlossen. Ferner ergibt sich aus einer
Bestätigung des Natur-Museums B. vom 29. November 1990, dass die (am
5. Februar 1990 begonnene) Umschulung zum zoologischen Hilfspräparator
ebenfalls auf eine selbständige Erwerbstätigkeit abzielt. Schliesslich
ist zu berücksichtigen, dass die erwähnte Ausgleichskasse in ihrer
Beitragsverfügung vom 21. Juni 1990 betreffend die Zeit vom 1. April
bis 31. Dezember 1989 von einem im Betrieb investierten Eigenkapital
von immerhin Fr. 25'000.-- ausging und der Beschwerdeführer gemäss
Baugesuch vom 28. November 1990 im Hinblick auf seine aufrechterhaltene
Tätigkeit als Selbständigerwerbender daran ist, Arbeitsraum und Werkstatt
umzubauen. Bei dieser Sach- und Rechtslage kann der Anspruch auf eine
Betriebszulage grundsätzlich nicht verneint werden. Für die Zeit vom
11. Mai bis 8. Dezember 1989, während welcher der Beschwerdeführer
Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit erzielte, könnte allerdings
nach dem Gesagten, je nach dem Ergebnis der Abklärungen (Erw. 3b), der Fall
zutreffen, dass der Taggeldanspruch einschliesslich Betriebszulage zufolge
Überversicherung entfällt. Hingegen ist die Betriebszulagenberechtigung
für die Wartezeit ab 9. Dezember 1989 und für das Eingliederungstaggeld
ab 5. Februar 1990 ausgewiesen.